Der Alltag des Prinzen Genji – Gedichte, Liebschaften und Intrigen vor mehr als eintausend Jahren
Ivan Morris (1978). The World of the Shining Prince. Court Live in Ancient Japan. Rutland (Vermont) und Tōkyō: Tuttle; Taschenbuch, XV + 366 Seiten; Jahr der Erstausgabe: 1964.
deutsche Ausgabe: Der leuchtende Prinz. Höfisches Leben im alten Japan. Aus dem Amerikanischen von Ursula Gräfe (1988). Frankfurt / Main: Insel Verlag.
Wir machen einen Zeitsprung in das 10. Jahrhundert an den Hof von Kyōto (damals Heian-kyō): Der Tennō hatte alle politische Macht verloren. Der Hofstaat, ein aufgeblähter Beamten-Apparat ohne wirkliche Entscheidungsgewalt, lebte als eine geschlossene Gruppe von Insidern, die sich darauf konzentrierte, Gedichte und Geschichten mit hohem künstlerischem Anspruch für sich und ihresgleichen zu verfassen. Die Manuskripte zirkulierten im abgeschlossenen, engen Kreis der Hofgesellschaft und waren voller pikanter Anspielungen, die für alle verständlich waren.
Ivan Morris beschreibt in seinem Buch die Lebensbedingungen des Hochadels der Zeit – und schnell wird klar: Es gibt keinen Grund, neidisch zu sein. Besonders die Frauen hatten keine Privatsphäre und nicht viele Annehmlichkeiten, von der Welt außerhalb ihres eigenen Umfelds bekamen sie kaum etwas mit. Verborgen hinter Vorhängen lebten sie meist im Dämmerlicht, umgeben nur von ihren engsten Hofdamen; andere Familienmitglieder oder Fremde bekamen sie selten oder gar nicht zu Gesicht.
Anmerkung: Alle Abbildungen, die diese Empfehlung hier begleiten, stammen aus späteren Jahrhunderten. Aus diesem Grund geben sie keinen Hinweis darauf, wie die Personen damals wirklich ausgesehen haben.
Über den Autor
Ivan Morris (1925-1976) war ein englischer Japanologe, der literarische Werke der Klassik und Moderne ins Englische übersetzte und einige Standardwerke zur japanischen Kultur verfasste. Wie Donald Keene war er ein Geisteswissenschaftler, der Japan als Soldat erlebt hatte: Als Nachrichtenoffizier der US-Marine war er als Dolmetscher nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan (siehe den Beitrag über Donald Keene). Aus dem Vorwort geht hervor, dass Keene einige Kapitel des Buches vor der Drucklegung las und mit Hinweisen versah. Und noch etwas verband die beiden: Ivan Morris widmete das Buch Arthur Waley, einem Experten ostasiatischer Kulturen, der auch für Keene ein großes Vorbild war.
Über das Buch
Das Buch ist ein Klassiker: In der Erstausgabe vor genau 60 Jahren zum ersten Mal erschienen, steht das Buch heute noch in den Regalen der Buchhandlungen in Tōkyō. Es gibt eine sehr gute deutsche Übersetzung von Ursula Gräfe, ich möchte aber aufgrund des runden Jubiläums gern aus dem Original zitieren, das seit Beginn meiner Studienzeit in meinem Regal steht und dessen Buchrücken – wie man auf dem Coverfoto sieht – schon etwas verblasst ist.
Der Band liest sich wie eine praktische Anleitung für die Lektüre der „Geschichte des Prinzen Genji“ von Murasaki Shikibu und des „Kopfkissenbuches“ von Sei Shōnagon, beides Werke der sogenannten japanischen Klassik, die großen Einfluss auf die Kunst späterer Epochen hatten: Immer wieder dienten die Texte als Inspiration für Illustrationen und Kunstwerke (siehe Beitrag zur narrativen Kunst).
