Ein Leben inmitten literarischer Klassiker

Einige Bücher von Donald Keene in der Mitte die hier besprochene Autobiografie.

 

Donald Keene (2008). Chronicles of My Life. An American in the Heart of Japan. New York: University of Columbia Press; broschiert, 196 Seiten.

Donald Keene (1922-2019) war einer der literaturwissenschaftlichen Pioniere der englischsprachigen Japanologie, in einer Reihe zu nennen mit seinem großen Vorbild Arthur Waley und seinen ungefähr gleichaltrigen Kollegen Edward Seidensticker, Howard Hibbett oder Ivan Morris. Sie hatten Japan im Zweiten Weltkrieg noch als Gegner erlebt, und einige hielten sich während der US-amerikanischen Besatzungszeit in Japan auf. Mit ihren Übersetzungen aus dem Japanischen machten sie später die englischsprachige Leserschaft mit dem klassischen Literaturkanon Japans vertraut.

Zugleich verstand Keene es, sich in der literarischen Szene in Japan zu etablieren und sie durch seine japanischen Veröffentlichungen mitzugestalten. Sein umfangreiches Lebenswerk besteht aus Standardwerken zur japanischen Literatur und Kultur, die auch nach Jahrzehnten nichts von ihrer Frische eingebüßt haben. Sie sind nicht nur informativ, sondern auch genüsslich zu lesen: die Übersetzungen poetisch, die Analysen mitreißend in der klugen Beschreibung kulturhistorischer Zusammenhänge.

Über das Buch

In den autobiografischen Notizen rekapituliert Keene seine zum Zeitpunkt der Niederschrift über 60 Jahre andauernde Beschäftigung mit Japan. Das Deckblatt zeigt ihn als jungen Mann 1955 am Grab von Bashō in Zeze, östlich von Kyōto am Biwa-See.

In Japan ein bekannter Mann, erschienen seine Lebenserinnerungen zuerst als einjährige Zeitungskolumne auf Japanisch. Dies scheint in der englischen Übersetzung hier und da in kleinen Anekdoten durch, die für ihn typisch sind und mit denen er sich in das Herz der japanischen Leserinnen und Leser schrieb.

Donald Keene schreibt mit seinem Füllfeder eine Widmung in ein Buch.

01. Donald Keene (2002).

Für die englische Buchveröffentlichung wurden die Zeitungsbeiträge als 42 Kapitel von je 4 bis 4,5 Seiten zusammengestellt und mit Illustrationen von Yamaguchi Akira versehen. Yamaguchi Akira, der dafür bekannt ist, moderne Sujets in klassischer Weise darzustellen – von goldenen Wolken umgebene Hochhäuser auf Heian-zeitlichen Wandschirmen; moderne Gebäude, deren Seitenwände in Manier der alten Darstellungen aufgeschnitten sind, um hineinschauen zu können – setzte einzelne Szenen von Keenes Text in Tableaus von sechs bis acht kleinen Einzelbildern fantasievoll um.

Der Anhang umfasst 8 Seiten mit Fotos aus Keenes Leben und ein vierseitiges Personenregister der im Text erwähnten Japanerinnen und Japaner.

Kindheit und Jugend in New York: Neugierde auf die Fremde

Als 1929 die Wirtschaft in eine weltweite Krise stürzte, war Donald Keene sieben Jahre alt. Er erinnert sich an finanzielle Probleme des Vaters und an die Armut auf den Straßen. 1934 verstarb seine Schwester, und als er 15 Jahre alt war, ließen seine Eltern sich scheiden. Auch der Schulalltag hinterließ bei ihm, der als unsportlicher Junge kaum Ansehen durch seine Klassenkameraden genoss, keine guten Erinnerungen. Weder die Herausgabe der Schülerzeitschrift noch das Schreiben der Theaterstücke zum Jahresabschluss konnten seine Einsamkeit kompensieren (S. 16).

