Gesundheitsvorsorge vor 300 Jahren – Medizinische Ratschläge aus konfuzianischer Weltsicht

Buch mit verschiedenen Gemüsesorten, darunter Karotten und grüne Bohnen

Kaibara Ekiken (1713): Regeln zur Lebenspflege (Yōjōkun). Aus dem Japanischen übersetzt und mit einer Einführung versehen von Andreas Niehaus und Julian Braun. München: Iudicium, 2010; broschiert; 254 Seiten.

Mit der Ausbreitung gedruckter Lesehefte während der Edo-Zeit (1600-1868) kamen neben der Literatur für jeden Geschmack auch immer mehr Ratgeber auf den Markt. Heute sind diese Hefte äußerst wertvoll, da sie Rückschlüsse auf den Alltag, die Gedankenwelt, Ängste und Grundannahmen der damaligen Bevölkerung zeigen (siehe auch die Empfehlung zu Hausbüchern der Edo-Zeit).

Das „Yōjōkun“ ist eine Schrift zur Lebenspflege, das heißt zur guten Lebensführung mit dem Ziel, Krankheiten bis ins hohe Alter hinein zu vermeiden. Es enthält lebenspraktische Regeln, Hinweise für Ernährung und Hygiene bis hin zum rechten Verhalten in der Gesellschaft. 

Der Ratgeber ist „zu verstehen als Beitrag zu einer Philosophie der Lebenspraxis, die in der menschlichen Selbstkultivierung und Gesundheitspflege eine Einheit von körperlicher Praxis und (neo)konfuzianischer Ethik anstrebt“ (S. 9).

Über das Buch

Das Buch enthält

  • ein Vorwort (2 Seiten);
  • eine Einleitung der beiden Übersetzer (15 Seiten);
  • die Übersetzung des Werkes „Yōjōkun“ von Kaibara Ekiken (von 1713) in acht Kapiteln und einem Nachwort;
  • den Anhang.

Es handelt sich um die erste vollständige Übersetzung des „Yōjōkun“ ins Deutsche. Im Vorwort geben die Übersetzer den japanischen Basistext für die Übersetzung sowie die weiteren Texte an, die zu Vergleichszwecken herangezogen wurden. 

Der Anhang umfasst die Anmerkungen (29 eng gedruckte Seiten), die Bibliografie (6 Seiten), ein allgemeines Register (10 Seiten) und ein Register chinesischer Begriffe (4 Seiten).

Jedem Kapitel ist die Eröffnungsseite des japanischen Originals von 1713 als Faksimile vorangestellt.

Blick von unten hinauf zu der Figur eines Mannes, der vor einem niedrigen Schreibpult kniet.

01. Bronzestatue von Kaibara Ekiken (1630-1714) in Fukuoka.

Zu den beiden Übersetzern

Andreas Niehaus ist Professor am Department of Languages and Cultures der Universität von Gent, Belgien. Sein Forschungsinteresse kreist um Körperkulturen, geheime Körpertechniken und historische Körpervorstellungen. Er veröffentlichte unter anderem Sportlerbiografien, Beiträge zu Olympia und zum Kampfsport Jūdō. Er ist Mitbegründer der Forschungsgruppe “BOCULT – Centre for Research on Body Cultures in Motion”.

Julian Braun beschäftigt sich mit der Philosophie der Kampf- bzw. Kriegskunst. Seine Dissertation trägt den Titel „Der ‚gemeinsame Weg von Schwert und Pinsel‘ – Philosophie und Ethik japanischer Kriegskunst der Tokugawa-Zeit (1603-1868)“. Er hat unter anderem ein Kompendium von klassischen Texten der Tokugawa-Zeit (d.h. Edo-Zeit) veröffentlicht.

Über den Autor

Der Universalgelehrte Kaibara Ekiken oder Ekken (1630-1714) war einer der bedeutendsten neokonfuzianischen Denker der Edo-Zeit. Er veröffentlichte Schriften auf den unterschiedlichsten Gebieten, und zwar nicht nur für ein gelehrtes, sondern auch für ein breites, allgemeines Lesepublikum.