01. Junge Hofdamen in formeller Kleidung, Ausschnitt aus der „Geschichte des Prinzen Genji“.
Das Buch besteht aus einer Einleitung (5 Seiten), zehn Hauptkapiteln (insg. 290 Seiten), sechs Anhängen (insg. 30 Seiten), einer Bibliografie (4 Seiten) und einem Index (12 Seiten). In kleiner Schriftgröße und mit sehr engem Zeilenabstand gedruckt, enthält das Buch weitaus mehr Stoff, als es die etwa 380 Seiten vermuten lassen würden.
Die Hauptkapitel sind:
I. The Heian Period (14 Seiten): Zeitliche Eingrenzung und allgemeine Charakterisierung der Heian-Zeit (794-1185)
II. The Setting (26 Seiten): Beschreibung der Stadt Heian-kyō (heute Kyōto): Ausrichtung in Nord-Süd-Richtung, Anlage in einem rechtwinkligen Straßennetz, Ausrichtung der Paläste, Hinweis auf die große Bedeutung der Palastgärten, auf die die Veranden ausgerichtet waren
III. Politics and Society (48 Seiten): Informationen zum Tennō, zur Familie Fujiwara, zur damaligen Gesellschaft, Verwaltung, Wirtschaft und zur Rolle der abgelegenen Provinzen
IV. Religions (34 Seiten): Erklärungen zu den damals einflussreichen Schulen des Buddhismus, zur Rolle des Shintō, zum Konfuzianismus und Daoismus
V. Superstitions (18 Seiten): Darstellung anhand von Beispielen, wie sich religiöse Ideen und Vorstellungen aus dem Volksglauben vermischten, welche Riten und Tabus eingehalten werden sollten
VI. The ‚Good People‘ and their Lives (29 Seiten): Skizzierung des Alltagslebens am Hof, des Müßiggangs, Nachzeichnen eines Kalenderjahres mit seinen zahlreichen Festivitäten
VII. The Cult of Beauty (29 Seiten): Hinweis auf die besondere Wertschätzung der Künste, der umfassenden Ästhetisierung des gesamten Alltagslebens
VIII. The Women of Heian and their Relations with Men (52 Seiten): Erklärungen zur verhältnismäßig starken Stellung der Frauen der damaligen japanischen Oberschicht; zu den polygamen Verbindungen am Hof, zu den (nächtlichen) Besuchen von Hauptfrau, Nebenfrauen und anderen Frauen
IX. Murasaki Shikibu (14 Seiten): Informationen zum familiären Hintergrund, zur Bildung, zur Lebenseinstellung und zum buddhistischen Glauben der Autorin der „Geschichte des Prinzen Genji“; die Frage nach der Motivation, diesen ungewöhnlichen Text zu schreiben
X. Aspects of ‚The Tale of Genji’ (25 Seiten): Abriss des Gesamtwerks mit Hinweis auf seine riesigen Dimensionen bezüglich der Zahl der Charaktere und des enormen zeitlichen Rahmens; Gliederung, Erzähltechniken, Symbolik der letzten Kapitel (Uji-Kapitel), Quellenlage, Hinweis auf die große Menge an Sekundärliteratur
Der Anhang enthält eine Periodisierung; Anmerkungen zum 10. Jahrhundert; Anmerkungen zur Frage, ob „Die Geschichte vom Prinzen Genji“ komplett sei; genealogische Tafeln; Anmerkungen zur Autorin Murasaki Shikibu; ein Glossar.
02. Am Hof der Heian-Zeit: Die Szene zeigt eine Feier anlässlich des 50. Tages nach der Geburt von Prinz Atsuhira-shinnō (später Kaiser Go-Ichijō). Unten ist Fujiwara no Michinaga, der Großvater des Prinzen, abgebildet. Die Dienerin unten rechts könnte Murasaki Shikibu sein.
03. Die Architektur der Paläste: Vor den geöffneten Schiebetüren gibt es eine Veranda. Vom Zimmer aus bietet sich ein wunderbarer Blick auf den Palastgarten.