Aber eine schöne Erinnerung ragt aus Keenes Kindheit heraus: Er hatte so lange gebeten und geweint, bis 1931 sein großer Traum in Erfüllung ging und er mit nur neun Jahren seinen Vater auf einer seiner Geschäftsreisen nach Europa begleiten durfte.

Die Reise prägte ihn in zweierlei Hinsicht: Zum einen verstand er, dass in der Fremde andere Verhaltensweisen als „normal“ betrachtet werden, die nicht von vorn herein verurteilt werden dürfen. Zum anderen führte ihm die Reise die Notwendigkeit des Fremdsprachenlernens vor Augen, eine Erfordernis, die viele in den USA durch die Weite des Landes gar nicht verspüren.

In einem Tagebuch hielt er seine Eindrücke fest, zum Beispiel sah er Leute Alkohol trinken, was er von zu Hause, dem Amerika zur Zeit der Prohibition, nicht kannte (S. 8). Die Reise weckte seine Liebe zu Frankreich.

Postkarte eines Ozeandampfers mit zwei großen, roten Schornsteinen.

02. Über den Atlantik reiste man damals noch per Schiff. Für die Überfahrt zurück nach New York buchte sein Vater Plätze auf einem Dampfer des Norddeutschen Lloyd; hier eine Postkarte der Columbus.

Außerdem war Keene einer der ganz wenigen, die damals die Erfahrung machten, mit einem Flugzeug zu fliegen: von Wien nach Berlin (S. 13).

Die Erzählungen von den aufregenden Abenteuern seiner Europa-Reise steigerten dann wohl doch eine Zeitlang sein Ansehen unter seinen Schulkameraden.

Als Klassenbester übersprang Keene Klassenstufen, war dadurch stets der Jüngste und Kleinste. Aber so tat sich ihm eine riesige Chance auf: Unter der Obhut einer Lehrerin arbeitete er auf die Bewerbung für ein Stipendium hin und erhielt mit nur 16 Jahren tatsächlich einen Studienplatz an der Columbia University, ausgestattet mit einem Pulitzer-Stipendium.

Dreieckige Briefmarke im Wert von 50 Francs, im Bildinneren das Motiv von Einheimischen auf Kamelen, Umrandung mit der Aufschrift „Obock, 1893-94“.
Dreieckige Briefmarke im Wert von 2 Cents, im Bildinneren das Portrait von Gabriel García Moreno, Präsident von Ecuador, Umrandung mit der Aufschrift „República del Ecuador, 1907“.

03.-04. Keene liebte Kinofilme, die ihn aus dem Alltag entführten, und Briefmarken, die ihn von der Fremde träumen ließen.

Als Beispiel für seine Vorliebe fürs Außergewöhnliche nennt er dreieckige Briefmarken ferner Länder (S. 21).

Hier Marken aus Obock, einer Hafenstadt von Dschibuti, aus der Zeit unter französischer Verwaltung,

und aus Ecuador mit dem Portrait des Präsidenten Gabriel García Moreno.

Die Grundausbildung während des Studiums: Europäische Klassiker

Campus der Universität mit Freifläche und Springbrunnen, verstreut einige Menschen.

05. Campus der Columbia University in New York.

An der Columbia University studierte Keene und lehrte später Jahrzehnte lang japanische Kultur und Literatur.

Keene war begeistert von seinen Lehrern, allen voran von dem Dichter, Literaturkritiker und Pulitzer-Preisträger Mark van Doren (1894-1972), seinem Lehrer in klassischer Literatur.

Zwei Ereignisse dieser Zeit sieht Keene als prägend für seine weitere Zukunft: Zum einen lehrte ihm sein Sitznachbar, ein chinesischer Kommilitone, die ersten chinesischen Schriftzeichen zu schreiben.