In die Familie eines niedrigen, finanziell nicht gut gestellten Samurai geboren, wurde Ekiken zunächst von seinem Vater und seinem älteren Bruder neben den klassischen Schriften auch in Medizin unterrichtet. Mit 19 Jahren reiste er nach Nagasaki, dem überseeischen Handelshafen, über den sowohl Schriften zur europäischen Medizin wie zu chinesischer Heilkunde und Philosophie nach Japan kamen (S. 11).

Nach einer kurzen Anstellung lebte er sieben Jahre als Rōnin, als Samurai ohne Anstellung und damit ohne feste Bezüge. Er arbeitete kurz als Arzt in Edo und kehrte dann in seine Heimat Fukuoka zurück. Dort wurde er von der Adelsfamilie Kuroda in Dienst genommen und zum umfassenden Studium für sieben Jahre nach Kyōto gesandt. Anschließend diente er der Familie als Beamter, Ratgeber, Lehrer und Wissenschaftler (S. 12).

Links ein aufgeschlagenes Heft, rechts daneben ein Stapel Hefte.

02. Ekiken war ein Spezialist für Heilpflanzen. Er kategorisierte als erster Naturkundler 358 in Japan endemische Pflanzen (S. 15). Hier sein botanisches Werk „Yamato honsō“ („Japanische Heilpflanzen“) von 1709.

Blick auf einen Teich mit Sträuchern, im Hintergrund das Gebäude mit einer rot-weißen Fassade.

03. Zu dieser Zeit hatten die Fürsten eigene Gärten für Heilpflanzen. Der heutige Botanische Garten der Universität Tōkyō war beispielsweise der Arzneipflanzengarten der Familie Tokugawa. Hier der Blick im unteren Teil des am Hang angelegten Gartens auf die frühere Medizinschule.

Das „Yōjōkun“ zählt zu Ekikens pädagogischen Schriften. Im Sinne der Volkserziehung arbeitete er darauf hin, die neokonfuzianische Ethik im Alltag der Bevölkerung bekannt zu machen (S. 9).

Die damalige Ärzteschaft in Japan

Seit dem 6. Jahrhundert verbreitete sich das Wissen chinesischer Heilkünste in Japan. In der Folge griffen japanische Mediziner das Wissen auf und entwickelten die Methoden weiter. So entstand die als kanpō bezeichnete Medizin („traditionelle“, also einheimische und chinesische Medizin, wörtlich: „chinesisches Verfahren“, „chinesische Methodik“). Der Begriff stammt allerdings erst aus dem späteren 19. Jahrhundert, um die chinesischen gegen die europäischen, insbesondere die aus Deutschland eingeführten Methoden abzugrenzen.

Knieender Mann in prächtigem Gewand.

04. Tashiro Sanki (1465-1537)

Sitzender Mann in schwarzem Kimono.

05. Manase Dōsan (1507-1594) im Alter von 70 Jahren

Portrait eines Mannes mit langem Bart.

06. Nagata Tokuhon (1513-1630)

04.-06. Die drei gelten als die „Drei verehrungswürdigen Ärzte“ (sansei) des 16. Jahrhunderts: Sie bildeten Schüler aus und gaben der Medizin in Japan Impulse, die in späteren Jahrhunderten aufgegriffen wurden.

Während der Edo-Zeit ließen sich unter den Ärzten zwei Hauptströmungen unterscheiden: einerseits diejenigen, die in ihrer Praxis auf ältere chinesische Klassiker zurückgriffen, und andererseits diejenigen, die sich auf jüngere chinesische Konzepte stützten. Ekiken vertrat die Richtung der älteren Klassiker, Krankheiten sah er als Mangel an Yang-Komponenten, als eine Stagnation der Vitalkraft (S. 13-14).