Die Herangehensweise von Ivan Morris
Ivan Morris war kein Historiker, sondern Literaturwissenschaftler, und folglich näherte er sich der Epoche vorrangig nicht über Berichte oder amtliche Verlautbarungen, sondern über klassische literarische Werke: „I have leant heavily on Murasaki’s novel in my effort to understand certain aspects of Heian society, […]“ (S. XIV).
So ist auch der Titel des Buches zu erklären: Der „leuchtende Prinz“ ist Prinz Genji, Hauptfigur des Romans von Murasaki Shikibu. Die Kapitel, die sich mit den Hofdamen und ihrer Literatur befassen, sind die längsten und machen den Kern des Buches aus. Um seine Aussagen zu stützen, flicht Morris an vielen Stellen lange Passagen aus zeitgenössischen Tagebüchern, Erzählungen und Gedichten ein.
Zugleich warnt er allerdings davor, die Dinge allein durch die Augen der damaligen Autorinnen zu sehen (S. 201), und stützt sich zusätzlich auf andere Quellen und Sekundärliteratur. Zum Beispiel, um die wirtschaftliche Lage des Landes oder das Leben der Bauern und Handwerker, Fischer und Waldarbeiter, generell der arbeitenden Bevölkerung – wenn auch nur kurz – darzustellen. Sie erschienen den Angehörigen des Hofadels als vollkommen fremde, seltsame Wesen, zu denen sie überhaupt keinen Bezug hatten (S. 83, 86, 168).
04. Utagawa Kunisada: Sei Shōnagon, 1863
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Ausgangspunkt: die besondere Stellung des Kaiserhofes
Schrittweise führt der Autor die Leserinnen und Leser mehr als eintausend Jahre zurück in die Heian-Zeit (794-1185). Er streicht die Eigenarten des Alltagslebens des Hochadels heraus, die sich unter einer besonderen politischen Konstellation in einer längeren Phase des Friedens herausbilden konnten: Obwohl es vorangegangenen Regierungen gelungen war, die Zentralmacht des Hofes gegenüber den anderen einflussreichen Familien im Lande zu stärken, hatte der Tennō während der Heian-Zeit seine Macht verloren und übte nur noch religiöse und kulturelle Funktionen aus (S. 43-44).
An seinem Hof entstand über die Jahrzehnte hinweg ein viel zu groß dimensionierter Apparat verschiedenster Ämter, deren Anwärter sich nicht durch bestandene Prüfungen auszeichnen mussten, sondern sich allein über ihre Geburt in eine Familie hohen Standes „qualifizierten“, manchmal schon im Kindesalter.
05. Modell des Hauptgebäude des Tennō-Palastes in Heian-kyō
06. Modell eines Palasts mit Garten
Gremien wurden gebildet, Sitzungen fanden statt, jedoch ohne wirklich wichtige Entscheidungen zu treffen. Begleitende Zeremonien nahmen immer mehr Raum ein und wurden schrittweise zur Hauptsache. Die Hofgesellschaft erstarrte in Langeweile; die Stellung und damit der Handlungsspielraum der Beamten waren in eine feste Hierarchie gegossen, ihr Lebensstandard bis ins Detail vorgegeben: zum Beispiel über die Farbe ihrer Kleidung, die Höhe der Eingangstore ihrer Paläste, die Größe ihrer Ochsen-Wagen (S. 65).
Es herrschten Ämterkauf, Korruption und eine überbordende Bürokratie. Morris zeichnet den Weg eines Dokuments nach: „verfasst von, genehmigt durch, befürwortet von, verstanden durch, weitergeleitet an …“ – einen Weg, der über mehr als zehn Stationen führt, auch wenn es, wie er schreibt, nur um die Form der Kopfbedeckung ging, die ein Adliger dritten Ranges tragen durfte (S. 70-71).
