„Who are the Japanese?“ – Die Geschichte des Inselreichs in zwanzig Lebensläufen

Sechs Staffeleien mit Fotos berühmter Persönlichkeiten, im Hintergrund das Taschenbuch

Christopher Harding (2020): The Japanese. A History in Twenty Lives. London: Penguin Books; broschiert; 509 Seiten.

„Who are the Japanese?“ lautet die Eröffnungsfrage des Buches. Wer sind die Japanerinnen und Japaner? – Ein Taschenbuch mit 509 Seiten, in kleinem Schriftbild eng gedruckt, gibt Auskunft – umfangreiches Material in kompakter Form, mit unzähligen, dicht aufeinanderfolgenden Details.

Denn für die ausführliche Beantwortung der Frage holt sich Christopher Harding Anregungen aus der Vergangenheit. Mit seinem Gang durch die Epochen der japanischen Geschichte wählt er eine originelle Herangehensweise: Er stellt exemplarische Lebensläufe vor. Über die Ideen und Ideale, die Menschen verkörperten und austesteten, liefert er Rückschlüsse auf die Lebensverhältnisse der jeweiligen Zeit. Für Leserinnen und Leser, die mit der japanischen Geschichte vertraut sind, warten hier inhaltlich keine Überraschungen – die Art der Präsentation ist allerdings kenntnisreich, spannend, unterhaltsam und kurzweilig.

Über den Autor

Christopher Harding (geb. 1978) lehrt asiatische Kulturgeschichte an der University of Edinburgh. Er veröffentlichte mehrere Bücher und präsentiert regelmäßig Rundfunkbeiträge auf BBC Radio 3 und Radio 4. Auf seiner Homepage bietet er zahlreiche Links zu seinen Audiodateien, Artikeln und Besprechungen.

Über das Buch

Der Band enthält

  • eine Einführung (5 Seiten);
  • 5 Epochen-Kapitel mit jeweils vier Lebensläufen;
  • den Anhang mit einer Zeittafel (8 Seiten), bibliografischen Anmerkungen (24 Seiten) und einem Index (47 Seiten).

Jedem Abschnitt ist eine Abbildung der Persönlichkeit vorangestellt, die im Folgetext portraitiert wird. Bei Personen aus früheren Zeiten sind dies Gemälde, Holzschnitte oder Bilder von Statuen, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fotografien. Sechs Landkarten geben die geopolitische Lage der jeweiligen Zeit wieder.

Alle Portraits eröffnen mit dem Namen, den Lebensdaten und einer schlagwortartigen Charakterisierung der Person: Beruf, Funktion oder Rolle in der japanischen Geschichte – oder ein (aus einem anderen Zusammenhang entlehntes) Motto, das die Person für sich selbst gewählt haben könnte.

Die Auswahl der Personen

Harding orientiert sich chronologisch an der Epocheneinteilung der japanischen Geschichte und wählt bekannte Persönlichkeiten: Herrscher/innen und Politiker/innen, Kriegsherren und Religionsstifter, Revolutionäre und Reisende, Unternehmer und Forscher, Wissenschaftler/innen und Künstler/innen.

Die Kapitel sind ungefähr gleich lang, egal ob es sich um eine Persönlichkeit der Frühzeit oder der Gegenwart handelt: Auf zwanzig bis dreißig Seiten skizziert Harding die Person in ihrem soziokulturellen, wirtschaftlichen und politischen Umfeld.

Genau diese Auswahl erfordert Überlegungen. Zum einen: Wie lässt sich aus dem Wenigen, das über Menschen weit zurückliegender Jahrhunderte bekannt ist, genügend Stoff über die damaligen Lebensumstände entnehmen? Zum anderen: Je näher man an die Gegenwart rückt, desto mehr Personen kommen als mögliches Gegenbeispiel in Frage. Warum Murasaki Shikibu – und nicht Sei Shōnagon? Warum Oda Nobunaga – und nicht Tokugawa Ieyasu? Warum Ihara Saikaku – und nicht Katsushika Hokusai?