Ekikens Auffassung zu Ärzten

Ein Arzt sollte nach Ekiken aus einer inneren Berufung heraus praktizieren: „Medizin ist die Kunst der Mitmenschlichkeit (jin).“ (VI 30, S. 145). Er kritisiert Vertreter der Ärzteschaft, die ihren Beruf aus rein finanziellem Interesse auszuüben schienen (VI 29-58, S. 145-159).

Nach Ekikens Vorstellung müssen Ärzte die chinesischen klassischen Texte beherrschen, denn für ihn sind Konfuzianismus und Medizin direkt miteinander verbunden.

Ein weiterer wichtiger Punkt besteht in der profunden Kenntnis des „Buches der Wandlungen“, ein Hinweis darauf, wie sehr Ekiken in seinem Denken vom Daoismus beeinflusst war (S. 16).

07. Kaibara Ekiken, Portrait von etwa 1700. Manchmal tritt er aus dem Text hervor: „Ich halte mich selbst seit langer Zeit daran [d.h. an die Verfahren zur Pflege von Zähnen und Augen] und sehe den Erfolg, da ich im Alter von 83 Jahren noch immer selbst kleine Schriftzeichen lesen und schreiben kann und noch keinen einzigen Zahn verloren habe.“ (V 25, S. 126)

Gemälde eines Mannes, der vor seinem niedrigen Schreibpult kniet.

Ausgangspunkt: Das ki im Gleichgewicht

Im Zentrum des Denkens von Ekiken steht der Begriff des ki (chinesisch „Qi“), der Energieströme bezeichnet, die jede Existenz durchdringen. Jedem Menschen ist von Geburt an eine gewisse ursprüngliche Vitalkraft (genki) mitgegeben.

Diese Lebenskraft ist dynamisch und sollte stets im Gleichgewicht bleiben. Sie folgt einerseits einem Kreislauf (Wandlungsphasen der 5 Jahreszeiten [es gibt zusätzlich zu unseren vier einen Spätsommer], 5 Elemente, 5 Organe) und besteht andererseits aus einem Ausgleich von Gegensätzen, entsprechend Yin und Yang.

Ist dieses Gleichgewicht gestört, sollte die Ursache der Störungen erkannt und behoben werden.

Krankheiten vorbeugen

Ein Mensch wird krank, wenn das ki ins Stocken gerät oder wenn es an ki mangelt. Es geht also darum, Störungen im Fluss des ki zu vermeiden, es in seinem ausgeglichenen Zustand zu wahren bzw. – im Falle einer Krankheit – sein ursprüngliches Gleichgewicht wieder herzustellen.

Das zentrale Körperorgan ist das Herz, das stets befriedet und in Harmonie gehalten werden soll. Das Ziel besteht in einer Harmonisierung der Strömungen und Wandlungen im Organismus.

Dies zielt nicht (wie in der Vorstellung der Daoisten) auf eine Verlängerung des Lebens, sondern immer geht es darum, die jedem Menschen individuell zugestandene Lebenskraft voll auszuschöpfen (VII 8, S. 164 und S. 207, FN 13).

Für die Störungen sind zwei Hauptursachen auszumachen (I 4, S. 28):

1. äußere Übel (gaija): Wind, Kälte, Hitze, Feuchtigkeit

„Wenn jemand durch diese erkrankt und stirbt, dann geschieht dies auf ‚Weisung des Himmels‘ (tenmei).“ (I 11, S. 32) – Dies ist also kaum beeinflussbares Schicksal.

2. innere Begierden (naiyoku): die Gefahr, dass man inneren Begierden freien Lauf lässt

„Sich nicht gegen die inneren Begierden zu behaupten, ist Maßlosigkeit. Faulheit und Maßlosigkeit entstehen aus einem Mengel an Beherrschung.“ (I 11, S. 33)

Für beide Fälle gibt das „Yōjōkun“ viele konkrete Hinweise zur Umsetzung im Alltag.