Die Realpolitik der Familie Fujiwara
Nur sechs Seiten reichen Ivan Morris zur Darstellung der Situation des Tennō, der Familie Fujiwara widmet er dagegen mit 17 Seiten fast das Dreifache an Raum. Die Fujiwara hatten die Machtfrage für sich entschieden: Sie verstanden es, ihren eigenen Einfluss immer weiter zu stärken, und regierten an Stelle des Kaisers.
Ihr Erfolg basierte auf ihrer Heiratspolitik: Sie agierten als Regenten an der Seite eines jungen Tennō, der als Kind auf dem Thron unter dem Einfluss der Fujiwara willig alle Gesetzesentwürfe und Vorlagen unterschrieb. Dann verheirateten sie ihre Töchter an den jungen Thronfolger. So stand der junge Tennō weiterhin unter dem Einfluss seines politisch erfahrenen Schwiegervaters. Spätestens im Alter von dreißig Jahren wurde von ihm erwartet abzudanken. Mit der Ernennung eines neuen Kindkaisers setzte sich der Mechanismus fort, und die Fujiwara lenkten etwa einhundert Jahre lang unangefochten die Geschicke des Landes (S. 47).
Morris bezeichnet den Regenten Fujiwara no Michinaga (966-1028) – formal nur Regent, aber Vater von vier Ehefrauen von Kaisern, Onkel von zwei Kaisern und Großvater von drei weiteren Kaisern – als „no longer a mere king-maker but the real king of Japan” (S. 47).
Er ist entsetzt von der Machtgier der Fujiwara, bezeichnet ihre Intrigen als „unverhohlen“ („blatant“) und „überraschend unschicklich“ („surprisingly indecorous“, S. 55), äußert sich zugleich aber auch positiv: In seinen Augen hatte das Tennō-Haus über die Jahrhunderte hinweg nur durch diese Entmachtung überhaupt Bestand. Wäre es politisch aktiv gewesen, wäre es höchstwahrscheinlich hinweggefegt worden (S. 51-52).
07. Fujiwara no Michinaga markiert den Höhepunkt des Einflusses der Fujiwara am kaiserlichen Hof. Er hatte nie den Fehler gemacht, danach zu streben, die kaiserliche Familie zu verdrängen und einen eigenen männlichen Erben als Thronfolger einzusetzen (S. 51).
Die Kultur des Hofadels der Heian-Zeit
Nicht nur die Männer, auch die Frauen des Hochadels verfügten über Ländereien und waren über die Reisabgaben ihres Grundbesitzes finanziell abgesichert. Ohne Orientierung an einem festen Tagesablauf verbrachten sie ihre Tage mit Ausflügen, Spielen und Wettbewerben, Musizieren und Tanzen. Sie hatten viel freie Zeit, und dieser Müßiggang konnte sogar zur Last werden („tsurezure ni kurushimu“, wörtl. „an der Langeweile leiden“, S. 211). Strukturiert wurde der Jahresablauf der Vergnügungen durch einen Kalender mit zahlreichen Fest- und Feiertagen, die alle ihre Vorbereitungen verlangten und in besonderer Weise begangen wurden.
08. Ausflug mit Ochsen-Wagen. Auf den Straßen gab es wohl öfters Staus mit den Wagen und Streitereien um den besten Platz, so dass es sogar eine Bezeichnung dafür gab (kuruma arasoi, S. 36).
09. „Der Neujahrstag“: Vergnügungen im Palastgarten
Während der technischen Ausbildung keine große Beachtung geschenkt wurde, wirtschaftlich und verwaltungstechnisch keine Fortschritte oder Neuerungen gemacht wurden, genossen die Künste in der Heian-Zeit einen Stellenwert, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann (S. 172-173).
