Licht in der Welt des Halbdunkels – Forschungen zu japanischen Geistererscheinungen

Buch mit einer kleinen Lampe und der Figur eines Geistes von Miyazaki Hayao

Komatsu Kazuhiko (2017): An Introduction to Yōkai Culture. Monsters, Ghosts, and Outsiders in Japanese History. Tokyo: Japan Publishing Industry Foundation for Culture, übersetzt von Hiroko Yoda und Matt Alt, 195 Seiten.

Geister- und Gespenstergeschichten sind in Japan seit Jahrhunderten sehr beliebt. Japanische volkstümliche Erzählungen und chinesische Romane wimmeln nur so von unheimlichen Erscheinungen: von Spukgestalten (Yōkai) und Geistern Verstorbener (Yūrei). Besonders in den heißen Sommermonaten sollten diese Geschichten den Zuhörerinnen und Zuhörern kalte Schauer über den Rücken jagen, eine besondere Art der Erfrischung. Bei dem Spiel „Hundert Geschichten“ („Hyaku monogatari“) wurden hundert Kerzen entzündet, bei jeder Geschichte über eine spukhafte Begegnung eine Kerze gelöscht, so dass es immer dunkler und unheimlicher wurde.

Mit dem Einzug von Technik und Industrie haben Angst und Schrecken vor den unheimlichen Gestalten nachgelassen, aber ihre Beliebtheit ist nach wie vor ungebrochen. Besonders seit dem Ende der 1980er Jahre entflammte in Japan eine neue Begeisterung für Erfahrungen jenseits der Alltagswelt. Geister, Dämonen und Spukgestalten leben heute in Videospielen, Anime, Manga, Spielfiguren und Geisterhäusern fort.

Inzwischen haben sich Generationen von Forscherinnen und Forschern mit diesen Geistererscheinungen beschäftigt. Es gibt Nachschlagewerke, in denen die Spukgestalten mit all ihren Eigentümlichkeiten und Marotten beschrieben werden. Das Buch von Komatsu Kazuhiko gibt einen Überblick.

Der Autor

Komatsu Kazuhiko (geb. 1947) ist Kulturanthropologe. Seine Veröffentlichungen umfassen Bände zu verschiedenen Themen des Glaubens: der Kulturgeschichte von Gottheiten, des Glaubens an Besessenheit, an Flüche oder böse Geister. Nach einer akademischen Laufbahn an mehreren japanischen Universitäten begann er 1997, am Internationalen Forschungszentrum für Japanstudien (International Research Center for Japaneses Studies, Nichibunken) zu lehren. Das Institut wurde 1987 als Dachorganisation für interdisziplinäre Projekte japanischer Universitäten gegründet. Ab 2012 war Komatsu einige Jahre lang Direktor der Einrichtung. Für sein Lebenswerk erhielt er Auszeichnungen und Orden.

Portraitfoto eines älteren japanischen Herrn.

01. Komatsu Kazuhiko.

Hiroko Yoda und Matt Alt, die das Buch von Komatsu übersetzt haben, sind vom Fach. Sie schreiben und übersetzen Bücher über die japanische Geisterwelt und deren Umsetzungen in der Popkultur. So veröffentlichten sie beispielsweise eine Reihe identisch aufgebauter, poppiger Bildbände, zu denen „Yokai Attack! The Japaneses Monster Survival Guide“ oder „Yurei Attack! The Japaneses Ghost Survival Guide“ gehören. Gemeinsam übersetzten sie „Japan-demonium Illustrated: The Yokai Encyclopedias of Toriyama Sekien“.

Über das Buch

Das Buch von Komatsu umfasst

– ein Vorwort zur englischen Ausgabe (6 Seiten)

– Teil 1: Grundsätzliches (28 Seiten) mit

  • einer Klärung des Begriffs „Yōkai
  • einer Übersicht zu den Anfängen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Yōkai
  • einer Erklärung zu Yōkai als Teil des glaubensbasierten Wissens

– Teil 2: Forschungsgeschichte in 8 Kapiteln (137 Seiten)

zu den Phänomenen Tsukimono, Yōkai, Kappa, Oni, Tengu und Yamauba, Yūrei, Ijin und Ikenie sowie abschließend allgemein zu Grenzbereichen

– eine ausführliche, thematisch gegliederte Bibliografie vor allem japanischer Titel, die Eigennamen und Titel sowohl in Schriftzeichen als auch in Umschrift wiedergibt (17 Seiten);

– ein Abbildungsverzeichnis;

– einen kurzen Lebenslauf von Komatsu Kazuhiko.