Harding begegnet diesem Problem über die Festlegung von Zeitabschnitten, die er am Anfang sehr weit spannt und dann immer enger setzt. Manchmal (wie zum Beispiel in der Edo-Zeit) überspringt er Jahrhunderte, deren Geschehnisse er im darauffolgenden Kapitel nachreicht und die zeitlichen Lücken so „überbrückt“, dann wieder präsentiert er mehrere Portraits von Menschen, die fast zeitgleich geboren wurden (zum Beispiel: zu Beginn der Meiji-Zeit).

So reichen die Porträts von der Schamanin Himiko aus den frühesten schriftlichen Berichten über Japan bis hin zu Kaiserin Masako, der Ehefrau des jetzigen Tennō. Ein perfekter Bogen – unter den insgesamt zwanzig Persönlichkeiten finden sich acht Frauen.

Die 20 Kapitel sind:

I. From Heaven to Heian: Mythological Time to 1185

  1. Himiko – Shaman Queen
  2. Prince Shōtoku – Founding Father
  3. Emperor Kanmu – Boundary Pusher
  4. Murasaki Shikibu – Court Reporter

II. From Many to One: 1185-1582

  1. Hōjō Masako – The Nun Shogun
  2. Shinran – Power to the People
  3. Zeami – Master of Arts
  4. Oda Nobunaga – Unity or Else

III. Floating Worlds: 1582-1885

  1. Hasekura Tsunenaga – Voyager
  2. Ihara Saikaku – Amorous Man
  3. Sakamoto Ryōma – Revolutionary
  4. Kusumoto Ine – Building the Body

IV. New Lives: 1868-1941

  1. Shibusawa Eiichi – Entrepreneur
  2. Tsuda Umeko – Culture Shock
  3. Ikeda Kikunae – Taste-Maker
  4. Yosano Akiko – Poet of Peace and War

V. ‘Forward with Culture’: 1942 to the Present

  1. Misora Hibari – Starlet / Harlot
  2. Tezuka Osamu – Dream Weaver
  3. Tanaka Kakuei – Shadow Shogun
  4. Owada Masako – Uncertain Symbol

01.-04. Portraits der Personen aus der Zeit der Mythen bis 1185.

Foto eines Kurzugs, hellblau gestrichen, mit aufgemalter Figur und Schriftzug „HIMIKO“, am Bahnsteig.

01. Himiko (um 170-248), Bild auf dem Amatetsu-Zug am Bahnhof Amagi (Fukuoka)

Vorderseite der 10.000-Yen-Banknote mit Portrait von Shōtoku Taishi.

02. Prinz Shōtoku (573-621), Banknote von 1958 

Rollbild des Kaisers auf dem Thron sitzend.

03. Kanmu Tennō (737-806), Gemälde, Jodo-in-Tempel, Enryaku-ji, Berg Hiei 

Eine Statue inmitten von Grün, am Hang gelegen: die am niedrigen Schreibpult sitzenden Murasaki Shikibu.

04. Murasaki Shikibu (etwa 973-unbekannt), Statue am Ishiyamadera (siehe den Beitrag Der Alltag des Prinzen Genji)

Warum diese Persönlichkeiten?

Es geht Harding nicht darum, sich auf den Lebenslauf der ausgewählten Personen zu fokussieren. Die Persönlichkeiten stehen stattdessen exemplarisch für eine bestimmte Epoche:

  • für Regierungsstrukturen, für die politischen Strömungen oder Verwicklungen der Zeit (S. 57);
  • für wirtschaftliche Ausrichtungen;
  • für gesellschaftliche Neuorientierungen;
  • für kulturelle Entwicklungen der Ära (z.B. Murasaki Shikibu und die Entwicklung der kana-Silbenschrift bzw. Dichtung, S. 59-60);
  • für Fragestellungen und Ideen, die die Menschen der Epoche bewegten.