10.-11. Zeitvertreib: Ein Höfling, der Flöte spielt, und zwei Hofdamen beim Go-Spiel, die von einem Mann beobachtet werden
Vorausgegangen waren einige Jahrhunderte der Übernahme politischer, wirtschaftlicher und kultureller Errungenschaften aus China. Alles Chinesische, bezeichnet mit der Vorsilbe „kara“ mit der Bedeutung „chinesisch“, „koreanisch“, „ausländisch“, war chic. Für Jungen galt die chinesische Literatur als unverzichtbarer Bildungskanon. Die chinesische Schriftsprache war die Sprache der Verwaltung und die herrschende Ausdrucksform für Männer, vergleichbar mit dem Latein der Gelehrten in Europa (S. 6-10).
Die Heian-Zeit war nun eine Phase, in der Japan weniger Kontakt zum Ausland suchte, das kulturell neu Erworbene der eigenen Kultur anpasste und eigene Ausdrucksweisen fand. Den Höhepunkt sieht Morris ein Jahrhundert nach dem offiziellen Bruch mit China 894. Dies ist auch das Jahrhundert, auf das er sich in seiner Darstellung konzentriert: Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht die Zeit von der Mitte des 10. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts (S. 3-4, auch Fußnote).
Im Zentrum standen die Künste des Briefeschreibens, des Dichtens und der Kalligrafie (die Handschrift galt als Spiegel der Seele). Getragen wurde diese Kultur vor allem von den Hofdamen. Sie schrieben Tagebücher, Gedichte und Erzählungen, die als Kopien am Hof zirkulierten und ein äußerst anschauliches Bild des Lebens am Hofe liefern.
12. Die Dichterin Sei Shōnagon mit ihren Hofdamen, Doppelseite aus einem Leseheft der Edo-Zeit.
Am berühmtesten wurde der Roman der Zeit, der zugleich als der erste Roman der Weltliteratur überhaupt betrachtet wird, „Genji monogatari“, „Die Geschichte des Prinzen Genji“ von Murasaki Shikibu, außerdem eine Sammlung von Betrachtungen von Sei Shōnagon mit dem Titel „Makura no sōshi“, „Das Kopfkissenbuch“.
13. Murasaki Shikibu beim Verfassen der „Geschichte vom Prinzen Genji“; Tosa Mitsuoki (1617-1691).
Die Figuren der Texte und ihre Empfindungen
Der„überbordende Ästhetizismus“ („rampant aestheticism“, S. 194) bezog sich nicht nur auf die Künste, sondern auf das gesamte Alltagsleben am Hof. Es war notwendig, immer chic zu sein, dem letzten Schrei zu folgen, auf dem neusten Stand zu sein (imamekashisa, S. 175).
Dazu gab es genaue Vorgaben: Ein minuziös ausgearbeiteter ästhetischer Code bestimmte, wie alles zu sein hatte. Ein kaum sichtbares Untergewand in einer unpassenden Farbe konnte schon den Ruf ruinieren, und stilsicher zu sein war weitaus mehr wert als in unserem Sinne moralisch korrekt (S. 170). So verbrachte man viel Zeit mit dem Waschen der bodenlangen Haare, der Auswahl der Kleidung, dem Schminken und (auch die Herren) mit dem Zusammenstellen der Parfums.
Aufgrund der Architektur waren die Damen stets Augen und Ohren der anderen ausgesetzt, die heimlich lauschten, durch Vorhänge spähten, tratschten, bis hin zum Mobbing. Wegen der Holzbauweise mit den offenen Schiebetüren waren sie außerdem in direktem Kontakt mit der sie umgebenden Natur, der Jahreszeit, dem Wetter, der Tageszeit. In Gedichten und Tagebüchern drückten die Angehörigen des Hofes, genauso wie die Charaktere ihrer Erzählungen, ihre Emotionen über Bilder der sie umgebenden Natur aus. Für Morris sind die beeindruckendsten literarischen Szenen von der Melancholie des Herbstes ummantelt (S. 21, 33).
