Eine Hochschule für junge Frauen – Bildung als Schlüssel für mehr Unabhängigkeit

Buch-Cover mit 6 Fotos von Tsuda Umeko

Ōba Minako (2021). Reflections on Tsuda Umeko. Pioneer of Women’s Education in Japan. Tōkyō: Japan Publishing Industry Foundation for Culture (JPIC); 264 Seiten. Übersetzt von Tani Yū [japanisches Original von 1990].

Im nächsten Jahr, 2024, wird die japanische Notenbank neu gestaltete Banknoten herausgeben. Den 5.000-Yen-Schein wird dann das Portrait von Tsuda Umeko zieren. Tsuda Umeko lebte von 1864 bis 1929, und ihr Leben war außergewöhnlich. Mit nur sieben Jahren wurde sie, inmitten der großen Modernisierungswelle Japans, mit vier anderen japanischen Mädchen in die USA geschickt, um dort die Lebensweise des Westens kennenzulernen.

Sie sollten in der fremden Sprache, mit den ausländischen Sitten und Gebräuchen groß werden, um sie perfekt zu meistern. Erst nach elf Jahren kehrte Umeko nach Japan zurück, als Fremde in ihrem eigenen Land. Sie war als Englischlehrerin tätig und gründete schließlich eine höhere Schule für junge Frauen, die heute eine renommierte Hochschule ist.

Geldschein, in der Mitte die Aufschrift „5.000“, rechts das Protrait von Tsuda Umeko.

01. Muster des geplanten 5.000-Yen-Scheins.

In dem Buch stellt die Schriftstellerin Ōba Minako die Briefe vor, die Tsuda Umeko nach ihrer Rückkehr nach Japan ihrer amerikanischen Pflegemutter Adeline Lanman schrieb. Die Briefe bieten eine außergewöhnlich spannende und manchmal auch atemberaubende Einsicht in die Gedankenwelt dieser bemerkenswerten Frau. Sie vermitteln aufschlussreiche Beobachtungen zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im damaligen Japan.

Über die Autorin

Ōba Minako wurde 1930 in Tōkyō geboren. Von 1949 bis 1953 studierte sie Englische Literatur am Tsuda College. Danach lebte sie mit ihrem Mann elf Jahre in Alaska, er hatte dort eine Anstellung. 1968 gewann Ōba mit ihrem Erstlingswerk „Drei Krabben“ („Sanbiki no kani“) den renommierten Akutagawa-Preis, der an junge Autorinnen und Autoren vergeben wird. In der Folge veröffentlichte sie Erzählungen, Essays, Gedichte und Literaturkritiken. Sie übersetzte englische Kinderbücher ins Japanische und übertrug klassische japanische Werke ins Moderne.

Mit zahlreichen bedeutenden Literaturpreisen ausgezeichnet, spielte sie als renommierte Autorin mit feministischen Themen eine zentrale Rolle in der literarischen Welt Japans.

Ab 1996 war sie durch einen Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselt, trat jedoch auch nach dem Infarkt in der Öffentlichkeit auf und hielt bewegende Ansprachen. 2007 verstarb Ōba Minako mit 76 Jahren.

Über das Buch

1984 wurde ein Koffer auf dem Dachboden eines alten Gebäudes der Hochschule gefunden. Er beinhaltete mehr als vierhundert persönliche Briefe, die Tsuda Umeko über dreißig Jahre hinweg an ihre Pflegemutter Adeline Lanman geschrieben hatte.

Die Zeitung „Asahi shinbun“ wandte sich an Ōba Minako mit der Bitte, sich der Briefe anzunehmen und eine biografische Skizze von Tsuda Umeko anzufertigen. Ōba Minako war genau die richtige Person für dieses Projekt: Sie war Autorin, kannte als Absolventin der Tsuda Hochschule die Ideale der Gründerin und hatte selbst mehr als zehn Jahre in den USA gelebt. Sie war mit den öffentlichen Reden und Statements von Tsuda Umeko bestens vertraut und hatte nun die Gelegenheit, sie über die Briefe besser, fast persönlich, kennenzulernen. Die Lektüre von Tsudas Briefen war für sie „like viewing a sepia-colored motion picture of an early modern Japan not found in history books.” (S. 27).