Die Persönlichkeiten sind repräsentativ in dem Sinne, als dass an ihnen diese Bewegungen festgemacht und exemplarisch aufgezeigt werden können.

So wurde auch Prinz Shōtoku aufgenommen, der durch die Taten, die über ihn berichtet wurden, übermenschlich („wie ein Märchenprinz“) wirkt und von dem Harding schreibt: „we cannot be entirely sure that he ever existed“ (S. 23). Er ist dennoch wichtig, da die Zeit seiner wahrscheinlichen Regentschaft für eine bedeutende Entwicklung steht: Politisch entfaltete sich Japan im siebten Jahrhundert von einer Ansammlung einfacher Siedlungen von Stammesfürsten zu einer staatlichen Einheit mit einer zentralen Hauptstadt. Zum ersten Mal setzten sich Geschichtswerke mit der Frage der eigenen Identität auseinander (S. 23-25).

Bei der Sängerin und Schauspielerin Misora Hibari ist die Kurzcharakterisierung am Kapitelbeginn mit dem Wortspiel „Starlet / Harlot“ („Sternchen“ / „Hure“) erst einmal überraschend. Es geht in diesem Abschnitt um die Amerikanisierung während der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg: dem Widerspruch, dass die meisten Japanerinnen und Japaner froh waren um den wirtschaftlichen Neuanfang, andere in dem Einfluss der Popkultur und des US-amerikanischen Lebensstils rund um die Militärbasen eine weitere – dieses Mal kulturelle – Niederlage sahen. Die junge Misora Hibari verkörperte mit ihrem Erfolg genau diesen Widerspruch: „harlot“ spielt auf die jungen Frauen an, die zur Prostitution gezwungen waren, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und die Misora Hibari in Filmen und Liedern darstellte.

05.-08. Portraits der Personen aus der Zeit von 1185 bis 1582.

Eine gedruckte Seite aus einem Lese-Bild-Heft, Blick von oben in einen Palast. Da das Dach entfernt ist, kann man in drei Zimmer hineinschauen.

05. Hōjō Masako (1157-1225)

Ausschnitt aus einem Rollbild: Portrait eines knienden Mannes mit Gebetskette.

06. Shinran (1173-1262), Gemälde, Nationalmuseum Nara 

Bild eines stehenden Nō-Schauspielers mit langen weißen Haaren.

07. Zeami (1363-1443), Szene aus dem Nō-Stück „Saigyōzakura“ (siehe den Beitrag Nō-Masken zum Leben erweckt

Fotografisch wirkendes Portrait eines Mannes mit Schnurrbart.

08.  Oda Nobunaga (1534-1582), Foto eines Gemäldes vermutlich des Jesuitenpaters Giovanni Niccolò, Sanpoji-Tempel in der Stadt Tendō

Die Verbindung der einzelnen Kapitel – und damit Epochen – zu einem Buch

In diesem Aufbau erscheinen die historischen Persönlichkeiten nicht immer in strenger chronologischer Abfolge neben ihren Mitmenschen. Manchmal wird ihre ausführliche Erwähnung zeitlich verschoben, wenn sie für eine bestimmte Entwicklung wichtig sind. Fujjiwara no Michinaga zum Beispiel, Zeitgenosse von Sei Shōnagon, spielt – obwohl der bedeutendste Mann seiner Zeit – in dem Kapitel, in dem sie dargestellt wird, keine überragend wichtige Rolle.

Erst im übernächsten Kapitel zu Shinran, in dem das Thema Buddhismus im Mittelpunkt steht, stellt Harding ausführlich den Glauben von Michinaga dar, um diesem die neuen Gedanken des Religionsstifters Shinran gegenüberzustellen. So bringt er auf den Punkt, wie sich die buddhistische Lehre durch die Gründung neuer Schulen verschob: Der Glaube war nicht länger Adligen vorbehalten, sondern wurde mit neuen Schwerpunkten in der Lehre auch für Menschen des einfachen Volkes zugänglich (S. 94-97).