Er weist darauf hin, dass der unvorstellbaren Prachtentfaltung, zum Beispiel bei Prozessionen oder Zeremonien, eine melancholische oder pessimistische Grundhaltung entgegenstand: die Haltung des mujōkan, der Vergänglichkeit, Flüchtigkeit, Unbeständigkeit allen Irdischen. In der zeitgenössischen Literatur ist als Grundhaltung ein gewisser „Weltschmerz“ zu spüren (Ivan Morris benutzt den deutschen Ausdruck, S. 114).
14.-15. Hofdamen formen einen großen Schneeball, Umsetzungen von zwei verschiedenen Künstlern: von Tosa Mitsuoki (1617–1691) und von Utagawa Kunisada (1845).
Die Frauen, die Männer
Die Beziehung zwischen Frauen und Männern war genaustens geregelt, vor allem über das Bewusstsein der Klassenunterschiede (S. 213). Durch ihre ranghohe Geburt, ihre Ausbildung in den Künsten und ihr ästhetisches Empfinden waren die Hochadligen „yoki hito“ (wörtl. „gute Menschen“). Besonders bei der Entscheidung für eine Ehefrau (die oft schon im Kindesalter getroffen wurde) musste der Stand gewahrt bleiben, bei den Verbindungen zu Nebenfrauen waren die Herren flexibler. Die Töchter wurden in erster Linie dazu eingesetzt, die Position der Familie am Hofe zu stärken – ablesbar an unzähligen Intrigen, von denen Morris einige schildert (S. 56-59), und Ursache für viele Verwicklungen und emotionale Komplikationen.
16.-17. Männer beim Ballspiel und Frauen hinter dem Vorhang: eine Szene aus Kapitel 34 der „Geschichte vom Prinzen Genji“, einmal vom Raum aus, einmal vom Garten aus gesehen.
Das Idealbild des Mannes würde nach heutigen Vorstellungen eher als verweichlicht gelten: begabt in den verschiedensten feinen Künsten, larmoyant, äußerst sensibel und nah am Wasser gebaut (S. 144-147) – ideales Vorbild für die männlichen Figuren heutiger Manga für Mädchen (shōjo manga).
Die Frauen hielten sich meist im Halbdunkel hinter Vorhängen und Wandschirmen auf. Dies trug sicher zur Aura des Geheimnisvollen bei, sorgte allerdings auch für viele Verwechslungen und Missverständnisse im Laufe der Erzählungen (S. 34).
18. Eine Dame, verborgen vor den Blicken ihres Verehrers.
19. Ein Möbelstück, das eine wichtige Rolle in der zeitgenössischen Literatur einnimmt, war der Stellschirm (kichō, S. 32).
Unter den Rängen des Hochadels war Polygamie verbreitet, praktiziert von Männern, die sich den standesgemäßen Unterhalt mehrerer Frauen leisten konnten (S. 220). Dies brachte mit sich, dass der Status der Frauen trotz ihrer finanziellen Absicherung gefährdet war, solange sie nicht durch einen einflussreichen Verwandten oder Geliebten protektiert wurden.
So war die Eifersucht ein bestimmendes Thema der Literatur dieser Zeit. Morris unterstreicht, dass die Polygamie allgemein akzeptiert wurde, obwohl sie viel Leid und Unsicherheit mit sich brachte, sowohl für Frauen wie auch für Männer. Er betrachtet die Probleme des Liebeslebens der damaligen Figuren als im Grunde zeitlos und sieht in ihnen die emotionale Bedeutung der Literatur für heutige Leserinnen und Leser (S. 240-243).
Das Buch ist auch sechzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch lesenswert, denn …
… es ist stilistisch wunderbar formuliert.
Das Sachbuch zeichnet sich durch stilistische Eleganz und Witz aus, es richtet sich explizit an ein allgemeines wie an ein Fachpublikum. Dies funktioniert über anschauliche, lebendige Formulierungen im Hauptteil, gepaart mit Informationen und Hinweisen in den oft sehr ausführlichen Fußnoten.
