Ratschläge zur Bekämpfung von Feuersbrunst und Atemnot

Das Buch eingewickelt in ein braunes Furoshiki-Tuch, so dass der Titel noch lesbar ist.

Säcke der Weisheit und Meere des Wissens. Alte japanische Hausbücher. Ein kulturgeschichtliches Lesebuch. Ausgewählt von Hartmut O. Rotermund (2010). München: iudicium; 400 Seiten.

Was dachten Menschen der Edo-Zeit (1600-1868)? Was beschäftigte, belästigte sie, erfreute sie, was bereitete ihnen Sorgen, wovor hatten sie Angst? Einen Einblick in ihren Lebensalltag geben die Hausbücher von damals: Nachschlagewerke, Kalender- und Hauswirtschaftsbücher mit Titeln wie „Sack voller überlieferter Schätze aus allen Zeiten“ (1726) oder „Gesammelte Perlen aus dem neuen Meer der Weisheiten“ (1724). 

Die Bücher bieten praktische Lösungen für jede erdenkliche Situation – Gräten und Reisklöße (Mochi), die beim Essen im Hals stecken bleiben, Mäuseplagen und Schlangenbisse, Mundgeruch und Achselschweiß – bis hin zu zum Kontakt mit dem Übernatürlichen: das Abwenden von Wind und Feuer durch Zaubersprüche, Schutz vor Geistern und Dämonen. Die Ratgeber zeigen, was die Menschen wussten und woran sie glaubten.

Der Autor Hartmut O. Rotermund

Hartmut O. Rotermund (geb. 1939) promovierte 1967 an der Universität Hamburg zum Doktor der Philosophie. Er war von 1976 bis 2005 Professor an der École Pratique des Hautes Études / Sorbonne in Paris. Wissenschaftlich beschäftigte er sich mit der japanischen Religions- und Geistesgeschichte, mit Aspekten des Volksglaubens und mit buddhistischer Predigtliteratur.

Über das Buch

Das Buch besteht aus

  • einem Vorwort (1 Seite)
  • einer ausführlichen Einleitung mit einer Kurzdarstellung der Inhalte (15 Seiten)
  • neun unterschiedlich langen Hauptkapiteln zu verschiedenen Themen (insgesamt 360 Seiten)

Haus, Hof und Garten (46 Seiten) // Haushalt, Arbeit, Handwerk (24 Seiten) // Essen und Trinken (46 Seiten) // Lesen, Schreiben, Malen (24 Seiten) // Krankheit, Schwangerschaft, Unfälle (72 Seiten) // Körperpflege (22 Seiten) // Tiere, Vögel, Insekten (50 Seiten) // Auf Reisen (36 Seiten) // Verschiedenes (40 Seiten)

 

  • einem Abkürzungsverzeichnis (2 Seiten)
  • einem Abbildungsverzeichnis (1 Seite)
  • einer Liste ausgewählter Literatur (10 Seiten).

Das Buch ist überraschend reich bebildert: Zunächst einmal wird jedes Kapitel mit einer ganzseitigen Abbildung eingeleitet. Hinzu kommen über 90 (!) in die einzelnen Kapitel eingestreute Seiten, auf denen jeweils zwei bis vier Originalseiten der Hausbücher abgebildet sind. Diese etwa 270 Abbildungen sind an den Stellen eingefügt, an denen sie zum Beschreibungstext gehören.

Anmerkung: Die Abbildungen in dieser Empfehlung hier stammen aus anderen Quellen.

Die Quellen

Das Buch bietet also äußerst umfangreiches Quellenmaterial nicht nur hinsichtlich des Textes, sondern auch der Abbildungen. Die Originale entnahm der Autor Hartmut O. Rotermund einer Sammlung, die er selbst über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatte (S. 5). Er wählte etwa zwanzig repräsentative Hausbücher aus, die aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen.

Die Titel der Bücher verraten die seit der Edo-Zeit gängige Praxis, bei erfolgreichen Publikationen (wie bei der Veröffentlichung einer Serie) im Titel immer wieder dieselben Schlagwörter zu benutzen, um an vorangegangene erfolgreiche Veröffentlichungen anzuknüpfen. Auch die Inhalte wurden abgeschrieben: Einträge wiederholen sich in verschiedenen Hausbüchern, zum Teil wörtlich kopiert oder nur leicht verändert (S. 17).