Über die Lebensläufe der ausgewählten Personen fixiert Harding also Knotenpunkte an entscheidenden Abschnitten der japanischen Geschichte, verknüpft sie mit bestimmten Themen und spannt so ein historisches Netz auf.

09.-12. Portraits der Personen aus der Zeit von 1582 bis 1885.

Ölgemälde eines Japaners: stehend in hellem Kimono und mit zwei Schwertern.

09. Hasekura Tsunenaga (1571-1622), Gemälde, Claude Deruet, Galleria Borghese, Rom, 1615

Statue eines knienden Mannes.

10. Ihara Saikaku (1642-1693), Statue beim Ikukunitama-Schrein, Ōsaka (siehe den Beitrag Das „fließend Vergängliche“ als Lebensgefühl

Schwarzweiß-Foto eines Mannes im Kimono, leger an einem Pult lehnt, ein Kurzschwert im Gürtel.

11. Sakamoto Ryōma (1835-1867) 

Schwarzweiß-Foto einer sitzenden Frau, die in ein Buch vertieft ist.

12. Kusumoto Ine (1827-1903)

Übergangsphasen der japanischen Geschichte als „Knotenpunkte“

Historische Veränderungen fasst Harding in prägnanten Skizzen zusammen. Was bedeutete es beispielsweise, als Ende des 12. Jahrhunderts mit der Einführung der Militärregierung (bakufu) die Herrschaft nach Jahrhunderten vom Tennō-Hof auf den Shōgun überging? Harding erklärt auf wenigen Seiten die Änderung in der Form der Staatsführung (S. 73-74), liefert einen Eindruck von der Atmosphäre der Zeit (so wurden z. B. die Berge, die Kyōto einst geschützt hatten, nun zur Bedrohung für die Regierenden durch die in Bergklöstern lebenden Mönchssoldaten; S. 75), erläutert die Herkunft des Begriffs „Samurai“ (S. 77) und charakterisiert die neue politische Herangehensweise des Shōgun Yoritomo (S. 78). Den Zerfall des kaiserlichen Anwesens nutzt Harding als Symbol des politischen Untergangs: „What was once the secular and sacred centre of an imperial state would end its days as a vegetable patch.” –„Was einst das weltliche und heilige Zentrum eines kaiserlichen Staates war, sollte als Gemüsebeet enden.“ (S. 74)

Kurzcharakterisierungen, Zusammenfassungen und Vergleiche sind dabei die entscheidenden Stilmittel des Buches, so beispielsweise die Charakterisierung des Schriftstellers Ihara Saikaku im 17. Jahrhundert (Edo-Zeit):

„Together with Yonosuke he is the ultimate tour guide around a culture defined by commerce, conspicuous consumption and enormous creativity, …“ – „Gemeinsam mit [seiner Roman-Hauptfigur] Yonosuke ist er der ultimative Reiseführer durch eine Kultur, die von Kommerz, demonstrativem Konsum und enormer Kreativität geprägt ist, … “ (S. 174).

Manchmal führt Harding Vergleiche an. So sieht er Parallelen zwischen Kanmu Tennō und seinem Zeitgenossen Karl dem Großen „am anderen Ende des eurasischen Kontinents“ in ihrer starken Führung, der Vergrößerung bzw. Stabilisierung des Reiches und der Förderung von Religion und Künsten (S. 40).

13.-16. Portraits der Personen aus der Zeit von 1868 bis 1941.

Foto in Schwarzweiß: Portrait eines älteren Herrn im Anzug, mit Fliege.

13. Shibusawa Eiichi (1840-1931)

Foto in Schwarzweiß: Portrait einer Dame im Kimono mit hochgesteckter Frisur.