Zum anderen stieß er 1940, inmitten der Angst vor dem sich ausweitenden Krieg, in einem Buchladen am Times Square auf eine Ausgabe von „The Tale of Genji“, dem „Genji monogatari“ in der englischen Übersetzung von Arthur Waley. Obwohl er Vorbehalte gegen das militaristische Japan hatte (S. 14), kaufte er das Buch und war begeistert von der psychischen Dimension der dargestellten Charaktere. Das Buch entführte ihn in eine fremde, schöne Welt und verzauberte ihn in der gelungenen Übersetzung Waleys, eine Begeisterung, die zeit seines Lebens anhielt.

Kurz darauf bemühte er sich um Japanisch-Unterricht und war fasziniert von der Komplexität der japanischen Schrift, für ihn der Hauptgrund, sich weiter mit der Sprache zu beschäftigen (S. 27).

Portraitfoto in Schwarzweiß.

06. Mark van Doren, großes Vorbild für Keenes spätere Lehrtätigkeit. Er gab den Studenten die Aufgabe, Klassiker zu lesen und selbst darüber nachzudenken, warum die Werke als Klassiker eingestuft wurden (S. 18).

Sammelmarke mit einem Portrait von Aristoteles. In der darunter angebrachten Vignette die Inschrift: „Langenscheidt’sche Bibliothek sämtlicher griechischer und römischer Klassiker in deutschen Übersetzungen“.

07. Die Lektüre europäischer Klassiker verlieh Keene stilistische Sicherheit und diente sein Leben lang als Referenz zur Beschreibung der Eigenheiten von Literaturgenres: welche Elemente als kulturübergreifend gelten können, welche sich speziell in der japanischen Literatur herausgebildet haben (S. 19). Hier: Aristoteles auf einer Sammelmarke des Langenscheidt-Verlags.

Murasaki Shikibu in der aufwendigen Kleidung der Hofdamen, auf einen niedrigen Schreibpult aufgestützt, einen Pinsel in der Hand. Auf dem Pult und dem Boden Schriftrollen verteilt.

08. Und über einen klassischen Text fand Keene Eingang in die japanische Kultur.

Hier eine Darstellung von Murasaki Shikibu, der Autorin der „Geschichte des Prinzen Genji“ (frühes 11. Jahrhundert), von Tosa Mitsuoki (1617–1691).

Die englische Übersetzung von Arthur Waley begeisterte Donald Keene sein Leben lang.

Während des Pazifischen Kriegs: als Übersetzer der Marine in Asien

Keene war auf einer Wanderung mit einem japanischen Freund, als die japanischen Marineluftstreitkräfte am 7. Dezember 1941 Pearl Harbor attackierten (S. 30). Am folgenden Tag unterzeichnete Präsident Franklin D. Roosevelt die Kriegserklärung an Japan.

Keene erfuhr von einer Sprachschule der US-Marine, die Männer zu Übersetzern und Dolmetschern für das Japanische ausbildete. Als junger Mann mit guten Fremdsprachenkenntnissen wurde er aufgenommen und reiste zu einer einjährigen Sprachausbildung nach Berkeley, Kalifornien.

Die Lehrer waren in den USA geborene Kinder japanischer Einwanderer. Keene schildert, wie engagiert sie sich einsetzten, trotz der Vorbehalte ihrer eigenen Landsleute, die mit Kriegsbeginn furchtbaren Lebensbedingungen ausgesetzt waren: Etwa 120.000 japanische Einwanderer und ihre Nachkommen lebten zu dieser Zeit an der US-amerikanischen Westküste, wurden nach dem Überfall auf Pearl Harbor als potenzielle Spione betrachtet, von der Küste vertrieben und mussten während der Kriegszeit in Internierungslagern in der Wüste im Landesinneren leben.

Ein US-Amerikaner reckt entschlossen die geballte Faust gen Himmel, im Hintergrund japanische Kampfflugzeuge und Pearl Harbor in Flammen.

US-amerikanisches Plakat: „Rächt Pearl Harbor – Unsere Kugeln werden das erledigen!“

Tagebücher japanischer Soldaten

Nach dem Abschluss der Sprachschule im Februar 1942 kam Keene nach Pearl Harbor, wo er japanische Dokumente übersetzte, die abgefangen worden waren. Zu diesen Texten gehörten auch Tagebücher japanischer Soldaten, die man aus der Kleidung von Leichen genommen oder im Meer schwimmend gefunden hatte (S. 36). Im Gegensatz zu US-amerikanischen Militärangehörigen, die keine Tagebücher führen durften, wurden japanische Soldaten dazu angehalten.