Die Zitate stammen vor allem aus folgenden Bänden (S. 11):

„Weisheitssack der zehntausend Schätze“ (Banpō chie-bukuro), 2 Bände, 1725 // „Kopfkissen geheimer Dinge für ewige Zeiten“ (Bansei hiji makura), 3 Bände, 1725 // „Über Generationen geheim tradierter Sack von Schätzen“ (Hiden sehō-bukuro), 3 Bände, 1763 // „Sack geheimer Dinge und Erfindungen“ (Hiji shian-bukuro), 3 Bände, 1729 // „Leitwagen geheimer Dinge“ (Hiji shinan-guruma), 3 Bände, 1726 // „Geheime Technik zu verschiedenen handwerklichen Tätigkeiten“ (Hyakkō hijutsu zenpen), 3 Bände, 1725 // „Kopfkissen der Weisheiten aus alter und neuer Zeit“ (Kokon chie-makura), 3 Bände, 1734 // „Große Sammlung nützlicher geheimer Dinge für den täglichen Hausgebrauch“ (Minka nichi-yō kōeki hiji taizen), 5 Bände, 1851 // „Sack von überlieferten Schätzen aller Zeiten“ (Sehō denju-bukuro), 3 Bände, 1726 // „Geheimkapitel aus dem Seidensack wundersamer Künste der Unsterblichen“ (Shinpen senjutsu kinnō hikan), 1726 // „Gesammelte Perlen an Hausschätzen zum täglichen Gebrauch“ (Shūgyoku nichi-yō denka-hō), 3 Bände, 1765 // „Gesammelte Perlen aus dem neuen Meer der Weisheiten“ (Shūgyoku shin chie no umi), 3 Bände, 1724 // „Gesammelte Perlen aus dem Meer der Weisheiten, Fortsetzung“ (Shūgyoku zoku chie no umi), 3 Bände, 1724 // „Nachtrag zum Meer der Weisheiten“ (Shūi chie no umi), 3 Bände, 1788 // „Ergänzungen zu den gesammelten Perlen aus dem Meer der Weisheiten“ (Zōho shūgyoku chie no umi), 3 Bände, 1747

Die Präsentation der Einträge

Aus den angeführten Quellen wählte Hartmut O. Rotermund über 2.000 Einträge, die er als charakteristisch und aussagekräftig betrachtete, und ordnete sie einem der neun Hauptkapitel zu. Diese sind wiederum in Unterthemen gegliedert. Das Kapitel „Auf Reisen“ beispielsweise in:

Allgemeines / Ermüdung / Flüsse durchwaten / Füße (schmerzende) / Schuhwerk / Gefahren auf Reisen / In der Herberge / Unterwegs in der Nacht / Krankheitsfall / Orientierung im Gelände / Reise zu Pferd / Reiseausrüstung / Schiffsreisen / Im Tragkorb

Ein Paar klassischer Holzsandalen auf zwei Stegen mit Schnüren zum Binden.

01. Wichtig auf Reisen: das Schuhwerk; hier Geta, traditionelle Holzsandalen. Interessant ist der Ratschlag, eine Reise langsam zu beginnen: „Wenn Menschen voller Energie ihre Reise antreten, vergessen sie oft sich auszuruhen und laufen mit einem viel zu schnellen Schritt.“ (S. 318)

Die Nummerierung der Einträge in den Kapiteln ist in Fett- und Dünndruck gestaltet:

– fett gedruckte Nummer: Der Originaleintrag ist vollständig oder teilweise übersetzt oder ausführlich zusammengefasst. Gemeinsam mit den Kommentaren kann ein solcher Eintrag durchaus über mehrere Seiten lang sein.