Die „Regeln zur Lebenspflege“

Das „Yōjōkun“ besteht aus acht Kapiteln und einem kurzen Nachwort.

  1. Grundlagen (erster Teil): 40 Abschnitte, 21 Seiten
  2. Grundlagen (zweiter Teil): 68 Abschnitte, 22 Seiten
  3. Essen und Trinken (erster Teil): 74 Abschnitte, 21 Seiten
  4. Essen und Trinken (zweiter Teil): 69 Abschnitte, 23 Seiten
  5. Die fünf Sinne: 52 Abschnitte, 16 Seiten
  6. Krankheiten vorbeugen: 58 Abschnitte, 23 Seiten
  7. Arzneien: 59 Abschnitte, 24 Seiten
  8. Richtiges Altern: 54 Abschnitte, 18 Seiten

Bei den Hinweisen handelt es sich um erlernbare Techniken wie Bewegungsübungen, Regeln zum Essen und Trinken (Diätetik) und die Anwendung von (Eigen)Massage- und Drucktechniken. Alle zielen darauf ab, im Alltag ki-schädigendes Verhalten zu vermeiden: Stets ist darauf zu achten, dass Überfluss abgeleitet und Mangel aufgefüllt wird.

Aufgeschlagenes Leseheft mit chinesischen Schriftzeichen.

08. Eine Ausgabe des „Yōjōkun“.

Im Zentrum: Zügelung beim Essen, beim Trinken und bei der Sexualität

Die inneren Begierden sind Essen und Trinken, Wollust, Trägheit, Schwatzhaftigkeit sowie die sieben Emotionen Freude, Zorn, Kummer, Grübeln, Trauer, Furcht und Schreckhaftigkeit (I 4, S. 28). Sie zu beherrschen zielt auf eine Harmonisierung der Vitalkraft.

Grundsätzlich geht es darum, nicht zu viel und nichts Falsches zu essen und zu trinken, die sexuellen Begierden zu zügeln, sich regelmäßig zu bewegen, nicht zu lange zu schlafen oder untätig herumzusitzen (I 5, S. 29).

In allem geht es um das rechte Maß. Denn auch ein Zuviel des Guten ist nicht gut für die Vitalkraft: „Dies ist wie bei einer Pflanze, welche durch zu viel Wasser und Dünger eingeht.“ (I 8, S. 31)

Skizze eines knienden Mannes, der trinkt. An der Stelle seines Bauches werden die Funktionen der Organe erklärt.

09. Regeln für gute Ess- und Trinkgewohnheiten („Inshoku yōjō kagami“), Utagawa Yoshitsuna, Mitte des 19. Jahrhunderts.

Skizzen einer knienden Frau, die raucht. An der Stelle seines Bauches werden die Funktionen der Organe erklärt.

10. Regeln für ein gutes sexuelles Leben („Bōji yōjō kagami“), Utagawa Yoshitsuna, Mitte des 19. Jahrhunderts.

Ekiken gibt Ratschläge zu Reis-, Gemüse-, Fleisch- und Fischkonsum, zur Zubereitung und zum Zeitpunkt der Mahlzeiten. Wichtig ist, sauberes Wasser zu benutzen (IV 57, S. 111). Er warnt vor Lebensmitteln, die nicht mehr frisch sind, und Gemüse, dass durch Dünger auf den Feldern verunreinigt ist (IV 43, S. 106). Er erstellt Listen von Lebensmitteln, die für Kranke und ältere Menschen nicht geeignet sind (IV 36-38, S. 102-103). Süßigkeiten (III 52, S. 88) und Tabak (IV 60, S. 112) sind für alle schädlich.

Hat man Ärger oder Sorgen, sollte man nichts zu sich nehmen (IV 28, S. 101).