14. Tsuda Umeko (1864-1929; siehe den Beitrag Eine Hochschule für junge Frauen)

Foto in Schwarzweiß: Portrait eines älteren Herrn mit Brille in Anzug, mit Krawatte.

15. Ikeda Kikunae (1864-1936)

Foto in Schwarzweiß: Frau in Kimono am Fenster

16. Yosano Akiko (1878-1942)

Wechsel zwischen Mikro- und Makroebene

Harding verschiebt regelmäßig und in hohem Tempo den Fokus seiner Darstellung von der „großen“ Geschichte zur Biografie der Person und zurück. So beschreibt er die Lage am Ende des 16. Jahrhunderts nach der Ankunft der Portugiesen in Japan:

„Lingering for a thousand years on one another’s imaginative peripheries – in myth, legend and rumour – East Asia and Western Europe have become far better acquainted in recent decades. “ – „Nachdem Ostasien und Westeuropa tausend Jahre lang an den fantasievollen Peripherien des jeweils anderen verweilten – in Mythen, Legenden und Gerüchten –, haben sie sich in den letzten Jahrzehnten viel besser kennengelernt.“ (S. 149, dazu die jeweiligen Weltbilder S. 152)

Es schließen sich Daten und Fakten zu Hasekura Tsunenagas Reise nach Europa an (1613-1620), seine Versuche, Begeisterung für Japan zu wecken und christliche Missionare zu finden. Dann weitet Harding den Fokus wieder und zeigt, dass die Reise nicht den gewünschten Erfolg bringen konnte, da sich zeitgleich langsam aber sicher die Nachricht über den Globus verbreitete, dass das Christentum in Japan verboten worden war und sich das Land nach außen hin abschottete (S. 162-163).

Wechsel zwischen Rückblende und Vorausschau

Trotz der übersichtlichen Kapitelstruktur bietet das Buch nicht den gewöhnlichen Erzählverlauf eines Geschichtsbuches, denn durch die Bindung an die Personen hat es einen Rhythmus, der die zeitlichen Abstände in unterschiedlich großen Schritten behandelt.

Die Kapitel eröffnen mit der Beschreibung von Ereignissen oder Lebensumständen zu einer bestimmten Zeit. Es folgen eine Rückblende zur vorangegangenen Epoche und eine Zusammenfassung der dazwischenliegenden Entwicklung.

Dann versetzt sich Harding in die Gedankenwelt der aktuell portraitierten Person hinein. Über deren Freunde, Widersacher oder Gegenspieler werden andere wichtige soziale, politische oder kulturelle Gegenbewegungen in die Darstellung eingeflochten (z.B. Gründer buddhistischer Schulen zu Zeiten von Kanmu, S. 48-49).

Am Kapitelende zieht Harding ein Fazit (Wie hat die Person den Lauf der Geschichte geprägt?) und entwickelt das Thema weiter (zum Beispiel im Kapitel zu Shinran: weitere neue buddhistische Schulen, die nach ihm gegründet wurden, S. 102-103).

17.-20. Portraits der Personen aus der Zeit von 1942 bis zur Gegenwart.

Foto in Schwarzweiß: Junge Frau im Kimono mit großem Muster.

17. Misora Hibari (1937-1989)

Foto in Schwarzweiß: Japaner mit Baskenmütze und Brille am Schreibtisch sitzend, in der Hand einen Stift, vor ihm Zeichenpapier.

18. Tezuka Osamu (1928-1989)

Foto: Portrait eines Herrn in Anzug, mit Krawatte.

19. Tanaka Kakuei (1918-1993)

Foto: Dame in weinrotem Oberteil, mit Perlenkette und Perlenohrringen.

20. Owada Masako (geb. 1963)

Das Buch ist lesenswert, denn …

… es ist wunderbar formuliert.