Das Buch ist somit nicht einfach eine allgemeine Einführung zu Yōkai. Stattdessen fasst Komatsu die Forschungsgeschichte zu den einzelnen Geistererscheinungen zusammen und zitiert aus Büchern und Aufsätzen von Forscherkolleginnen und -kollegen. So vermittelt er eine Idee davon, wie man sich die Entstehung von Vorstellungen zu Yōkai aus dem Blickwinkel unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen erklärt(e) und welche Deutungen es heute gibt.

Die Beiträge des Buches entstammen einer achtbändigen Aufsatzsammlung mit dem Titel „Volkskunde des Mysteriösen“ („Kaii no minzokugaku“), die wegweisende Aufsätze verschiedener Autorinnen und Autoren zum Thema versammelt. Die Kapitel des vorliegenden Buches waren ursprünglich die Einführungstexte, die Komatsu Kazuhiko für die verschiedenen Themenbereiche der acht Bände verfasste.

Die Kapitel enthalten eine enorme Menge an Informationen. Aus diesem Grund will ich in dieser Besprechung zunächst einige grundsätzliche Überlegungen aus Teil 1 anführen. Bei der Vorstellung von Teil 2 werde ich mich auf die Forschung zu Tsukimono konzentrieren, die mich persönlich besonders beeindruckt hat.

Holzstatue, in prächtigen Farben bemalt: Krähe in Menschengestalt mit einem Stab.

02. Figur eines Krähen-Tengu, aus der späten Edo-Zeit.

Teil 1: Grundsätzliches

Sei es in der Literatur, Malerei oder Bildhauerei, beim Theater oder Film, in Manga oder Anime – die japanische Kultur ist von Darstellungen und Beschreibungen von Yōkai durchdrungen. Yōkai sind für Komatsu kulturelle Konzepte von so hohem Stellenwert, dass man für ein Verständnis der japanischen Kultur nicht um sie herum kommt (S. 5-6). Daher stellt sich die Frage, warum und auf welche Weise Menschen diese Konzepte und Ideen an bestimmten Orten schufen.

Die Besonderheiten der Yōkai in der japanischen Kultur sieht er in ihrer langen Geschichte, ihrer Vielfalt, in den unzähligen Abbildungen, die über die Jahrhunderte von ihnen geschaffen wurden, und in dem Werdegang, den die meisten von ihnen einschlagen: vom erschreckenden Monster zur niedlichen Kreatur (S. 6-7).

Unterschiedliche Geistererscheinungen, die lachen, tanzen und sich amüsieren.

03. „Die Nachtparade der hundert Dämonen“ („Hyakki Yagyō“) von Kawanabe Kyōsai (1831-1889). Yōkai leben meist an bestimmten Orten: in den Bergen, in bestimmten Teilen des Hauses, an der Küste, im Fluss. Es gibt unüberschaubar viele verschiedene, und jede Gestalt hat ihren eigenen Namen und Charakter, besondere Vorlieben und Eigenheiten. Sie bevölkern die wilde Natur und die Dunkelheit und geben unerklärlichen Phänomenen eine Präsenz.

Was sind Yōkai?

Yōkai sind mysteriöse, unheimliche Phänomene oder Kreaturen, die von den Menschen als nicht beherrschbar und deshalb als gefährlich oder schädlich wahrgenommen wurden (S. 12-15). Erfahrungen, die Angst, Ehrfurcht oder Überraschung hervorriefen, stimulierten bestimmte Vorstellungen, die Menschen in Geschichten packten. Diese Erzählungen – oft mit didaktischen Elementen – wurden an die nächsten Generationen weitergegeben, später gesammelt, aufgeschrieben und mit Bildern versehen.

Seltsames Wesen mit Scheren-ähnlichen Klauen und einem langen Schnabel.