Das Buch umfasst:

– ein Vorwort der Übersetzerin Tani Yū zur englischen Ausgabe: eine Einführung zu Tsuda Umeko mit einem Hinweis auf die Aktualität der Veröffentlichung im Vorfeld der Herausgabe der neuen Banknote.

– 10 Kapitel von jeweils 20 bis 30 Seiten mit den Titeln „Return“, „Dreams“, „Impatience“, „Fretting“, „Indignation“, „Invitation“, „Waiting“, „Connections“, „Foundings“, „Seedlings“.

– einen Kommentar (11 Seiten) von Takahashi Yūko, der 11. Präsidentin und zugleich Professorin an der Abteilung für Englisch der Tsuda Universität

– Kurzangaben zur Autorin Ōba Minako und zur Übersetzerin Tani Yū (eine Seite).

Das Buch enthält einige wenige Fotografien in Schwarzweiß. Interessanterweise sind dies etwa gleich viele von Tsuda Umeko wie von Ōba Minako. Dies zeigt, wie sehr sich Ōba mit ihren persönlichen Erfahrungen in den Text einbringt und dass das Buch von beiden Frauen handelt.

Die englische Übersetzung enthält Fußnoten mit prägnanten Zusammenfassungen zur historischen Situation, um das nötige Hintergrundwissen bereitzustellen.

Das japanische Original ist bereits über dreißig Jahre alt. Ōba Minako veröffentlichte die Kapitel zunächst als Zeitschriftenserie, das Buch wurde 1990 herausgegeben und erhielt 1991 den renommierten Yomiuri-Literaturpreis in der Kategorie Kritiken / Biografien. Aufgrund der Aktualität wurde das Buch in die „Japan Library“ der Japan Publishing Industry Foundation for Culture aufgenommen und ins Englische übersetzt.

Der Lebenslauf von Tsuda Umeko

Tsuda Umeko wurde am 31. Dezember 1864 geboren. Ihr Vater Tsuda Sen (1837-1908) war ein moderner, offener Geist. Er hatte Niederländisch und Englisch studiert und zu Zeiten des Shōgunats als Beamter für Auslandsangelegenheiten gearbeitet. 1867 war er in den USA unterwegs, 1873 hatte er die Weltausstellung in Wien besucht. Zurück in Japan gab er die „Nōgyō zasshi“, eine Zeitschrift für moderne landwirtschaftliche Methoden, heraus.

02. Umekos Vater: der Agrarwissenschaftler Tsuda Sen.

Schwarzweiß-Portrait eines älteren japanischen Herrn mit langem weißen Kinnbart.

Japan befand sich zu dieser Zeit in einer Umbruchphase. Nach Jahrhunderten der Abschottung war das Land gezwungen, internationale Kontakte aufzunehmen. Um konkurrenzfähig zu werden, brauchte es Neuerungen in allen Bereichen der Gesellschaft. Ausländische Lehrer wurden ins Land geholt, Gesandtschaften ins Ausland entsandt. Die Iwakura-Mission, benannt nach ihrem Leiter Iwakura Tomomi, war die bedeutendste aller Delegationen. Sie bestand aus etwa fünfzig Teilnehmern, unter ihnen Botschafter, hochrangige Beamte, Sekretäre und Dolmetscher. Die Truppe reiste achtzehn Monate lang durch die USA und durch verschiedene Staaten Europas.

Die Hauptziele der Mission waren die Stärkung der diplomatischen Kontakte, wirtschaftliche Verhandlungen zur langfristigen Revision der Ungleichen Verträge und nicht zuletzt das Sammeln von Wissen über neue Technologien, fremde Verwaltungsstrukturen und Lebensweise, Alltag und Kultur im Ausland.