Beim Essen und Trinken sollte man grundsätzlich nur die Hälfte dessen zu sich nehmen, was man vertragen könnte (I 8, S. 31); an anderer Stelle: bis der Magen zu acht oder neun Teilen gefüllt ist (III 8, S. 75); oder: den siebten oder achten Teil dessen, was man für angemessen erachtet (III 16, S. 77-78). Immer wieder weist Ekiken darauf hin, dass dies auch einen finanziellen Aspekt hat, da diese Einstellung beim Sparen hilft.

Generell gilt, dass sich (auch junge) Männer in ihrem sexuellen Verlangen zügeln sollen, um die Vitalkraft der Nieren nicht in Unruhe zu bringen (IV 63, S. 114). Außerdem gibt es Zeitpunkte, zu denen ein Beischlaf untersagt ist, wie Sonnen- oder Mondfinsternis und andere (IV 67, S. 115, ausführliche Erläuterung: S. 222, FN 159)

Man soll sich stets vor den Begierden fürchten „wie man sich fürchtet, eine dünne Eisfläche zu betreten“ (I 1, S. 27): „‚Furcht‘ ist das Mittel des Herzens, den Körper zu schützen.“ (I 12, S. 33). Man soll Acht geben, nicht eigensinnig, sondern ehrerbietig gegenüber dem Weg des Himmels sein.

Im Falle einer Erkrankung

Holzfarbendruck einer Frau, die sich nach vorn lehnt und vier Moxa-Brennstellen am Rücken aufweist.

11. Moxa-Therapie: Verbrennen von getrocknetem Beifuß (Moxa) an bestimmten Stellen des Körpers; von Tsukioka Yoshitoshi (1839-1892)

Werden diese Regeln nicht eingehalten, wird der Körper geschädigt und über kurz oder lang erkranken. Obwohl er Arzt ist, vertritt Ekiken die Meinung, dass erst dann Methoden der chinesischen Medizin zum Einsatz kommen sollten: Arzneimitteltherapie, Akupunktur und Moxibustion (Erhitzen der Akupunkturpunke). Besonders zu den Arzneien gibt er genaue Anweisungen für die Zubereitung bzw. Dosierung und den Einsatz der Mittel (Kapitel VII).

Er sieht in diesen Methoden allerdings einen schweren Eingriff in den Körper: Für ihn sind die Anwendungen gleichzusetzen mit der Vorstellung, dass ein Staat mit Gewalt regiert wird und ein Aufstand unzufriedener Untertanen durch den Einsatz von Truppen niedergeschlagen wird (I 16, S. 35).

Zeichnung eines stehenden Mannes mit der Beschriftung der Akupunkturpunkte.

12. Diagramm von Akupunktur-Punkten

Alt werden

Nach Ekiken kann ein Körper hundert Jahre alt werden: „Ein sehr langes Leben währt hundert Jahre, ein mittleres Leben zählt achtzig Jahre, ein kurzes Leben dauert sechzig Jahre.“ (I 18, S. 35)

Bis im Alter von fünfzig Jahren sind nach Ekiken Blut und Vitalkraft noch nicht gefestigt, die Weisheit noch nicht voll entwickelt: „Er [der Mensch unter fünfzig Jahren] irrt oft in dem, was er sagt, und häufig bereut er seine Taten.“ (I 19, S. 36). Erreicht man ein hohes Alter, hat man dagegen viele Vorteile. Zum Beispiel kann man Dinge lernen, die man vorher nicht verstanden hat: „Daher ist es ohne ein langes Leben schwer, im Studium voranzuschreiten und sein Wissen zu erweitern.“ (I 19, S. 36)

Zeichnung der Bestandteile einer Ginseng-Pflanze.

13. Ginseng galt als eine der wichtigsten Arzneien (S. 209, FN 14). Darstellung aus „Lettres édifiantes et curieuses, écrites des missions étrangers“ (1717)

14. Apotheke für Traditionelle Chinesische Medizin, die auf Ginseng-Produkte spezialisiert ist

Straßenfront einer chinesischen Apotheke mit Blick auf Theke und Regale im Inneren.