04. Kamikiri („Haar-Abschneider“) von Sawaki Sūshi (1707-1772).

Komatsu stellt fest, dass sich der Vorgang, etwas als Yōkai zu betrachten („Yōkai-isierung“) ab dem Mittelalter nicht mehr nur auf Phänomene aus der Natur bezog, sondern auch auf von Menschen produzierte Objekte: auf Gebrauchs- und Alltagsgegenstände, die als Yōkai zum Leben erwachten (tsukumogami, S. 20). Die Menschen waren dann von den unterschiedlichsten Werkzeugen, einer „zweiten natürlichen Welt“ umgeben. Mit den urban legends erreichten die Yōkai in jüngster Vergangenheit ein weiteres neues Umfeld (S. 75).

Spielbrett mit der Darstellung von unterschiedlichen Haushaltsgegenständen, die belebt sein können: Sandalen, Eimer, Laternen.

05. Spielbrett mit tsukumogami (Holzschnitt, um 1850).

Beschäftigung mit übernatürlichen Phänomenen während der Edo-Zeit

Ab dem 16. Jahrhundert waren Bildrollen, die Geschichten erzählten, nicht mehr nur für Adlige, sondern auch für Bauern und Städter erschwinglich. Die Bildergeschichten waren so beliebt, dass sie in Massen produziert wurden. Vor allem die Künstler der Edo-Zeit (1600-1868), die bei der bildlichen Gestaltung der Monster ihrer Fantasie freien Lauf ließen, prägen die Vorstellungen von Yōkai bis heute (S. 18-19).

Schlangenähnliche Gestalt mit Scheren-ähnlichen Klauen und Schnabel.
Büsche in einem Wirbelwind.
Lurchähnliches Wesen zwischen Wasserpflanzen.

06.-08. Der Künstler Toriyama Sekien (1712-1788) schuf mit seinem Werk „Die illustrierte Nachtparade der hundert Dämonen“ („Gazu hyakki yagyō“) eine Enzyklopädie der Yōkai.

Hier Bilder von einem Amikiri („Netzschneider“), einem Kama-itachi und einem Kappa.

Der Kama-itachi ist ein Yōkai ähnlich einem unbeschreiblich flinken Wiesel, das den Menschen zum Beispiel beim Durchqueren von Gras oder Schilf böse Schnittwunden zufügt.

Veröffentlichungen wie diese standardisierten die Vorstellungen von Yōkai, die sich durch die massenhafte Verbreitung der Bilder immer weiter von ihrem ursprünglichen folkloristischen Kontext entfernten. Bald darauf wurden sie Spielzeugfiguren und Motive für Kleiderstoffe oder Stellwände (S. 21-23).

Zugleich fühlten sich Intellektuelle der Edo-Zeit von den Geschichten aus den Provinzen angesprochen, sie sammelten sie, schrieben sie nieder und tauschten sich mit Kollegen aus. Ihre Schriften erwiesen sich als wertvolle Grundlage für spätere Forscherinnen und Forscher mündlicher Überlieferungen (S. 48).

In einigen Fällen gaben die Geschichtensammler den Erscheinungen einheitliche Bezeichnungen, wie im Falle der Kappa (Wasser-Geister). Unter den Pflanzenkennern der Zeit war es umstritten, ob die Kappa in die naturwissenschaftlichen Enzyklopädien aufgenommen werden sollten oder nicht (S. 79-80).

Pioniere der modernen Yōkai-Forschung

Schwarzweiß-Portrait im Anzug.

09. Inoue Enryō (1858-1919) war ein Philosoph, der sich mit Glaubensfragen beschäftigte, und zugleich Pionier der Yōkai-Forschung. Auf ihn geht der Gebrauch des Begriffs „Yōkai“ zurück, er nannte seine Arbeit „yōkaigaku“ („Yōkai-Studien“). In Yōkai sah er mysteriöse Phänomene, die Menschen verunsicherten, da sie für sie noch keine rationale Erklärung hatten. Er vertrat eine für aufklärerische Intellektuelle der Meiji-Zeit (am Ende des 19. Jahrhunderts) typische Haltung: Mit zunehmender Rationalisierung müssten Yōkai überflüssig werden und verschwinden (S. 24, 68, 107).