Keene beschreibt eindrucksvoll, dass diese Tagebücher patriotische Sprüche enthielten, solange die Soldaten noch in geordneten Reihen in Japan standen, vor allem weil Vorgesetzte das Recht zur Einsicht hatten. Das änderte sich mit der Verzweiflung im Kampfeinsatz, auf verlorenem Posten, in Einheiten, die in Auflösung begriffen waren: Situationen, in denen die Betroffenen ihre wahren Gefühle niederschrieben. Oft enthielten die Tagebücher auf der letzten Seite einen Hinweis auf Englisch, das Büchlein bitte nach dem Krieg den Angehörigen zu übergeben (S. 36-37).

Keene erkannte den großen Wert, die Bedeutung der Aufzeichnungen. Tagebücher, die in der japanischen Kultur eine so große Rolle spielen, sollten ihn während seiner ganzen weiteren Laufbahn als Literaturwissenschaftler beschäftigten.

Kampfeinsätze

Seine Kampfeinsätze führten Keene über Inseln, die zu Alaska gehören, nach Okinawa.

Die Aufzeichnungen über die Kriegseinsätze sind kurz gehalten, Keene schildert sie ohne die Angst, die er empfunden haben muss. Er macht aber deutlich, dass Bruchteile von Sekunden über Leben und Tod entschieden: in keiner Weise beeinflussbare Zufälle und Situationen wie ein Kamikaze-Angriff auf sein Schiff (S. 44).

Auf den Inseln, die das amerikanische Militär eroberte, wurden japanische Kriegsgefangene gemacht. Zu Keenes Aufgaben gehörten die Verhöre nach ihrer Festnahme.

10.-11. Keenes erste Kampfeinsätze waren auf Attu und Adak, Inseln, die zu Alaska gehören.

US-Truppen, die an einem Strand landen.
US-Truppen auf einem Versorgungsschiff.

Zu seiner Enttäuschung wurde er nach Kriegsende nicht nach Japan geschickt, sondern nach Qingdao in China (S. 50). Die dortigen Befragungen zu Kriegsverbrechen waren für ihn so furchtbar, dass er um seine vorzeitige Rückkehr in die Staaten bat (S. 52).

Obwohl sein Rückreisebefehl anders lautete, reiste er für eine Woche nach Japan, das er so gern kennenlernen wollte, und fand Tōkyō noch schlimmer zerstört vor, als er es sich vorgestellt hatte (S. 53).

Er suchte nach Familien von Kriegsgefangenen, mit denen er engeren Kontakt gehabt hatte, um sie davon zu unterrichten, dass ihre Söhne, Männer, Väter lebten.

 

Blick auf einen Stadtteil von Tōkyō aus dem Flugzeug heraus. Ein Streifen unbeschädigter Wohngebäude, umgeben von weiten Landstrichen, auf denen nur noch die Reste der Fundamente von Häusern auszumachen sind.

12. Luftaufnahme einer Wohngegend von Tōkyō 1945: Ein schmaler Streifen unbeschädigter Wohngebäude ist umgeben von weiten Landstrichen, auf denen nur noch die Reste der Fundamente von Häusern auszumachen sind.

Die großen Vorbilder: damalige Ostasien-Spezialisten

Wie sollte es weitergehen? Allgemein schätzte man, dass es Jahrzehnte brauche, bis Japan sich wieder erholen würde. Im Zweifel, ob weiterhin Lehrer für japanische Kultur gebraucht würden, wusste Keene nicht, für welche berufliche Laufbahn er sich entscheiden sollte.