Die Männer, die die Delegation anführten, gingen das Wagnis ein, eineinhalb Jahre fern von Japan zu sein, zu einer Zeit, in der das Land noch von Unruhen erschüttert wurde. Neben den Staatsmännern der neuen Regierung begleiteten zahlreiche japanische Studenten die Mission inoffiziell.

Portrait von fünf japanischen Männern, drei in der ersten Reihe sitzend, zwei in der zweiten Reihe stehend. Nur der in der Mitte sitzende Iwakura trägt einen Kimono, die anderen Herren westliche Anzüge. In den Händen halten sie Gehstock und Zylinder.

03. Die führenden Mitglieder der Iwakura-Mission von 1872-73. In der Mitte sitzend Iwakura Tomomi (1825-1883), rechts neben ihm stehend Itō Hirobumi.

Hinzu kamen fünf Mädchen im Alter zwischen sieben und sechzehn Jahren. Sie sollten den Alltag in den USA kennenlernen, Sprache, Sitten und Gebräuche perfekt beherrschen und nach ihrer Rückkehr Aufbauarbeit in Japan leisten.

Es handelte sich um Freiwillige aus Samurai-Familien, deren Eltern sich schon länger mit Ideen aus dem Ausland beschäftigt hatten und dazu bereit waren, ein solches Wagnis einzugehen und ihre Kinder in die vollkommene Fremde zu schicken. Tsuda Umeko war die Jüngste der fünf Mädchen. Die beiden ältesten schafften die Umstellung nicht und fuhren früher als vereinbart nach Hause zurück. Die drei jüngeren, Yamakawa Sutematsu, Nagai Shigeko und Tsuda Umeko kehrten wie geplant erst elf Jahre nach ihrer Abreise nach Japan zurück.

Koloriertes Schwarzweiß-Foto von fünf jungen Japanerinnen in US-amerikanischen Röcken, mit Stiefeln und Hüten.

04. Die ersten japanischen Auslandsstudentinnen, die von der Meiji-Regierung gefördert wurden: von links Nagai Shigeko (10 Jahre alt), Ueda Teiko (16 Jahre alt), Yoshimasu Ryōko (16 Jahre alt), Tsuda Umeko (7 Jahre alt) und Yamakawa Sutematsu (12 Jahre alt).

Umeko lebte bei ihren Pflegeeltern Charles und Adeline Lanman, einem kinderlosen Ehepaar, das Verbindungen zur japanischen Gesandtschaft in Washington hatte. Die beiden kümmerten sich rührend um ihre Pflegetochter, und so ist es nicht verwunderlich, dass Umeko nach ihrer Rückkehr regelmäßig ausführliche Briefe an ihre Pflegemutter schrieb, ihr mehr anvertraute als den Personen, die sie in Japan umgaben.

Bei der Rückkehr der jungen Frauen hatte sich die politische Atmosphäre in Japan verändert. Nach der begierigen Aufnahme alles Fremden war es nun zu einer Gegenbewegung gekommen, gegen eine zu starke Modernisierung und Verwestlichung des Landes. Die Politiker, die die Mädchen entsandt hatten, waren vorübergehend ohne großen Einfluss.

Schwarzweiß-Foto eines kleinen japanischen Mädchens, das steht, locker an einem Tisch lehnt, die Beine überkreuzt.

05. Tsuda Umeko als Siebenjährige in den USA, 1871.

Dies brachte mit sich, dass sich niemand für das weitere Schicksal der Rückkehrerinnen interessierte. Während junge Männer, die aus dem Ausland zurückkehrten, mit Preisen ausgezeichnet und mit bedeutenden Posten versorgt wurden, hatte man keine Verwendung für die in den USA aufgewachsenen Frauen (S. 8).