Harding ist ein mitreißender Erzähler, der genau weiß, mit welchen Mitteln er lebendig und pointiert Historie vermitteln kann. Er kostet die „twists and turns“, die überraschenden Wendungen, die die japanische Geschichte bietet, voll aus und versteht, sie spannend zu vermitteln (z.B. wie Hōjō Masako eine Rivalin ausschaltet und sich gegen ihren Mann Minamoto no Yoritomo auflehnt, S. 79-81).

Sein Stil ist witzig und rasant, er versteht es hervorragend, Spannung aufzubauen und die Leserschaft zu fesseln, zum Beispiel durch

  • ein außergewöhnliches Zitat am Beginn des Kapitels (z.B. von Sakamoto Ryōma, S. 193);
  • die fast filmische, zeitlupenähnliche Darstellung atemberaubender Szenen (z.B. Schießerei zwischen Sakamoto Ryōma und Ordnungshütern der Tokugawa, S. 208)
  • kurze Unterbrechungen von packenden historischen Szenen durch Einschübe (z.B. Hintergrundinformationen oder Zitate aus literarischen Werken, S. 55-63; S. 81),
  • so genannte Cliffhanger, Andeutungen auf einen spannenden weiteren Fortgang, am Ende eines Kapitels (S. 51).

Die Beschreibungen sind erfrischend, zum Beispiel über die ersten Chroniken:

„Combining myth, history and high ideals, they furnished the people of the archipelago with some of their earliest exemplars, their founding heroes and heroines, while striving above all to answer that profound, perennial question – ‘Who are we?’”

– „Indem sie [d.h. die ersten Chroniken] Mythos, Geschichte und hohe Ideale miteinander verbanden, lieferten sie den Menschen des Archipels einige ihrer frühesten Vorbilder, ihre Gründungshelden und -heldinnen, während sie vor allem danach strebten, eine Antwort auf die tiefe, immerwährende Frage zu geben: ‚Wer sind wir?‘“ (S. 25)

Sein Stil ist originell und witzig, wie bei der Beschreibung der Beziehung des Shōgun Yoshimoto zu seinem Günstling, dem jungen Nō-Darsteller Zeami (S. 114-115), der heute als der große Theoretiker und Stückeschreiber des Nō-Theaters verehrt wird:

 „Yoshimoto praised the young Zeami for his poetry, his skill at the ball game kemari and much else besides:“ – „Yoshimoto pries den jungen Zeami für seine Poesie, sein Geschick im Ballspiel kemari und vieles andere mehr:“

– direkt gefolgt von einem Zitat von Yoshitomo, das mit dem Satz beginnt: „I quite lost my heart. […]“ – „Ich habe mein Herz ganz und gar verloren. […]“

… es lebt von der Spannung zwischen Einzelschicksal und Epoche.

Harding versetzt sich in die Personen hinein, legt mit Zitaten ihre Beweggründe und ihre Sicht auf die Ereignisse offen und motiviert so ihre Handlungen. Dies ermöglicht einen direkten Zugang zu den Geschehnissen der Zeit, wie bei der Suche des Kanmu Tennō nach einer neuen Hauptstadt abseits des bisherigen Zentrums Nara, wo die Mönche der großen Tempel im 8. Jahrhundert zu mächtig geworden waren: „this was a matter not merely of self-regard, but of advertising one’s role as the ‘sacred centre’ of the realm.”

– „Dabei ging es nicht nur um Selbstachtung, sondern auch darum, die eigene Rolle als ‚heiliges Zentrum‘ des Reiches nach außen zu tragen.“ (S. 43)

Auf der anderen Seite verdeutlicht er die Umstände der Zeit und den Zeitgeist über Gerüchte, Sprichwörter und Gedanken (z.B. mappō, das Zeitalter des Verfalls der buddhistischen Lehre, S. 93).