Schließlich kehrte er an die Columbia University zurück und nahm sein Studium der japanischen Literatur bei dem von ihm sehr geschätzten Tsunoda Ryūsaku wieder auf, das er vor dem Krieg begonnen hatte. Im Unterricht las er klassische Texte im Original, von denen er viele später in Übersetzung veröffentlichte (S. 59-61). Ein Jahr in Harvard (1947-48) und fünf Jahre in Cambridge dienten Keene der akademischen Orientierung.

Portrait in Schwarzweiß während einer Ansprache.

13. Edwin O. Reischauer (1910-1990 hier 1961), in Harvard zunächst Dozent, dann Professor für Geschichte und Kultur von Japan und Ostasien, wurde für Keene zum Vorbild im Hinblick auf die verständliche Präsentation von Forschungsergebnissen.

Unter Präsident Kennedy wurde Reischauer Botschafter in Japan.

14. In London lernte Keene sein großes Vorbild Arthur Waley (1889-1966) kennen; hier auf einem Gemälde von Rachel Strachey.

Für Keene bedeutete Waleys Übersetzung jahrelange Inspiration, er bezeichnet Waley aufgrund seiner vielseitigen Sprachkenntnisse und seines breiten Wissens von Literatur, Geschichte und Religion als Genie:

„I too had studied Chinese along with Japanese and hoped to become the second Waley“ (S. 71).

 

 

Portrait-Gemälde von der Malerin Rachel Strachey (1887-1940).

Zwischen Kyōto und Columbia University

1953 endlich reiste Keene mit einem Stipendium nach Japan. Kyōto war im Krieg nicht zerstört worden, er entdeckte überall Spuren der Vergangenheit und erlag dem Zauber einzelner Stadtviertel.

Der allgemeine Zeitgeist aber war ein ganz anderer: Traditionelle Theater- und Gedichtformen waren nicht angesagt, standen sogar unter dem Verdacht, dem Militarismus Vorschub geleistet zu haben. Junge Kulturschaffende waren auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen und alte Holzhäuser wurden abgerissen, um Gebäuden aus Stahlbeton Platz zu machen.

Trotzdem fand Keene in seiner Unterkunft einen Rhythmus für seinen Alltag, bestehend aus der Arbeit an seinen Übersetzungen und dem Kontakt zur literarischen Szene. Dabei kam ihm ein großer Glücksfall zu Hilfe: Nagai Michio lebte in derselben Pension wie Keene, die beiden wurden enge Freunde. Nagai vermittelte Keene an Shimanaka Hōji, den Herausgeber beim Verlag Chūō kōronsha (S. 94).

Portrait in Schwarzweiß.

15. Nagai Michio hatte in den Vereinigten Staaten studiert. Viele Jahre später, 1974, wurde er Bildungsminister.

1955 kehrte Keene an die Columbia University zurück und lehrte dort zunächst als Assistenzprofessor, dann als Professor. Von da ab lebte er ein Leben zwischen den Kulturen: Jedes Jahr kehrte er zumindest für einen Monat nach Japan zurück, meist verbrachte er die vorlesungsfreien Sommermonate in Kyōto.

Hatten zu Keenes Studienzeit gerade einmal zehn bis zwölf ausländische Studenten in Kyōto gelebt (S. 85), profitierte Keene von dem Ansehen, das die japanische Kultur plötzlich weltweit genoss (S. 99): In den 1950ern waren japanische Filme, Zen und Kampfsportarten weltweit angesagt. Dies hatte zur Folge, dass Übersetzungen japanischer Literatur angefragt wurden. 1957 fand der Internationale Kongress des PEN Clubs in Japan statt, und Keene reiste als Vertreter nach Tōkyō und Kyōto (S.103).

Portrait in Schwarzweiß.
Portrait im Kimono vor einem niedrigen Schreibtisch auf einer Veranda.

16.-17. Keene fühlte sich am wohlsten mit bunjin, „Literaten“, „Hommes des lettres“, von denen viele zu seinen Freunden zählten,

wie der Literaturwissenschaftler Yoshida Ken’ichi (1912-1977), Spezialist und Übersetzer englischer Literatur,

und Kawakami Tetsutarō (1902-1980), Übersetzer von Paul Valéry und André Gide.