Ihre beiden Freundinnen heirateten bald nach der Rückkehr, aber Tsuda Umeko hielt an ihrer Mission fest. Sie unterrichtete zunächst Englisch, entwarf zugleich aber den Plan, eine eigene Schule zu gründen: eine höhere Schule für Frauen, deren Ausbildung es ihnen ermöglichen sollte, ein Leben in wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu führen. Von dieser Vision schrieb sie bereits am 17.12.1882, nur einen Monat nach ihrer Rückkehr, in einem Brief (S. 63).

Durch ihren bemerkenswerten Werdegang hatte Tsuda Umeko Kontakt zu den höchsten Kreisen der damaligen Gesellschaft, zu Adligen, Politikern und den wenigen Japanerinnen und Japanern mit Auslandserfahrung. Ab 1885 arbeitete sie als Englischlehrerin am renommierten Gakushūin Women‘s College (Peeresses‘ School), einer Bildungseinrichtung, die ursprünglich für Töchter des Adels gegründet worden war. Umeko erhielt ein hohes Einkommen vom Staat und war auf lange Sicht wirtschaftlich unabhängig.

Trotzdem hatte sie den Plan zur Gründung einer eigenen Schule nicht aufgegeben. Dafür war jedoch eine höhere Ausbildung notwendig. Sie erreichte zunächst eine zweijährige Beurlaubung und reiste im Juli 1889 noch einmal in die USA.

Am Bryn Mawr College, einer 1885 gegründeten Privathochschule in einem Vorort von Philadelphia, studierte sie mit großem Erfolg Biologie und Erziehungswesen.

Genauso wichtig wie das eigentliche Studium waren die Kontakte, die sie während ihres Aufenthaltes knüpfte. Nach insgesamt drei Jahren kehrte sie nach Japan zurück.

Schwarzweiß-Foto einer japanischen Frau in einem Kleid, mit Doktor-Hut und Umhang.

06. Tsuda Umeko bei ihrem Abschluss am Bryn Mawr College.

Am 14. September 1900 war es dann schließlich soweit: Mit Hilfe einer Gruppe tatkräftiger Unterstützerinnen und Unterstützern gründete sie ihre eigene höhere Schule für junge Frauen, Joshi Eigaku Juku („Frauenschule für Englische Studien).

Das Ziel war, junge Frauen zu Lehrerinnen auszubilden, einem damals für Frauen akzeptierten Beruf, der ihnen wirtschaftliche und damit auch größere gesellschaftliche Unabhängigkeit versprach.

Tsuda Umeko war Präsidentin der Schule, unterrichtete, etablierte ein Stipendium, das Schülerinnen einen Aufenthalt in den USA ermöglichte, hielt Vorträge, vernetzte sich weiterhin mit einflussreichen Frauen in den USA und in Japan.

Dies alles bis 1917. In dem Jahr erlitt sie Schlaganfälle und war danach bis zu ihrem Tod bettlägerig. Sie starb 1929 mit 64 Jahren.

Schwarzweiß-Portrait einer japanischen Frau im Kimono.

07. Portrait von Tsuda Umeko, um 1900.

Mehrfachspiegelungen

Ōba Minako eröffnet das Buch mit dem Brief, den Tsuda Umeko am 19. November 1882 auf einem Segler aus San Francisco kommend kurz vor ihrer Ankunft in Yokohama schrieb: „One day more of traveling. We are nearly there, and this is the last I shall write, before we see our own, dear Japan and meet those so near and yet so unknown.” (S. 17).

Spannender kann eine Biografie nicht beginnen. Der Moment der Rückkehr nach elf Jahren stand kurz bevor, Ausgangspunkt für die gesamte weitere Entwicklung. Alles schien offen. An Bord waren die drei Freundinnen Tsuda Umeko, Nagai Shigeko und Yamakawa Sutematsu. Sie sollten später sehr unterschiedliche Lebenswege einschlagen. Umeko, die Jüngste, stand kurz vor ihrem 18 Geburtstag.