Die große, umfassende kosmische Ordnung

Die Vorstellungen beruhen auf dem Paradigma, dass die Phänomene der sichtbaren und der unsichtbaren Umwelt in gegenseitiger Abhängigkeit stehen. Der gesamte Kosmos ist über die Jahreszeiten und Elemente mit den individuellen Organismen verknüpft.

Dabei ist der Mikrokosmos ein Abbild des Makrokosmos, die ausgewogenen Strömungen und Wandlungen im Organismus entsprechen einer harmonischen Einhaltung der sozialen Ordnung.

Dies bedeutet: Niemand besitzt seinen Körper allein, das menschliche Handeln soll der konfuzianischen Ethik entsprechen. Da man das Leben vom Himmel zugestanden und von den Eltern erhalten hat, ist die Pflege der ursprünglichen Vitalkraft keine Privatangelegenheit, sondern eine moralische Verpflichtung.

Aufgrund der Verpflichtung gegenüber dem Himmel einerseits, Vater und Mutter andererseits soll man sich so verhalten, dass die Lebensspanne, die einem vom Himmel zuteilt wurde, nicht verkürzt wird: „Auch nur ein wenig Haut oder ein einziges Haar seines Körpers willkürlich zu beschädigen, hieße, seiner Pflicht gegenüber Vater und Mutter nicht nachzukommen.“ (I 1, S. 27)

Sprache: Bilder, Vergleiche, Metaphern

Die beiden Übersetzer sehen die männliche Stadtbevölkerung, besonders die Hausvorstände der Kriegerklasse, als Zielgruppe dieser Schrift: Samurai, die Zeit, Mittel und Muße hatten, sich dieses Wissen anzueignen und zu praktizieren (S. 206, FN 2).

Ekiken hat in „Yōjōkun“ den Wissenstand aus dem Chinesischen in ein japanisches Leseheft übertragen und dafür eine Kombination aus Hiragana und einfachen chinesischen Schriftzeichen benutzt. Er wandte zahlreiche stilistische Techniken an, um die Sachverhalte anschaulicher zu machen.

Durchgehend vergleicht er die Kunst der Gesundheitspflege mit der Kunst der Kriegsführung. So sei ein Mensch, der sich nicht um seine Vitalkraft kümmert, wie ein Feldherr, der trotz seines Mutes den Gegner nicht zu besiegen vermöge, da er keine Weisheit besitze und die militärischen Wege nicht kenne (I 20, S. 37). Nach einem zu üppigen Mahl ein Mittel zur Verdauung einzunehmen, vergleicht er mit dem Eindringen fremder Krieger in das eigene Territorium: „den eigenen Bauch zum Ort des Kampfes zu machen“ (III 17, S. 78).

Lebenspflege zu praktizieren sei dagegen wie einen Staat mit Tugend zu regieren: Dann ist das Volk von selbst folgsam und es gibt keine Unruhen (I 16, S. 34-35).

Um der Wichtigkeit einer Aussage Nachdruck zu verleihen, führt er bildmächtige Vergleiche an. So sei der Schaden groß, wenn man einem Verlangen nur ein bisschen nachgebe: „Es ist dabei wie mit der Glut in der Größe eines Glühwürmchens, die sich ausbreitet und ein ganzes Haus niederbrennt.“ (I 30, S. 43)

Um seine Botschaften einprägsam zu formulieren, nutzt er Parallelkonstruktionen:

„Seinen Begierden zu widerstehen, ist der Grund für ein langes Leben; seinen Begierden freien Lauf zu lassen, ist der Grund für ein kurzes Leben.“ (II 10, S. 52)

Das Buch ist lesenswert, denn …

… es ist wunderbar übersetzt.

Die gut verständliche, fein formulierte Übersetzung vermittelt einen lebhaften Eindruck vom Stil damaliger Schriften: Abschnitte mit Ideen, die immer wieder um dasselbe Thema kreisen, die aus verschiedenen Blickwinkeln aufgegriffen, in immer neue Bilder gekleidet oder mit wechselnden Beispielen veranschaulicht werden.