Eintauchen in die Literatur

Es gibt zwei Gemälde von Yamaguchi Akira in dem Buch, die Donald Keene mit einem menschengroßen, senkrecht stehenden Buch mit dem Titel „The Tale of Genji“ zeigen, den Buchdeckel als Tür.

Auf dem ersten Gemälde (S. 25) öffnet Keene als junger Mann diese Buch-Tür und entdeckt dahinter einen japanischen Garten im Stil der Heian-Zeit, goldene Wolken fließen aus dem Buch heraus.

Auf dem zweiten Gemälde (S. 120) steht die Tür offen, die Landschaft ist aus dem Buch heraus gewachsen und innen in dem Buch-Raum stehen Donald Keene und Arthur Waley miteinander in ein Gespräch vertieft.

Die beiden Gemälde sind ungemein treffend, Keene lebte in und mit der Literatur. Er analysierte literarische Werke und verfasste mit seinen Übersetzungen selbst poetische Texte. Mit Hilfe seines enormen Hintergrundwissens bettete er seine Abhandlungen über Literaten und andere Persönlichkeiten immer in die wichtigen philosophischen Strömungen der Zeit.

Seine Expertise führte ihn mit Vertretern der japanischen Literaturszene zusammen. Von Anfang an wurde ihm Interesse seitens der japanischen Literaturkritik entgegengebracht, englische Artikel, die er veröffentlicht hatte, ins Japanische übersetzt. Er war zu der Zeit einer der wenigen Spezialisten aus dem Ausland, deren Sicht auf die japanische Literatur in Japan anerkannt war.

Teil des bundan, der literarischen Szene Japans

Keene gehörte bald zu der überschaubaren Gruppe an Insidern des japanischen Literatur-Betriebs. Er tauchte ein in die literarische Welt, den so genannten bundan, einem in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg von Männern dominierten Kreis – die vierseitige Personenliste im Anhang enthält gerade mal die Namen einer Handvoll Frauen – Autoren, Kritiker und Verleger ohne eine klare Grenze zwischen Arbeit und Freundschaft.

Er genoss die Runden mit reichlich Essen und viel Alkohol, gemeinsamen Projekten, Weichenstellungen für Veröffentlichungen und Literaturpreise, Streitereien und Konkurrenzen, Klatsch und Neid. Keene deutet dies alles an, breitet aber keine Skandale aus (S. 128-129).

Portrait in Schwarzweiß.

18. Mishima Yukio

Keene widmet längere Abschnitte den beiden Autoren Mishima und Kawabata, und selbstverständlich äußert er sich zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1968, der an Kawabata, nicht an Mishima ging.

Portrait im Kimono.

19. Kawabata Yasunari

Schwarzweiß-Portrait als junger Mann.

20. Abe Kōbō, ein enger Freund von Donald Keene.

Empfehlenswert aus mehreren Gründen –

– Ein Stück Wissenschaftsgeschichte

Die Autobiografie ist ein interessanter Mosaikstein bei der Beschäftigung mit der Geschichte der Japanologie. Zu Keenes Zeit gab es mehrere Entwicklungen: Zum einen spezialisierten sich die so genannten Ostasienwissenschaften zu Wissenschaften einzelner Regionen.

Zum anderen war Keene geprägt von Lehrern in einer Zeit, als die Erkundung eines asiatischen Landes noch vor allem darin bestand, die Alte Geschichte, Literatur oder Kunst des Landes zu entdecken. An eine andere Schwerpunktsetzung, zum Beispiel zum Zeitgeschehen aus sozial- oder politikwissenschaftlicher Perspektive, war noch nicht zu denken.

Der Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit der fremden Literatur war meist eine Ausbildung im eigenen klassischen Literaturkanon, als Maßstab galten lateinische und griechische Originaltexte und Erzähltheorien.