– schwach gedruckte Nummer: Der Originaleintrag wird nur mit dem übersetzten Titel wiedergegeben, meist handelt es sich um technisch-praktische Gebrauchsanweisungen. Rotermund führt sie auf, um einen Einblick in die Vielfalt der angeschnittenen Probleme zu geben (S. 12)

Der Übersetzung des Originaltextes fügt Rotermund in eckigen Klammern die Angabe der Quelle an. Die oben angeführten Hausbücher, die am häufigsten zitiert werden, haben einen einzelnen Buchstaben, andere Quellen haben Buchstabenkombinationen. Nach der Quellenangabe folgt gegebenenfalls ein Hinweis auf eine Abbildung.

Eine Seite aus einem Buch der Edo-Zeit. Oben Erklärungstext, unten Abbildung eines Mannes an einer Kochstelle.

02. Seite aus einem Leitfaden zur Landwirtschaft des Agronomen Ōkura Nagatsune (1768-1856).

Die Themen

Die nach Themen sortierten Hauptkapitel sind unterschiedlich lang, den weitaus größten Raum nimmt das Thema „Krankheit, Schwangerschaft, Unfälle“ ein. Die folgende Übersicht soll die Themenvielfalt nur andeuten.

 

  1. Haus, Hof und Garten: Schutz vor schlechter Witterung, richtige Lage des Brunnens, der Herdstelle und des Rauchabzugs, Ausrichtung eines Hauses, Hausbau, Schutz vor bösen Geistern, vor Wind und Feuer
  2. Haushalt, Arbeit und Handwerk: verschiedene Techniken, wie Färben, Zuschneiden von Stoffen, Anfertigung von Kleidern, zum Teil auch mit Hinweisen auf Ersatzstoffe, wenn bestimmte Materialien fehlen
  3. Essen und Trinken: Konservierung und Frischhaltung von Nahrungsmitteln, Bezwingung von Hunger und Durst bzw. das Gegenteil: Hilfe bei übermäßigem Verzehr zum Beispiel von Soba-Nudeln
  4. Lesen, Schreiben und Malen: Korrektur falsch geschriebener Zeichen, Geheimschriften
  5. Krankheit, Schwangerschaft, Unfälle: Kampf gegen verschiedene Krankheiten und Epidemien, Schutz vor üblen Machenschaften von Füchsen
  6. Körperpflege: Mittel für einen möglichst hellen Teint und glänzend schwarze Haare
  7. Tiere, Vögel und Insekten: Schutz vor wilden Tieren, vor Schlangen und Mäusen
  8. Auf Reisen: Gefahren bei Reisen, wie Flussüberquerungen oder Füchse
  9. Miszellaneen: vor allem Traumdeutungen und Spiele

Praktische Ratschläge

Seite aus einem Buch der Edo-Zeit. Zeichnungen von Papierfaltungen mit Erklärungstext.

03. Anleitungsbuch zum Falten von Origami-Kranichen: „Das Geheimnis der Faltung von zehntausend Kranichen“ („Hiden senbazuru orikata“) von 1797.

Seite aus einem Buch der Edo-Zeit. Darstellung eines Blumen-Gestecks.

04. Ikebana Arrangement: Narzisse auf Teller mit grünem Rand, Utagawa Toyohiro (1774-1830)

Die Hausbücher bieten eine bunte Mischung an Ratschlägen unterschiedlicher Natur. Zum einen gibt es praktische Empfehlungen, die auf Beobachtungen, Erfahrungen und empirischem Wissen basieren. Beispiele hierfür sind:

 

  • Wahl des Baumaterials: am besten sind geschnittene und für eine Weile in Wasser eingelegte Zypressen, dann Zedern, am wenigsten geeignet sind Kiefern, die Harz ansetzen (S. 28)
  • Testen der Qualität von Brunnenwasser mit Hilfe eines Kupferdrahts (S. 31)
  • Windschutz: am Nordrand eines Grundstücks Bambus anpflanzen, der den Wind abwehrt, im Winter wärmt und so gegen Unheil schützt (S. 31)
  • natürliche Wasch- und Putzmittel zur Fleckenentfernung auf Kleidung, Tatami usw. (S. 34, 81)
  • Veredlungstechniken bei Bäumen (S. 39)
  • Frische von Schnittblumen (S. 42)
  • Zucht von Goldfischen (S. 48)
  • Färben mit Farben unterschiedlicher Naturstoffe (S. 74)
  • Klebstoffe und Lacke (S. 86)
  • Papier aus verschiedenen Pflanzenfasern und -säften (S. 154)
  • zahlreiche Erste-Hilfe-Maßnahmen, z.B. eine/n Ertrinkende/n retten (S. 218)
  • Mittel gegen Insektenfraß, Flöhe und Moskitos (S. 295, 301, 302)
Seite aus einem Buch der Edo-Zeit. Oben Erklärungstext, unten Abbildung einer Frau, die einem Mann Moxa-Stäbchen am Rücken ansetzt.