Die ausgewählten Personen „machen“ also nur bedingt Geschichte: Harding zeigt auf, wie sich immer wieder Wohlgemeintes unter nachfolgenden Generationen ganz anders entwickelt, als ursprünglich gedacht (zum Beispiel: die Bedrohung des ideellen Erbes von Shinran, Personenverehrung als Ironie der Geschichte, S. 100-101)

So baut Harding eine Spannung auf zwischen den Umständen der Zeit, manchmal auch der Zufälle, und den Stärken und Schwächen der Persönlichkeiten. Diese führt fast automatisch zur Überlegung: Was an den Personen ist exemplarisch, wie haben sie die Geschichte geprägt, wie wurden sie durch die Geschichte geprägt?

… es präsentiert eine schillernde Auswahl exemplarischer Lebensläufe.

Die Lebensläufe sind außergewöhnlich, manche so dicht und gedrängt, dass es erstaunlich ist, dass alle Ereignisse überhaupt in die kurze Spanne einer Lebenszeit hineinpassen – insbesondere die von Frauen, wie z.B. das Auf und Ab, das die erfahrene, nach westlichen medizinischen Kenntnissen geschulte Frauenärztin Kusumoto Ine, Tochter von Philipp Franz von Siebold und Kusumoto Taki, erlebte, als sie durch die neue Gesetzgebung der Meiji-Zeit als Frau daran gehindert wurde, frei zu praktizieren.

Die Personen verleihen den Epochen ein Gesicht, und in seiner Anschaulichkeit vermittelt Harding eine Vorstellung davon, zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit als Japanerin oder Japaner gelebt zu haben, und zwar nicht nur als eine der ausgewählten Berühmtheiten. So schreibt er zum Lebensmittelchemiker Ikeda Kikunae, dem Erfinder des Geschmackstoffs Glutamat:

„Ikeda’s life, and that of his great invention, offers a taste of the Taishō period and the later 1920s. Notes of confidence, optimism and good living – for middle-class urbanites especially, from doctors and lawyers to bureaucrats and businessmen – can be found mixed in with elements of frustration, suspicion and disillusionment with where Japan seemed to be heading as a country and the way the rest of the world was treating it.“ (S. 282)

– „Ikedas Leben und das seiner großen Erfindung bieten einen Geschmack der Taishō-Zeit und der späten 1920er Jahre. Anzeichen von Selbstvertrauen, Optimismus und gutem Leben – vor allem für Städterinnen und Städter aus der Mittelschicht, von Ärzten und Anwälten bis hin zu Bürokraten und Geschäftsleuten – vermischen sich mit Elementen von Frustration, Misstrauen und Desillusionierung darüber, wohin sich Japan als Land zu entwickeln schien und wie der Rest der Welt es behandelte.“

In dem Kapitel vereint Harding Informationen zur neuen Stadtkultur und Arbeiterschaft, Populärkultur, Marketing und Konsum, „Verwestlichung“ und Internationalisierung.

Die ausgewählten Persönlichkeiten stehen für das Erleben einer Epoche, für Trends, zugleich auch für Denkrichtungen, die bis heute Wirksamkeit haben. Folgerichtig lässt Harding alle zwanzig Personen am Ende des Buches noch einmal auftreten und erklärt ihre Bedeutung für das gegenwärtige Japan – wie in einem Filmabspann, der Informationen über den weiteren Lebensweg der dargestellten Figuren / Menschen gibt (S. 423-426). – Und genau das war ja die Ausgangsfrage: „Who are the Japanese?“

21.06.2025 (Ausgabe 19)

Susanne Phillipps

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17: By 産業経済新聞社(Sankei Shinbun Co., Ltd.) – 『サンケイグラフ』1954年8月1日号、産業経済新聞社”The Sankei Graphic”, Sankei Shinbun Co., Ltd. 1954., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=110536728

18: Von Autor/-in unbekannt – “Showa Day by Day” volume 9, Kodansha Co., 1989.『昭和 二万日の全記録第9巻』講談社、1989年、p.239, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30646828

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20: Von TICAD7 Photographs – https://www.flickr.com/photos/ticad7/48648305952/, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=81896426