Die steten Wiederholungen sollen wohl dazu dienen, alle gesellschaftlichen Gruppen zu adressieren, alle Zweifler einzufangen, alle Lebensbereiche zu beschreiben, alle Vorzüge zu skizzieren, allen Einwänden entgegenzutreten.

Ekiken war zur Zeit der Niederschrift ein 83jähriger, erfahrener Mann, der all seine praktischen Beobachtungen und seine unzähligen Lektüren chinesischer Klassiker als Zitate in die Schrift einfließen ließ. Im Nachwort beschreibt er seine Arbeitsweise, und man kann sich seine überbordenden Zettelkästen bildhaft vorstellen: „Früher, als ich noch jung war, habe ich die Erläuterungen zur Lebenspflege, die ich in zahlreichen alten Schriften fand, gesammelt, diese mit meinen Schülern gründlich systematisiert und zusammengefasst …“ (S. 205).

… es vermittelt ein breites Wissen zu den chinesischen Quellen.

Aus diesem Grund ist das Buch medizinhistorisch wertvoll. Die Wissenschaftssprache in Japan war damals Chinesisch; das Wissen der Zeit basierte auf chinesischen Abhandlungen (die zu den ältesten Werken der Medizingeschichte gehören) und auf von japanischen Gelehrten chinesisch formulierten Texten.

In dem bemerkenswert fundierten Anmerkungsapparat werden die vielen Zitate von Ekiken aufgenommen, auf die Originaltexte zurückgeführt und zum Teil ausführlich erläutert.

… es verleiht einen anderen Einblick in die vielfältige Vorstellungswelt der Edo-Zeit.

Das Buch fordert förmlich dazu heraus, es sich vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit vorzustellen. Anfang des 18. Jahrhunderts waren viele Samurai-Familien verarmt und die Gesellschaftsschicht der Handwerker und Kaufleute in den Städten immer machtvoller geworden. Diese hatten inzwischen ihr eigenes Lebenskonzept entworfen: das der „fließend vergänglichen Welt“, in der man sich amüsieren und den Augenblick genießen soll, ohne an das Morgen zu denken (ukiyo, vgl. Lesehefte des Ihara Saikaku, 1642-1693; siehe die Beiträge zum Lebensstil in der Edo-Zeit und über den Künstler Katsushika Hokusai).

Ganz im Gegensatz dazu wird hier eine Ethik der Zurückhaltung gelehrt, die sich dereinst in Gesundheit bis ins hohe Alter auszahlen würde.

Farbholzdruck eines Schauspielers in Kleidung eines fahrenden Arzneimittel-Händlers.
Farbholzdruck einer eines fahrenden Arzneimittel-Händlerin.

15.-16. Verkäufer/innen von Uirō-Arzneien: einmal als Kabuki-Darsteller, einmal als Motiv der Station Odawara auf der Überlandstraße Tōkaidō. – Seit dem 14. Jahrhundert lebte eine nach Japan ausgewanderte, chinesische Familie mit Sitz in Odawara davon, chinesische Arzneimittel nach Japan zu importieren. Besonders ein Mittel wurde bekannt, das bei Übelkeit, Magen- und Darmbeschwerden, bei Kopfschmerzen und Schwächeanfällen helfen sollte. Der Überlieferung nach bewirtete die Familie Kunden mit Konfekt, weshalb sich „Uirō“ sowohl als Bezeichnung für das Heilmittel wie auch als Name für das Konfekt etablierte. – Heute wird Uirō als Pille mit einem silbernen Überzug vertrieben. Sie enthält eine ganz bestimmte Mischung an Pflanzenextrakten (Wikipedia).

… es veranschaulicht eine Medizin auf der Basis neokonfuzianischer Ethik.