Ōba Minako konzentriert sich in ihrer Darstellung zunächst auf Umekos Gefühl ihrer eigenen Fremdheit in der neuen Umgebung: „… I feel so strange, like a tree that is transplanted and takes a little while to get accustomed to new surroundings. And think to what different soil I have been transplanted.” (S. 24)

Schwazweiß-Portrait von vier Damen, drei Japanerinnen im Kimono, eine US-Amerikanerin in langem Rock.

08. Die drei Japanerinnen, die gemeinsam aus den USA zurückkehrt waren, als Erwachsene. Mit auf dem Foto ist ihre gemeinsame Freundin Alice Bacon, die Tochter der Familie, bei der Sutematsu in den USA gelebt hatte. Von links: Tsuda Umeko, Alice Bacon (1858–1918,), Baroness Uryū Shigeko (1862–1928), Prinzessin Ōyama Sutematsu (1860–1919).

Umeko erlebte bei ihrer Rückkehr einen Kulturschock, nach einem Monat schrieb sie: „ … It is too much of a difference, and I feel strange and do not yet feel accustomed or at home in this new life.“ (Brief vom 14.12.1882, S. 57). Sie konnte bei ihrer Rückkehr Japanisch kaum mehr sprechen und gar nicht mehr schreiben, stets brauchte sie einen Dolmetscher an ihrer Seite. Sie hatte kein Hintergrundwissen über ihr Heimatland, die Etikette war ihr unbekannt, sie brauchte Vertraute, die sie anleiteten. In japanischer Kleidung empfand sie sich selbst als fremd (S. 22).

Dies war die Ausgangslage, und Ōba Mineko entwickelt ihre Darstellung entlang der Chronologie, unterbrochen von Rückblenden und ergänzt um die Erörterung von Themen, die Tsuda Umeko bewegten.

Dabei gibt sie die Briefe selten als Ganzes wieder, sondern widmet jedes Kapitel in der Hauptsache einem bestimmten Gedanken, richtet ihr Vergrößerungsglas darauf, zieht Auszüge aus verschiedenen Briefen von Tsuda Umeko heran und interpretiert sie anhand von Hintergrundinformationen.

Das wichtigste Thema: die Rolle der Frau in der japanischen Gesellschaft

Was Tsuda Umeko am meisten schockierte, war die Stellung der Frau in der japanischen Gesellschaft. Sie war empört, richtete ihre Kritik allerdings nicht allein an die Männer, sondern auch an die Frauen: Sie würden keine bessere Behandlung durch die Männer erwarten, fühlten sich minderwertig und versuchten in keinster Weise, gegen die Behandlung aufzubegehren (S. 93).

Umeko beobachtete und beschrieb bis ins Detail, was es bedeutete, nicht gleichberechtigt zu sein: den Männern aufwarten zu müssen, an getrennten Tischen zu speisen, nicht allein ausgehen zu dürfen. Sie erkannte, dass sich die gesamte gesellschaftliche Atmosphäre wandeln müsste, um die Stellung der Frauen zu verbessern (S. 93). Hier ging es nicht um praktische Änderungen wie die Einfuhr moderner Technik, sondern um ein grundsätzliches Umdenken. Um Empfindlichkeiten, die dem Lebensstil zugrunde lagen.

Kurz nach der Ankunft in Japan bemerkte sie, dass sie alle drei, die sie aus den USA zurückkehrt waren, schon jenseits des Alters waren, in denen junge japanische Frauen gewöhnlicherweise verheiratet wurden (Brief vom 23.12.1882, S. 64). 

Tsuda Umeko blieb ihr Leben lang ledig, während sich die beiden anderen kurz nach ihrer Rückkehr zu einer Heirat entschieden. Umeko fühlte, dass sie ihre beiden Freundinnen verlor, sah es fast als Verrat an, dass sie eine Ehe eingingen. Doch Sutematsu argumentierte, dass man als unverheiratete Frau in Japan kaum Einfluss ausüben könne (Brief vom 13. April 1883, S. 88, S. 126).

Portrait einer japanischen Dame in aufwendigem Brokatkleid.
Portrait einer japanischen Dame in traditioneller japanischer Hoftracht mit mehreren Schichten von Kimonos.
Portrait eines älteren japanischen Herrn in Militäruniform mit zahlreichen Orden an der Brust.