05. Moxa-Therapie (S. 200-202): eine Therapieform, die ursprünglich aus China stammt und bei der spezielle Punkte des Körpers erwärmt werden; Seite aus dem Hausbuch „Banshō myōhōshū“

Seite aus einem Buch der Edo-Zeit. Oben Abbildung mit Druckpunkten und Erklärungstext, unten Abbildung einer Behandlung.

06. Methoden der Bauch-Akupressur.

Der Anteil des Magischen

Zum anderen vermengen sich diese praktischen Tipps mit magischen Ritualen und Formeln, zum Beispiel beim Thema Reisen (S. 309-344):

Warnung vor zu großen Reisegruppen wegen der Streitereien, die ausbrechen können, wenn zu viele unterschiedliche Charaktere zusammentreffen; Umsicht beim Umgang mit Einheimischen: kein Lustigmachen über Sprechweisen und Sitten der bereisten Regionen, denn der Reisende selbst wirke auf die Einheimischen als fremd und seltsam; Vorsicht bei Unwohlsein wegen des „Wasserwechsels“, d.h. des Nicht-Vertragens von fremdem Wasser; Vorsicht bei der Durchquerung von Flüssen wegen der Strömung und der Wassergeister (Kappa); Achtung bei Zusammentreffen mit Fremden: immer in Erwägung ziehen, ob seltsam erscheinende Fremde vielleicht Füchse oder Dachse in Menschengestalt sind, die Reisende vom Weg abbringen und den Tag in Nacht verwandeln können.

Geschlossener Tragekorb: Holzkasten mit Rollos aus Bambus.

07. Wer es sich leisten konnte, ließ sich auf Reisen in einem Tragkorb (kago) tragen. Eingehängt in eine Stange wurde der Korb von zwei Männern getragen.

Bild von Reisenden auf der Überlandstraße, zwei Männer befördern eine Person in einem Tragekorb.

08. Bei Hakone, an der Grenze zwischen den Provinzen Isu und Sagami, aus der Serie „53 Stationen des Tōkaidō“; von Hiroshige, 1841-1844.

Auch bei der Wetterbeobachtung kommen beide Aspekte zusammen. Zum einen gibt es viele Ratschläge, aus der Windrichtung, der Wolkenformation und -färbung auf das kommende Wetter zu schließen. Zum anderen sollen magische Praktiken Hilfe leisten:

„Heftigem Wind Einhalt gebieten. Man verbrenne hierzu die Haare eines schwarzen Hundes zu Asche und streue diese in die Richtung, aus welcher der Wind weht: dieser wird sich schnell legen.“ (S. 68).

Gerade in Fällen, in denen großes Unglück drohen konnte, wie bei der Vernichtung eines Hauses durch einen Brand (S. 12), ist der Anteil magischer Vorkehrungen groß.

„Um jegliches Unglück im Haus-Inneren auszuschalten, alle giftigen Ausdünstungen sowie Erscheinungen von bösen Geistern fern zu halten, vergrabe man am letzten Tag des zwölften Monats in den vier Richtungen des Hauses einen großen Stein, den so genannten ‚Stein zur Festigung des Hauses’. […]“ (S. 35)

oder:

„Dasselbe Resultat wird erreicht, wenn man das Blut eines weißen Hundes in vier Richtungen an die Türen streicht oder dort den Panzer eines Krebses anbringt.“ (S. 35)

Stadtteil in Tōkyō, aus den Häuserreihen ragt ein hoher Turm heraus.