Insofern repräsentiert Donald Keene gelebte Literaturgeschichte, faszinierend sind die Beschreibungen der Begegnungen, Episoden und den kleinen Details am Rande, zum Beispiel die Freude über einen Privatdruck von Tanizakis „Sasameyuki“ („Die Schwestern Makioka“), einem Roman, den Tanizaki Jun’ichirō während des Zweiten Weltkriegs verfasste und dessen Veröffentlichung nach der Popularität der ersten Folgen von staatlicher Seite verboten wurde (S. 84).

– Der Beweis: Kultur ist erlernbar

Damals war die Vorstellung noch weit verbreitet, die Feinheiten der japanischen Kultur seien für Außenstehende kaum oder gar nicht verständlich. Während Keene von Japanern, die ihn nicht kannten, dafür gelobt wurde, einen einfachen Familiennamen auf einer Visitenkarte lesen zu können, diskutierte er mit japanischen Freunden schwierige Formulierungen klassischer japanischer Textpassagen (S. 96). Er kannte die Kultur und Literatur des Landes bis ins Detail, vor allem die Widersprüchlichkeiten, die auftreten, soll man verallgemeinerte Aussagen über das „typisch Japanische“ treffen (S. 156).

Er übertrug literarische Texte aus verschiedenen Jahrhunderten ins Englische und trug damit entscheidend zur Bekanntheit japanischer Literatur im englischsprachigen Raum bei (S. 96, 103).

– Ein stilistischer Genuss

Keenes Formulierungen sind auch nach Jahrzehnten noch erfrischend, und diese Autobiografie macht deutlich, welch harte Arbeit hinter seinen Veröffentlichungen steht. Er erwähnt, wie viel Zeit er in sie investierte, wie viel Akribie er in die Übersetzungen steckte und wie viel Unterstützung er durch Lehrer und befreundete Muttersprachler erhielt: In den heißen Sommermonaten in Kyōto bastelte er an den Übersetzungen, und trotz tatkräftiger Unterstützung durch japanische Kollegen kam er manchmal nur wenige Zeilen an einem Nachmittag voran (S. 110-112).

Gemälde des Shōgun in standesgemäßer Kleidung und Ausstattung

21.-22. Keene beschäftigte sich ausführlich mit dem 8. Shōgun der Muromachi-Zeit, Ashikaga Yoshimasa, und dem Maler und unabhängigen Denker Watanabe Kazan (1793-1841).

Portrait-Gemälde des Gelehrten.

Ob er über sein eigenes Leben schrieb, über Denker der Edo-Zeit oder über den Shōgun Yoshimasa und den Silberpavillon – sein Vorhaben, Kultur- bzw. Literaturgeschichte so persönlich wie möglich zu gestalten und lebendige Biografien zu schaffen, hat er umgesetzt (S. 130, 154). Zum Maßstab nahm er immer seine eigenen, oft sehr persönlichen Reaktionen auf die Werke.

Es sind die kleinen Beobachtungen, die in dieser Autobiographie sein eigenes Leben im 20. Jahrhundert verankern, wie die Frage, ob sein japanischer Freund als „weiß“ gelte und im Süden der USA im entsprechenden Zugwaggon sitzen dürfe (S. 28) oder dem Metallschild an den französischen Zugfenstern, die „vivement mais sans brutalité“ („heftig aber ohne Brutalität“) zu öffnen seien (S. 9).

Folglich lautete der Titel der Originalausgabe von 2007 „Watashi to 20seiki no kuronikaru“ („Eine Chronik von mir und dem 20. Jahrhundert“, erschienen bei Chūō kōron shinsha). Seit 2011 wird die japanische Ausgabe unter „Donald Keene jiden“ („Autobiografie von Donald Keene“) verkauft.

Optimismus und Dankbarkeit

Kurz vor Fertigstellung seiner Dissertation wurden Keene im Zug bei Mailand seine Reiseschreibmaschine und sein komplettes Manuskript gestohlen (S. 68). Kommilitonen behaupteten später, die zweite Version sei viel besser geworden, also müsse er dem Dieb dankbar sein – eine Darstellung, wie sie typisch ist für diesen Band. Immer wieder betont Keene, dass er das große Glück hatte, so viele Jahrzehnte aktiv sein zu können. In dieser Zeit erhielt er höchste Preise und Auszeichnungen.