09.-10. Ōyama Sutematsu in westlicher Kleidung und in formaler Hofkleidung. Sie heiratete einen Baron und wurde in den Adelsstand erhoben.

11. Portrait von Ōyama Iwao (1842-1916), Ehemann von Sutematsu.

Der christliche Glaube

Die Mädchen waren noch mit der Anweisung auf die Reise gegangen, dass sie in den USA nicht getauft werden dürften. 1873 wurde das Verbot des Christentums in Japan aufgehoben, und Umeko erfuhr das Christentum als eine gütige Haltung, die ihre Pflegeeltern ihr vorlebten. Sie ließ sich taufen, der christliche Glaube gab ihr auch später in Japan Halt, und sie genoss es, an Gottesdiensten teilzunehmen.

Zugleich hegte sie große Abscheu gegen ausländische Missionare in Japan, die sich arrogant und engstirnig zeigten, einen ausschweifenden Lebensstil pflegten, keine Ahnung von der japanischen Kultur hatten und die Einheimischen von oben herab behandelten (S. 58, 110).

Sie hatte die Werte ihrer Gastfamilie mit zurück nach Japan gebracht und war von US-amerikanischen Moralvorstellungen der Zeit geprägt. So war sie beispielsweise entsetzt, dass sich Japanerinnen und Japaner schamlos nackt zeigten (S. 51) und dass auch fortschrittliche Männer wie Itō Hirobumi auswärts nächtigten oder Alkohol tranken (S. 138, 140).

Bei ihren Beobachtungen legte Umeko stets auf Ausgewogenheit wert, und doch hatte sie oft die Befürchtung als zu kritisch zu wirken (S. 107, S. 110). Immer war sie sich bewusst, dass beide Länder ihre Vor- und Nachteile hätten, und dass sich Menschen in ihrer gegenseitigen Beurteilung flexibler zeigen sollten (S. 59).

Das dafür notwendige Werkzeug war für sie die Fremdsprache, die den Horizont auf ein unbekanntes Denken öffnet. Sie selbst benutzte bis zu ihrem Lebensende Englisch für ihre Tagebuchaufzeichnungen und übersetzte in späteren Jahren sogar klassische japanische Texte ins Englische (S. 69-70).

Das Buch ist lesenswert, denn …

… der sensationelle Fund der Briefe eröffnet den Blick auf eine bestechend starke Persönlichkeit.

Es ist bewundernswert, wie Tsuda Umeko das Erziehungsexperiment bewältigte und ihr großes Ziel, eine Schule für junge Frauen zu gründen, gegen widrige Umstände realisieren konnte. In jeder Phase des Lebens hätte sie sich für ein bequemeres Leben entscheiden können, doch sie hielt an ihrem Vorhaben fest und fand eine Reihe an Freundinnen und Freunden, die ihre Pläne finanziell und mit großer Tatkraft unterstützten.

Die Briefe geben die privatesten Gedanken von Tsuda Umeko preis. Ihr war klar, dass sie mit ihrer Art, in den Briefen ihre Meinung offen zu kommunizieren, ganz und gar gegen japanische Gepflogenheiten verstieß (S. 112). In Japan wurden Briefe sehr formal gehalten – es gab (und gibt bis heute) Ratgeber mit vorgefassten Formulierungen für Anlass und Jahreszeit.

Portrait von sieben japanischen Frauen. Darunter sind Tsuda Umeko und die Schülerinnen ihres ersten Abschlussjahrgangs.

12. Abschlussfeier der Joshi Eigaku juku, der heutigen Tsuda Hochschule, im Jahr 1905. Tsuda Umeko steht in der hinteren Reihe, rechts neben ihr Anna Hartshorne.

Sie war eine enge Vertraute und Unterstützerin von Tsuda Umeko, die viele Jahre, auch nach Umekos Tod, an der Schule unterrichtete. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie Umekos Briefe nach Japan zurückbrachte.