09. Um den verheerenden Bränden vorzubeugen, unterhielten die Feuerbrigaden in der Edo-Zeit Wachtürme.

„Eine Brandgefahr abwehren. Man schreibe mit Zinnober auf ein Stück Papier eine magische Formel und hefte sie über der Tür an. Vor dem Schreiben wasche man sich die Hände, spüle den Mund und schreibe dann die Formel: ohne jeden Zweifel wird man so von Feuersbrunst verschont bleiben.“ (S. 52)

oder:

„Zum Schutz vor einem Brand in der Nachbarschaft rezitiere hierfür folgendes Gedicht:

Die Flammen drängen – schon bis an die Umzäunung – meines Hauses vor – dort aber steht Akahito – und die Flammen halten an.“ (S. 52)

„Verfahren, um Blitzschlag zu vermeiden. Man pflücke am fünften Tag des fünften Monats, zur Stunde des Pferdes […] Beifuß […] und Wasserlinsen […], trockne sie im Schatten und verbrenne etwas davon, sobald der Donner rollt.“ (S. 60, in einem weiteren Ratschlag auf derselben Seite: alternativ auch mit Glyzinien).

Besonders beeindruckend ist das Zusammenspiel von Empirie und Magie bei der Heilung Kranker. So gibt es beispielsweise Salben und magische Formeln gegen Hautausschlag (S. 174-175). Der Übergang in das rein Magische ist fließend:

„Am siebten Tag des siebten Monats, zur Stunde des Pferdes, pflücke man sieben Blätter der Süß-Melone, gehe an die Nordseite eines nach Süden ausgerichteten Hauses, stelle sich nach Süden gerichtet auf und streiche sieben Mal mit diesen Blättern über die Muttermale – sie werden völlig verschwinden.“ (S. 177)

„Jemanden, der durch Blitz / Donner erschreckt, gestorben ist, wieder zum Leben zu bringen. Man sammle eine große Anzahl von Regenwürmern, zerstampfe sie und reibe diese auf die Fußsohlen: das Opfer wird wieder zum Leben zurückkehren.“ (S. 60)

Eine Frau hält kniend ein Kleinkind auf ihrem Schoß. Von hinten beugt sich die Silhouette eines Fuchses über sie.

10. Ein Fuchs ergreift Besitz von einer Familie. In Rotermunds Lesebuch gibt es zahlreiche Ratschläge, wie eine Person von einer Fuchs-Besessenheit befreit werden kann (S. 205, 266-267).

Neokonfuzianisches Ordnungsdenken

Grundgedanken des Neokonfuzianismus dienten als offizielle Moral- und Staatsphilosophie sowie als Grundlage für die Klassengesellschaft. Aus der Vorstellung von einer großen umfassenden natürlichen Ordnung, in die sich alle einordnen – Menschen, Tiere und Pflanzen – wurde abgeleitet, dass die Gesellschaft aus einer in der Natur vorgegebenen Klassenhierarchie bestehe. Auch die Beziehungen zwischen Einzelpersonen, wie Vater – Sohn, Mann – Frau, älterer Bruder – jüngerer Bruder waren streng hierarchisch geregelt.

So soll man, eingedenk seines Platzes in der Gesellschaft, beim Hausbau auf das rechte Maß achten und nicht nur auf Eleganz abstellen, nicht die Wohnhäuser Höhergestellter nachahmen, sondern Aufmerksamkeit auf Sauberkeit legen (S. 26).

„Das Innere der Wohnräume sollte anmutig fein sein, sauber und ohne große Dekoration. Wenn man ständig Buntes und schön Verziertes vor Augen hat, kann daraus nur Unheil entstehen.“ (S. 32)

Blick in den Innenraum eines traditionellen Hauses mit Kochstelle im Boden.

11. Anwesen aus der Edo-Zeit im Norden Japans.

Hartmut Rotermund erklärt auch den Ratschlag zur Aufbesserung von kalt gewordenem Reis aus der Tradition, dass alle zweit- und drittgeborenen Söhne einer Familie erst dann zum Essen kamen, wenn der Erstgeborene und Erbe des Hauses seine Mahlzeit beendet hatte (S. 123).