Motiviert werden die Lebensregeln durch ein Weltbild, das jeden einzelnen Menschen als Teil eines großen Ganzen sieht. Damit ist der Körper nicht als Eigentum einer Person zu sehen.

Ekiken erklärt, dass er das Nicht-Beachten der Regeln – nach seiner medizinischen Auffassung ein selbstzerstörerisches Handeln – als „Selbsttötung“ bezeichnet: „Die Menschen unserer Tage, die ihren Begierden freien Lauf lassen und so ihr Leben schädigen, setzen sich gleichsam selbst ein Schwert an die Kehle.“ (II 35, S. 59).

Vergleichbar ist dies mit der Auffassung des Körpers als Geschenk Gottes aus christlicher Sicht, die nicht nur einfordert, Verantwortung für die Gesundheit des Körpers zu übernehmen, sondern auch Verbote formuliert (z.B. Verbot des Schwangerschaftsabbruchs, Verbot der Selbsttötung).

Im weitesten Sinne handelt es sich hier um Machtfragen, die besonders deutlich zu Tage treten, wenn medizinische Hinweise mit Anweisungen zum gesellschaftlichen Verhalten kombiniert werden. So gibt es im „Yōjōkun“ viele disziplinierende Vorschriften wie: Die Menschen aller Gesellschaftsklassen sollen sich sorgfältig ihren Tätigkeiten widmen und nicht dem Müßiggang hingeben (I 26, S. 41); man soll den Eltern nach Kräften und seinem Herrn loyal dienen (I 23, S. 39); man soll auf seine Worte achten (I 29, S. 43). Besonders zahlreiche Verhaltenshinweise finden sich im Kapitel VIII zum richtigen Altern.

… es ist als Teil der Ratgeberkultur aktueller denn je.

Trotz dieser Verhaltensvorschriften scheint der Text merkwürdig aktuell, denn es geht um die Frage der Eigenverantwortung, um die grundsätzliche Überlegung, wie jede/r einzelne mit dem Körper umgehen möchte: „Mit anderen Worten liegt es an einem selbst, ob man ein langes oder kurzes Leben führen wird.“ (I 7, S. 30)

Dies ist überspitzt formuliert, denn Ekiken wusste, dass nicht alles in eigener Hand liegt. Anders formuliert könnte er sagen: „Es liegt an einem selbst, mit welcher Lebensqualität man ein Leben führen will.“

Heutzutage ist die Gefahr, der Gesundheit zu schaden, mindestens so groß wie zu Ekikens Zeiten, sei es durch eine ungesunde Ernährung, durch Überarbeitung, eine unausgewogene Lebensweise, durch Extremsportarten. Der Körper wird dabei oft als selbstverständlich funktionierende Einheit betrachtet, die im Notfall durch Spezialisten wieder repariert und in Gang gesetzt werden kann.

Doch zugleich suchen viele Menschen Eigenverantwortung für ihren Körper zu übernehmen und auf Prävention zu setzen. Einige fühlen sich durch philosophische Ideen aus Ostasien angesprochen, andere versuchen, durch Ernährung und Fitness vorzubeugen.

Und so passt dieses Buch in die Menge der heutigen Ratgeber-Literatur. Auch wenn bestimmte Ratschläge vor dem aktuellen medizinischen Wissen nicht haltbar sind, stellt das „Yōjōkun“ doch viele Hinweise bereit, die aus langer Beobachtung und Erfahrung resultieren.

In diesem Sinne möchte ich abschließend einen zeitlosen Rat weitergeben, der mir persönlich sehr aktuell erscheint: „Bei allen Angelegenheiten sollte man zunächst seine eigene Kraft ausloten. Etwas zu versuchen, das über die eigene Kraft hinausgeht, vermindert die Vitalkraft und führt zur Erkrankung. Man sollte nichts tun, was die eigenen Kräfte übersteigt.“ (II 31, S. 58)

Susanne Phillipps

21.12.2024 (Ausgabe 17)

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