Deshalb war Umeko von Anfang an darauf bedacht, dass Adeline Lanman und ihr Ehemann Charles, ein Regierungsbeamter mit engen Kontakten zur japanischen Gesandtschaft in Washington, den Inhalt ihrer Briefe nicht weitergaben (Brief vom 7.12.1882, S. 51). 

Umeko schreibt in einem sensiblen, ausgewogenen Stil, intelligent und elegant, und es ist ein Genuss, die Erfahrungen mit ihr zu teilen (zum Beispiel die Besteigung des Berges Fuji im Sommer 1883, S. 103-106).

… die Briefe schildern eine Sicht auf entscheidende Jahre des politischen Umbruchs in Japan.

Tsuda Umeko hatte Kontakte zu sehr hochrangigen Persönlichkeiten. In kurzen Biografien breitet die Autorin Ōba Minako das Leben dieser Menschen aus, „Menschen, die ihre Fantasie anregen” (S. 39), stellt Mutmaßungen über sie an und geht mit Hilfe von Forschungsergebnissen zeitgenössischen Gerüchten nach (zum Tod von Kuroda Kiyotakas Ehefrau: S. 44-45)

Portrait eines japanischen Herrn mit Schnauz- und Backenbart, in einem Anzug gekleidet.

13. Engen Kontakt hatte Umeko zu Kuroda Kiyotaka (1840-1900), Vordenker in internationalen Fragen und in Angelegenheiten der Erziehung, aktiv in Hokkaidō und maßgeblich für die Finanzierung des Auslandsaufenthalts der Mädchen verantwortlich. Er war von 1888 bis 1889 Premierminister von Japan.

Koloriertes Portrait eines japanischen Herrn mit einem grauen Bart, in einem Anzug gekleidet.

14. Itō Hirobumi (1841-1909), Mitglied der Iwakura-Mission, hatte sich eineinhalb Jahre in Europa aufgehalten, um die Verfassung verschiedener Länder zu studieren. Ende 1883, bevor er erster Premierminister Japans wurde, lud er Umeko als Logiergast in sein Haus ein. Sie arbeitete als Englischlehrerin an einer Schule und unterrichtete außerdem Itōs Frau und seine Tochter in westlichen Gebräuchen und Sitten (S. 120).

Da Sutematsu in den Adelsstand heiratete, wurde Tsuda Umeko öfters zu Banketten im Rokumeikan eingeladen, wie zu einem Empfang von Ōyama Iwao und seiner Frau Sutematsu mit achthundert geladenen Gästen (S. 136). Allerdings schlug Umeko Einladungen aus, da sie es als Verschwendung sah, in reine Äußerlichkeiten wie aufwendige Festkleidung zu investieren.

Weißes, zweistöckiges Gebäude im französischen Renaissance-Stil, davor Palmen.

15. Das Banketthaus Rokumeikan, 1883 fertiggestellt, wurde zu einem Symbol der Meiji-Zeit. Es diente zur Unterbringung von Regierungsgästen und als Treffpunkt für Japanerinnen und Japaner, die im Ausland gelebt hatten. Vor allem aber war es berühmt für seine großen Empfänge und Bälle, bei denen westliche Umgangsformen gepflegt wurden.

Bunter Holzblockdruck, der das Innere des Rokumeikan zeigt. Stände sind aufgebaut, Damen in westlicher Kleidung unterhalten sich.

16. Gräfin Ōyama Sutematsu und ihre Tochter Ōyama Hisako bei einem Spendenbasar im Rokumeikan, 1887.

Umeko machte auch dem kaiserlichen Hof ihre Aufwartung. Die Menschen am Hof beschreibt sie jedoch als engstirnig, borniert und kleinkarriert. Sie hätten kein Wissen über das Leben jenseits ihres Palastes, seien nur ausgebildet in den Zeremonien, die sie ausübten (Brief vom 17. September 1883, S. 114).