Die Kommentare

Interessant ist, welche Ratschläge für uns annehmbar, welche nicht nachvollziehbar sind. Sofort zugänglich sind die Vorkehrungen und Hinweise, die auf empirischem Wissen basieren. Doch selbst die praktischsten Beobachtungen sind mit magischem, durch Traditionen des Shintō und des Buddhismus geprägtem Glauben und Denken unterlegt: Im damaligen Volksglauben gab es kaum ein Gebiet, in dem nicht auch magisch gedacht und empfunden wurde (S. 54). Diese Kombination ist äußerst faszinierend, zum Beispiel hinsichtlich des Rauchabzugs über dem Herd (S. 32), bei dem es ganz praktische Gründe für seine Platzierung gab und der zugleich Objekt großer Verehrung war.

Hartmut Rotermund stellt Informationen bereit, um auch die auf Glaubensvorstellungen basierenden Ratschläge verständlich zu machen. Viele Kommentare treffen sich inhaltlich mit den Forschungsergebnissen von Komatsu Kazuhiko (> Forschungen zu japanischen Geistererscheinungen, hier vor allem zu Füchsen, S. 35-37) und Okamoto Ryōsuke (> Forschungen zum Pilgern, hier vor allem zu vorübergehend beliebten „Mode-Gottheiten“ (hayari-gami) in der Edo-Zeit, etwa bei Epidemien, S. 14, 179). An Stellen, die für Hartmut Rotermund nicht ausreichend geklärt sind, formuliert er seine Deutungen als Fragesätze.

Werden Namen von shintoistischen Kami, buddhistischen Gottheiten oder legendären Gestalten genannt, erklärt Rotermund die Hintergründe, zum Beispiel zu Akahito und Hitomaru (S. 52). Bei Legenden verweist Rotermund auf die Varianten, die sich über die Jahrhunderte unter dem Einfluss verschiedener Philosophien herausgebildet haben, zum Beispiel sehr ausführlich zu Urashima Tarō (S. 364-369).

Bunter Holzblockdruck eines spazierenden Mannes in reich verziertem Kimono.
Bunter Holzblockdruck eines Mannes, der mit einem Pinsel in der Hand nach oben schauend und nachsinnend einen Text entwirft.

12.-13. Die Dichter Yamabe no Akahito (etwa 724 – etwa 736) und Kakinomoto no Hitomaru (oder Hitomaro, etwa 660 – etwa 720); von Utagawa Kuniyoshi (1798-1861).

Beide gehören zu den „36 Unsterblichen der Dichtkunst“ und beide werden gern in magischen Versen zum Schutz vor Feuer genannt. Der Name „Akahito“ ist gleichklingend mit „aka hi“ („rote Flamme“), „Hitomaru“ mit „hi tomaru“ („das Feuer bleibt stehen“).

Breiten Raum widmet Rotermund darüber hinaus dem weit verbreiteten Glauben an die mysteriöse Kraft, die der Sprache innewohnt (kotodama): Magische Formeln begleiteten (und begleiten zum Teil heute noch) die Abschnitte des menschlichen Lebens (S. 55). Über gleich klingende Wörter (Homophone) sollen Kräfte aktiviert werden, in ihrer Regelmäßigkeit und Satzstruktur unterstützten die Reime rhythmische Handlungen (wie das schnelle Zuschneiden von Stoffen, S. 80). Hier zieht Hartmut Rotermund die Verbindung zur japanischen Dichtkunst. Schon die ältesten erhaltenen Werke, „Kojiki“ und „Nihongi“, beinhalten am Höhe- oder Wendepunkt ihrer mythologischen Erzählungen Gedichte (S. 54).

Theoretische Gedanken im Hintergrund

Immer wieder wird der Einfluss des Kalenders deutlich: Für alle Handlungen gibt es günstige Tage und mit Tabu belegte Tage (zum Beispiel bei der Ausrichtung und beim Bau von Gebäuden, S. 26, S. 29). Hartmut Rotermund erklärt, welche Vorstellung von Kräften – shintoistische Kami wie buddhistische Gottheiten – hinter diesen Vorstellungen stehen. Zugleich zitiert er auch kritische Stimmen zu diesem Glauben, zum Beispiel von Yoshida Kenkō (etwa 1283 – etwa 1350) (S. 41).

