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Viele Formen der Einsamkeit

„Ich war gerne allein.“ – So lautet der erste Satz des Romans „Oben Erde, unten Himmel“ von Milena Michiko Flašar. Die Aussage stammt von der Hauptfigur Takada Suzu, 25 Jahre alt, aus deren Perspektive die Geschehnisse geschildert werden.

Takada Suzu ist eine bekennende Außenseiterin, die Angst vor zu viel Nähe zu anderen hat. Sie meidet enge Beziehungen, hat ihr Studium abgebrochen und gerade eben wurde sie von ihrem aktuellen Dating-Partner abserviert. Zu all dem kündigt ihr übergriffiger Chef ihren Job im Family Restaurant mit der Bemerkung, ihr würde „das soziale Plus“ fehlen.

Ihre Zuneigung gilt einzig ihrem Hamster, und nur um weiterhin Futter für ihn kaufen zu können, bewirbt sie sich auf eine Stellenanzeige. Wie sich beim Bewerbungsgespräch herausstellt, handelt es sich bei der Arbeit allerdings nicht um einfache Reinigungstätigkeiten, sondern um die Säuberung und Desinfektion von Räumlichkeiten vereinsamt Verstorbener, die längere Zeit in ihrer Wohnung lagen und nicht aufgefunden wurden, da sie zu Lebzeiten keine sozialen Kontakte mehr pflegten.

Bis ins Detail beschreibt Milena Michiko Flašar den ersten Gang in die Wohnung eines Verstorbenen: die damit verbundenen Rituale, den Zustand der Leiche, die Gerüche im Zimmer und die Würgereflexe, die sie auslösen, die konkreten Aufgaben der Reinigung und Desinfektion. 

Mehrere Packungen unterschiedlicher, in Japan hergestellter Räucherstäbchen liegen auf dem Boden.

Abbildung: Zu Beginn und am Ende einer jeden Reinigung eines Leichenfundorts brennt das Team unter Leitung von Herrn Sakai bei einer kleinen Zeremonie Räucherstäbchen ab.

Natürlich denkt Takada Suzu nicht daran, diese Arbeit über längere Zeit hinweg zu machen – wäre da nicht der Geschäftsführer Herr Sakai mit seiner Lebenslust und Kontaktfreudigkeit. Er zeigt ihr ein ganz anderes Leben, als sie selbst es führt, und dank seiner Hilfe und konkreten Anweisungen entwickelt sie behutsam einen Sinn für Gemeinschaft, Fürsorge und Beisammensein mit anderen.

Milena Michiko Flašar zeigt in diesem Roman viele Formen der Einsamkeit. Für die etwa dreißigtausend Fundleichen pro Jahr (S. 58) gibt es im Japanischen inzwischen den Begriff kodokushi, wörtlich: „einsamer Tod“, „einsames Sterben“. Die Hinterlassenschaften der aufgefundenen Verstorbenen zeugen von Lebensstationen, an denen sie den „üblichen“, gesellschaftlich vorgesehenen Weg verließen.

Flašar behandelt das Thema behutsam und ohne Anklage, gestaltet traurige und äußerst lustige Szenen, bietet erstaunliche Wendungen im Handlungsverlauf. Ein Buch, das nachdenklich macht, aber keineswegs traurig.

Milena Michiko Flašar (2023): Oben Erde, unten Himmel. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach. 290 Seiten + Glossar.

Nach wie vor aktuell

Empfehlungen aus früheren Ausgaben, die nach wie vor aktuell sind.

 

Über mich

Im Herbst 1987 schrieb ich mich zum Studium der Japanologie ein. Dass ich mich schon lange mit Japan beschäftigte, wurde mir bewusst, als Tennō Akihito im April 2019 abdankte. Ich erinnerte mich an seine Thronbesteigung im Januar 1989 und realisierte, dass eine Ära, die ich ganz miterlebt hatte, vorüber war.

Nach dem Studium wählte ich das Lebenswerk des promovierten Mediziners und Manga-Zeichners Tezuka Osamu zum Dissertationsthema. Seit dieser Zeit arbeite ich bei einem mittelständischen Unternehmen für Medizintechnik, verantwortlich für grundlegende Organisationsstrukturen und für das QM-System. Der Kontakt zu Forschung und Lehre ist jedoch nie abgebrochen. Regelmäßig verbringe ich längere Zeit in Japan und veröffentliche Bücher über das Land. So entstand im Laufe der Zeit die Idee für dieses Online-Magazin.

Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung: susanne.phillipps@japanwissen.info

20. März 2024 (Ausgabe 14)

Susanne Phillipps

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Bildnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Räucherstäbchen: Von Andreas König – Selbst fotografiert, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9759171