Ein weiterer Pionier war Ema Tsutomu (1884-1979), ein japanischer Historiker. Er spezialisierte sich auf die Geschichte von Gewohnheiten und Sitten (fūzoku rekishi), besonders auf Kleidung und Frisuren sowie auf die Geschichte fantastischer Darstellungen. Er maß Veränderungen in den Vorstellungen von Yōkai große historische Bedeutung zu (S. 69).

Schwarzweiß-Portrait im Kimono.

10. Yanagita Kunio (1875-1962, hier ein Foto von 1951), Gründungsvater der japanischen Volkskunde, vertrat denselben historischen Ansatz wie Ema Tsutomu. Für ihn waren Vorstellungen von Yōkai eine Möglichkeit, den Glauben einer bestimmten Volksgruppe zu rekonstruieren (S. 25).

Für Yanagita waren drei wesentliche Aspekte in der Yōkai- Forschung wichtig: erstens die Datenerhebung in allen Regionen Japans, zweitens die Unterscheidung zwischen Yōkai und Yūrei (Geister Verstorbener), und drittens die Ausarbeitung des Konzepts, dass Yōkai im Ansehen gefallene Gottheiten repräsentierten. Damit beeinflusste er Generationen an Forschenden in der Volkskunde (S. 70-71).

Der Ansatz von Komatsu Kazuhiko

Als Kulturanthropologe versucht Komatsu die Kultur einer bestimmten Gruppe von Menschen umfassend zu beschreiben. Mit seiner Spezialisierung auf Fragen des Glaubens sieht er die Summe des Wissens zu einer bestimmten Zeit als Zusammensetzung aus wissenschaftlichem, traditionellem und glaubensbasiertem Wissen. Zu letzterem zählen Yōkai. Im Gegensatz zu Menschen vorangegangener Jahrhunderte sind wir heute darauf trainiert, uns zunächst unerklärliche Phänomene auf keinen Fall glaubensbasiert zu interpretieren (S. 30-31).

In Yōkai-Studien sieht Komatsu im Kern Studien des Menschen: Er bezeichnet Yōkai als Präsenzen und Phänomene, die im Grenzbereich zwischen Wissen und Unbekanntem in unseren kognitiven Systemen entstehen. Aus diesem Grund tragen die allermeisten Yōkai Namen, die sich auf Sinneseindrücke beziehen (S. 74, 78).

Wesen, das in einem Gefäß Bohnen wäscht.

11. Der Bohnen-Wäscher (azuki-arai) als Beschreibung für ein seltsames Geräusch, das dem Waschen von Bohnen ähnelt.

Wesen, das im Baum sitzt und mit seinem Atem für Windstöße sorgt.

12. Windgott (kaze no kami).

Komatsu vertritt nicht die von Yanagi eingeführte und heute noch übliche Trennung zwischen Yōkai und Yūrei (Geistern Verstorbener), sondern sieht Yūrei als eine Untergruppe der Yōkai-Phänomene.

Teil 2: Forschungsgeschichte zu verschiedenen Phänomenen

Im 2. Teil, dem Hauptteil des Buches, stellt Komatsu die Forschungsgeschichte bzw. aktuelle Forschungslage zu verschiedenen Phänomenen vor.

Er führt auf, aus welcher Zeit die älteren Begriffe stammen und in welchen Schriften die jüngeren Begriffe zum ersten Mal auftauchten (z.B. Ersterwähnung von „Kappa“ S. 80, von „Tengu“ S. 119): Viele Bezeichnungen wurden erst von Akademikern bei der Beschäftigung mit übernatürlichen Phänomenen geprägt (wie „Tsukimono“, S. 42). Er grenzt die Begrifflichkeiten voneinander ab, gibt Definitionen und zitiert dazu auch Wörterbucheinträge.

Danach nennt Komatsu Untersuchungen, die als Pionierleistungen zu sehen sind und die die nachfolgende Forschung entscheidend beeinflussten, welche Interpretationen die Forschenden vorlegten, wie die verschiedenen Forschungsansätze sich ergänzten oder einander widersprachen. Schließlich führt er noch offene Fragen an.