Weitere Denkmodelle, die den Ratschlägen zugrunde liegen, sind die chinesische Yin- und Yang-Philosophie sowie die Idee der fünf Elemente (oder Zustände) Holz, Feuer, Metall, Wasser und Erde, die das gesamte Universum regieren: Raum, Zeit, die menschliche Gesellschaft und damit auch alle Handlungen (ausführlich auf S. 63).

Geschnitzter und bunt bemalter Kreis mit den 12 chinesischen Tierkreiszeichen.

14. Schnitzerei mit chinesischen Tierkreiszeichen an der Decke des Tores zum Kushida-Schreins in Fukuoka.

Das Lesebuch ist sehr empfehlenswert, denn …

… es birgt einen riesigen Schatz an Quellen.

Hartmut Rotermund traf seine Auswahl aus einer großen Menge von Hausbüchern und ähnlichen Publikationen der Zeit, zum Beispiel aus Wahrsage-Enzyklopädien zum häuslichen Gebrauch oder aus allgemeinen Enzyklopädien in Wörterbuchform (S. 9-10). Die Einträge sind hervorragend aufbereitet, viele mit aufschlussreichen Kommentaren versehen.

… es liefert einen tiefen Einblick in den Alltag der Menschen der Edo-Zeit.

Die Einträge treffen den Kern des Lebens: Fragen des Familienlebens, der Arbeit, zur Gesundheit.

Dabei scheinen viele Punkte nach wie vor aktuell. So gab es damals wohl schon eine Art der Instant-Suppe:

„Bohnen-Paste [miso] trocknen, zu Pulver machen und in einem Beutel bei sich tragen: zum Verzehr dann mit Wasser aufbrühen. Selbst nach einem Jahr nimmt der Geschmack keinen Schaden.“ (S. 110)

Auch beim Thema Alkoholkonsum gibt es heute noch brauchbare Ratschläge: sei es den Trick, vorzutäuschen, dass man viel Sake trinkt, oder die geheime Methode, bei viel Alkoholkonsum nicht betrunken zu werden (beide S. 134).

… es zeigt Veränderungen im Denken.

Die Hausbücher stammen aus der spannenden Phase des Übergangs von der Vormoderne in die Moderne. Zur Gegenüberstellung zog Hartmut Rotermund spätere Schriften mit ein, die magische Vorstellungen oder Bräuche der Volkstradition kritisieren oder parodistisch umschreiben. Die Hausbücher, die aus dem Mitte des 19. Jahrhunderts stammen, beinhalten dann schließlich nur noch Rezepte europäischer Herkunft (S. 20). Trotzdem behielten viele Überzeugungen, wie Tabu-Vorstellungen, ihre Bedeutung.

… es regt zu Vergleichen an.

Bei allen Ratschlägen stellt sich die Frage: Ist dieser heute noch hilfreich? Wenn ja, warum? In welchen Fällen gehen wir ähnlich vor? Bei näherer Betrachtung sind dies nicht nur die praktischen Hinweise und Tipps, sondern durchaus auch Glück versprechende Handlungen.

… es gibt Impulse für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema.

Die systematische Durchsicht und Auswertung der umfangreichen Sammlung an Hausbüchern erscheint wie ein zusammenfassendes Lebenswerk von Hartmut Rotermund. Sie lädt zum Schmökern, zum Auswerten, zum Forschen ein – eine umfangreiche Materialgrundlage für die weitere Beschäftigung mit dem Thema.

Susanne Phillipps

(23.09.2023, Ausgabe 12)

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Bildnachweis

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05: Von Keisai Eiju – Eigenes Werk 2014-06-20, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=33489695

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11: Von 663highland – Eigenes Werk, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2708954

12: Von Utagawa Kuniyoshi – http://visipix.com/search/search.php?userid=1616934267&q=%272aAuthors/K/Kuniyoshi%201797-1861%2C%20Utagawa%2C%20Japan%27&s=11&l=en&u=2&ub=1&k=1, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=317462

13: Von Utagawa, Kuniyoshi, 1798-1861 – Library of Congress[1], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5918646

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