Morris formuliert traumhafte Beschreibungen, wie zum Beispiel die Lage von Kyōto (S. 18). Zur Entstehungszeit des Buches war in Europa und den USA bei weitem nicht so viel über Japan bekannt wie heute. Morris führt deshalb viele Vergleiche mit der europäischen Geschichte an: Um die Breite der zentralen Allee in der Stadt Heian-kyō zu veranschaulichen, stellt er sie Straßen in Rom und Paris gegenüber (S. 23), die Hierarchie am Hofe vergleicht er mit der am Hof von Peter dem Großen (S. 63); er zeigt Unterschiede von buddhistischen und christlichen Grundideen auf (S. 109-116); Tabus bezüglich Himmelsrichtungen veranschaulicht er am Beispiel des Londoner Stadtplans (S. 125) und er erklärt: Ein Hofadliger, der am Heian-Hof keine Gedichte verfassen konnte, hatte einen ähnlich schlechten Stand wie ein Gentleman zu Zeiten Henry VIII, der kein Pferd besteigen konnte (S. 181).
Der Autor schreibt mit einem gewissen Charme und Witz, so zum Beispiel über die medizinischen Anwendungen der Heian-Zeit, die nur den Hofadligen der obersten Ränge zugutekam: „Ein kurzer Überblick über ihre Diagnose- und Heilmethoden lässt nicht vermuten, dass einfache Bürger dadurch große Nachteile hatten, dass sie diese Behandlungen entbehren mussten.“ („A brief survey of their methods of diagnosis and cure would not suggest that commoners suffered any great deprivation as a result of being disqualified for treatment.”, S. 133)
… es zeugt von der umfassenden Ausbildung der damaligen Forschenden.
Das Buch stammt aus einer inzwischen vergangenen wissenschaftlichen Zeit, es ist selbst schon zum Klassiker geworden. Bei der Lektüre des Buches muss man im Hinterkopf haben, dass in den 1950er und 1960er Jahren eine andere Ordnung in den Wissenschaften herrschte. Die Beschäftigung mit Japan galt als Geisteswissenschaft, die Kulturwissenschaften gab es noch gar nicht.
Die Sekundärliteratur, die Morris anführt, stammt aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Japanologie außerhalb Japans war damals klein, es standen weit weniger wissenschaftliche Veröffentlichungen und Übersetzungen zu Verfügung, und die Forschenden der Zeit schufen meist Übersichtswerke.
Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen war oft eine Ausbildung in europäischer Geschichte und europäischen klassischen Sprachen. Hinzu kam meist ein gutes Wissen nicht nur über Japan, sondern auch über andere asiatische Länder (im Buch vor allem ablesbar an den Hinweisen in den Fußnoten). Der Königsweg, sich mit einer fremden Kultur auseinanderzusetzen, führte entweder über die klassische Literatur oder über die Kunstgeschichte.
Dies ermöglichte den Autorinnen und Autoren eine Sichtweise, die heute nicht mehr üblich ist: Morris macht mit seinen zahlreichen kulturellen Vergleichen viele Sprünge in Raum und Zeit – originell und zugleich äußerst ungewohnt. Dazu gelingt ihm immer wieder die Perspektive von außen: Wie empfanden chinesische Gesandte, die am Heian-Hof verkehrten, die Zeremonien am Hof in Heian-kyō? (S. 11-12).
20. Etagenständer mit Motiven, die auf die „Geschichte vom Prinzen Genji“ anspielen
… es ist eine detailreiche Skizze des Weltbilds des damaligen Hofadels.
Auch wenn viele Informationen des Buches inzwischen in Übersichtskapiteln zur Heian-Zeit verfügbar sind, sind es die Details, die bestechen. Sie machen es möglich, sich in die Zeit hineinzufinden. Dazu gehören Weltanschauung, Religion und Glaube, Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, Tabus und Vorschriften – zum Beispiel bestimmte Tage, an denen es verboten oder im Gegenteil geboten war, zu baden, Fingernägel zu schneiden, Haare zu waschen (S. 92, 123-131).