Vernetzt mit vielen bekannten Intellektuellen und Künstlern seiner Zeit, enthält sein Buch auch kritische Einschätzungen über Zeitgenossen. Aber alles in allem ist der Band eine große Liebeserklärung an die japanische Kultur und an seine japanischen Freunde.

Japan wurde sein Lebensmittelpunkt, was er auch nach außen hin sichtbar machte, indem er die japanische Staatsbürgerschaft annahm und seinen Lebensabend in Japan verbrachte. Würde er seine Japanisch-Kenntnisse durch einen Unfall verlieren, würde nicht viel von ihm bleiben: „Japanese, which at first had no connection with my ancestors, my literary tastes, or my awareness of myself as a person, has become the central element of my life.“ (S. 10).

Ihm zu Ehren wurde 1986 das Donald Keene Center of Japanese Culture an der Columbia University gegründet.

Das Zentrum widmet sich durch Forschung, Lehre und Öffentlichkeitsarbeit der Förderung des Verständnisses von Japan und seiner Kultur in den Vereinigten Staaten.

 

Susanne Phillipps

 22.09.2021 (Ausgabe 04)

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Bildnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Buch-Arrangement Keene: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: Von Aurelio Asiain from Hirakata-shi, Osaka, Japan – Flickr photo Donald Keene at his Tokyo home, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3346276

02: Von Yumione Skybedz – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=87389084

03: By French Government – Scan of original, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11365378

04: By Gwillhickers / Ecuador, stamp artist unknown – Ecuador Post Office / Gwillhickers: hi-res scan of Ecuador Postage stamp from private collection., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11050274

05: Von King of Hearts – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=52902810

06: Von Doris Ulmann – https://nl.pinterest.com/pin/431571576766271270/, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61234289

07: Von unbekannt – Archiv der Varnhagen Gesellschaft e. V., PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=11492903

08: Von Tosa Mitsuoki (1617 – 1691) – Ishiyama-dera Temple, in Ōtsu in Japan's Shiga Prefecture, [1], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=95669915

09: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=404569

10: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8474537

11: Von US Navy – http://www.navsource.org/archives/09/22/092210408.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=55756167

12: By USAAF Photographer – https://www.theatlantic.com/photo/2011/10/world-war-ii-the-fall-of-imperial-japan/100175/, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=77198460

13: Von Autor unbekannt – Japanese magazine "THE FHOTO, 15 May 1961 issue" published by Jiji Gaho Sha., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=23393505

14: Von Rachel (Ray) Strachey (1887–1940) – http://www.npg.org.uk/collections/search/portrait/mw36727, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=49842789

15: By 文部科学省- https://www.mext.go.jp/joho-hiroba/virtual/daijin/pages/m/p_095.html, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=85498558

16: By AleksandrGertsen – Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32947760

17: By Unknown author – Japanese book "Showa Literature Series: Vol.13 (May 1953 issue)" published by Kadokawa Shoten., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61940474

18: Von Shirou Aoyama – http://www.bungakukan.or.jp/, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1629978

19: Von UPI – https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kawabata_Yasunari_1968.jpghttp://www.ebay.com/itm/LG17-1968-Wire-Photo-YASUNARI-KAWABATA-Nobel-Prize-Literature-Japanese-Treasure-/362016338191?hash=item5449daf10f:g:pvkAAOSwnK9ZQHfs, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=62196090

20: Von Autor unbekannt – Japanese magazine "The Mainichi Graphic, 1 September 1954 issue" published by The Mainichi Newspapers Co.,Ltd., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35507929

21: By Attributed to Tosa Mitsunobu – [1], Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4100214

22: Von 椿椿山- 田原町博物館所蔵品。, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3473788