… es ist ein sehr persönliches Buch.

Ōba Minako war mit der Hochschule und mit den Idealen von Tsuda Umeko verbunden. So entstand kein distanziertes Portrait, sondern eines, das der Schulgründerin Hochachtung zollt. Ōba versucht, sich in Tsuda hinein zu denken, sogar hinein zu fühlen, und bringt in vielen Punkten ihre eigenen Erfahrungen mit ein: die Erwartung, dass sie als junge Frau Gäste des Hauses zu unterhalten hatte (S. 132), ihre erste Fahrt zur Tsuda Hochschule (S. 30), Begebenheiten aus der Zeit nach ihrer Rückkehr aus den USA (S. 25), eigene Auslands- und Fremdheitserfahrungen. Im Rahmen der Recherchen besuchte Ōba noch einmal die alten Orte und führte Gespräche mit anderen Ehemaligen (S. 32-33).

So entstand eine literarische Auseinandersetzung, ein Buch auf zwei Ebenen, eine „Biografie von innen“.

… das Thema ist aktueller denn je.

Die Ansprache der Präsidentin Takahashi Yūko auf der Homepage der Hochschule macht deutlich, dass nach über 120 Jahren immer noch dieselben Ziele verfolgt werden: jungen Frauen eine Erziehung zu geben, die sie befähigt, Führungspositionen auszufüllen.

Der Global Gender Gap Report ist ein vom Weltwirtschaftsforum seit 2006 jährlich erstellter umfangreicher wissenschaftlicher Bericht, der die Gleichstellung der Geschlechter in den vier Bereichen Wirtschaft, Bildung, Gesundheit und Politik analysiert (nach Wikipedia: Global Gender Gap Report).

Der Global Gender Gap Index von 2023 führt insgesamt 146 Länder auf. Auf den ersten drei Rängen, die anzeigen, dass Frauen ähnlich gute Chancen haben wie Männer, stehen Island, Norwegen und Finnland. Deutschland steht auf Platz 6. Japan auf Platz 125, zwischen den Malediven (Platz 124) und Jordanien (Platz 126).

Susanne Phillipps

22.12.2023 (Ausgabe 13)

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Bildnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Buch-Arrangement Tsuda Umeko: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: Von 財務省 (Ministry of Finance Japan), CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=77886591

02: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1353075

03: Von Autor/-in unbekannt – 1. From the arabic Wikipedia [1] 2. Japanese class [2], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=234210

04: Von Autor/-in unbekannt – http://nekocatgato.seesaa.net/article/433736564.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2595274

05: Von Autor/-in unbekannt – https://miraisozo.mizuhobank.co.jp/money/80335, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3128237

06: Von Autor/-in unbekannt – https://miraisozo.mizuhobank.co.jp/money/80335, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3127342

07: Von Autor/-in unbekannt – https://www.master-insight.com/日本女子教育的先驅:津田梅子是誰?/, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=120346214

08: Von Autor/-in unbekannt – Tsuda.ac.jp – https://pg.tsuda.ac.jp/visiting/tsudaumeko1.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2963186

09: Von Autor/-in unbekannt – Vassar College https://pages.vassar.edu/library/files/2015/02/Oyama-together.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2596039

10: Von Autor/-in unbekannt – Vassar College https://pages.vassar.edu/library/files/2015/02/Oyama-together.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2943178

11: Von Autor/-in unbekannt – This image is available from the website of the National Diet Library, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2143885

12: Von Autor/-in unbekannt – https://www.47news.jp/culture/entertainment/hotent/8272380.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=123989350

13: Von Autor/-in unbekannt – 1. [1] 2. [2], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2811935

14: Von Autor/-in unbekannt – http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/archive/3/3e/20121002072012!It%C3%B4_Hirobumi.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21931199

15: By Rijksmuseum – https://www.rijksmuseum.nl/nl/collectie/RP-F-F01177-Y, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=99817042

16: Von 楊洲周延 (1838-1912) – Waseda University Library, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2958149