Viele Ängste vor Katastrophen wie Erdbeben, Feuer- und Sturmkatastrophen, Epidemien und Hungersnöten wurden gedanklich gezähmt und erklärt durch Vorstellungen von Rachegeistern oder der Besessenheit von einem bösen Geist oder Dämon (mononoke). Textpassagen aus Originalen zeigen eindrucksvoll die Geisteraustreibung durch buddhistische Priester (S. 135-139).
Äußerst interessant ist die Begrenztheit der Erfahrungswelt der damaligen Hofadligen. Durch ein schwach ausgebautes Netz an Verkehrswegen und schlechte Transportmöglichkeiten lagen Orte von nur wenigen zehn Kilometern Entfernung schon außerhalb ihrer Reichweite (S. 38-39). Stätten der Verbannung befanden sich unserer Wahrnehmung nach nicht am Ende der Welt, wurden damals aber so empfunden. Als besonders wild galt der Nordosten, dorthin verschlagen zu werden, galt als ausgesprochen schlimmes Schicksal. Morris weist darauf hin, dass der Berg Fuji keine Erwähnung in den Aufzeichnungen fand, da er zu weit entfernt lag (S. 17-18).
Doch gerade dieses Unterschätzen, dieses Nicht-Wahrnehmen der abgelegenen Provinzen brachte den kaiserlichen Hof zu Fall. Kriegerfamilien erschlossen dort immer mehr Land, vergrößerten so schrittweise ihre finanziellen Ressourcen und damit ihre Machtbasis (S. 39).
21. Szene aus dem Film „Genji monogatari“ von Yoshimura Kōzaburō, 1951
… es ist ein äußerst informatives und aufschlussreiches Werk nicht nur zur Heian-Zeit.
Morris gelingt es, minuziös und unterhaltsam das Funktionieren eines politischen Modells darzulegen, das über lange Zeit in der japanischen Geschichte Bestand hatte: das (mehr oder weniger freiwillige) Delegieren von Macht. Über Jahrhunderte hinweg waren die Personen, die tatsächlich die Macht ausübten, oft andere als die eigentliche Autorität (S. 43) – und dieses Buch vermittelt einen hervorragenden Einblick davon.
Susanne Phillipps
22.09.2024 (Ausgabe 16)
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Buch-Arrangement Shining Prince: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk
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07: Von Kikuchi Yōsai (1781 – 1878) – Wise Personages Past and Present containing portraits of more than five hundred loyalists, royal retainers and heroic women in history. (1868). [1]This image can also be found in The Japan Times article "The long road to identity" by Michael Hoffman, Sunday, Oct. 11, 2009., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=653555
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09: Von Kanō, Osanobu – Yasumura, Toshinobu et al.: Kanô-ha ketteiban. Bessatsu taiyô, 131. Tôkyô: Heibonsha 2004, S. 132-133, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65113494
10: Von Anonym – Tokyo, Goto Museum, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30684124
11: Von Genji1000nenki – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5872269
12: Von Hishikawa Moronobu – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=84263522
13: Von Tosa Mitsuoki (1617 – 1691) – Ishiyama-dera Temple, in Ōtsu in Japan's Shiga Prefecture, [1], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=95669915
14: Von Tosa Mitsuoki – The Tale of Genji: Legends and Paintings, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=469299
15: Von Utagawa Kunisada – Hood Museum of Art, Dartmouth College, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=146655757
16: Von Anonym – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35497742
17: Von Kano Ryusetsu Hidenobu – British Museum, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19340504
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19: By Masanao Sekine – http://kindai.ndl.go.jp/index.html, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5083057
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21: Von Autor/-in unbekannt – [1], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20695086