Komatsus Darstellung ist vielschichtig und enthält überraschende Wendungen. Von allen Phänomenen, die er anführt, will ich an dieser Stelle Tsukimono näher beschreiben.

Tsukimono – Geister, die Menschen befallen

Ein Tsukimono ist ein böser Geist, der von einem Menschen Besitz ergreift (wörtl. eine Sache [„mono“], die sich an eine Person anheftet [„tsuku“]), eine spirituelle Präsenz, die eine unnormale, unerwünschte Situation verursacht (S. 42). In der Vergangenheit wurde diese Besessenheit nicht nur einzelnen Personen, sondern ganzen Familien zugeschrieben: Alle Angehörigen und Nachkommen bestimmter Familien sollen mit Hunde-Geistern (inugami-suji), Schlangen-Geistern (hebigami-suji) oder Fuchs-Geistern (kitsune-suji) besessen gewesen sein (S. 46). Tsukimono offenbaren Vorurteile gegenüber Familien und die damit verbundene Diskriminierung, z.B. beim Arrangement von Ehen (S. 49).

Ein sitzendes Wesen in Samurai-Gewand mit einem Hundekopf.

13. Ein Inugami ist ein Hunde-Geist, der von Menschen Besitz ergreifen kann. Er bewirkt, dass sie sich wie tollwütig aufführen; Bild von Sawaki Sūshi (1707-1772) aus dem Jahr 1737.

Komatsu zeigt, zu welch unterschiedlichen Schlüssen verschiedene Disziplinen führten. Zuerst sah man in den betroffenen Familien Mittler zu ursprünglich positiven spirituellen Kräften, die durch neue Glaubenssysteme wie dem Buddhismus abgewertet und zu bösen Geistern deklassiert worden waren (S. 50).

Spätere sozio-ökonomische Ansätze erklärten die Zuschreibungen aufgrund der Rivalität zwischen Alteingesessenen und wirtschaftlich erfolgreichen Einwanderern (S. 51-52). Zu diesem Ansatz veröffentlichte auch ein Forscher, der selbst aus einer zwar wohlhabenden, zugleich aber durch Tsukimono diskriminierten Familie stammte (Hayami Yasutaka, S. 52-53).

Eine weitere Forschungstradition sieht in den Tsukimono ein Mittel zur Kontrolle sozialer Ordnung in wenig patriarchalisch gegliederten Dorfstrukturen (S. 54-55).

Tsukimono können auch einzelne Personen treffen, die mehr oder weniger kontrolliert von guten oder bösen Geistern besessen sind. Böse Geister, die unkontrolliert eindringen, verursachen ein abnormales Verhalten. Gute Geister können als Übermittler göttlicher Offenbarungen auftreten. Viele Geister, vor allem in Tiergestalt, schwanken zwischen Gut und Böse, das bekannteste Beispiel ist der Fuchs-Geist.

Menschen, die viel über die gesellschaftlichen Zusammenhängen und familiären Umstände der Betroffenen wissen, können als Heiler fungieren. Gedeutet werden diese Phänomene heute aus soziologischer und psychologischer Perspektive (S. 56-59, 61, 62-63).

Kappa – Wassergeister

Kappa sind seltsame Kreaturen, die in und am Wasser anzutreffen sind. Sie scheinen auf den ersten Blick harmlose Kinder zu sein, haben aber eine schleimige, manchmal schuppige Haut von grüngelber Farbe, den Körper einer Schildkröte, Froschbeine, und ihre Finger und Zehen sind durch Schwimmhäute verbunden. Oben auf der Schädeldecke haben sie eine Delle mit Flüssigkeit, die ihnen Kraft verleiht. Ihr unschuldiges Aussehen nutzen sie, um ihre Opfer an Flüssen, Seen und Teichen zu fangen, sie zum Fingerhakeln aufzufordern, mit ihren riesigen Kräften in die Tiefe zu ziehen und auszusaugen.

Kappa waren unter verschiedenen Bezeichnungen überall in Japan verbreitet. Komatsu zitiert die Forschungsergebnisse eines Kollegen, der aufzeigt, wie sich die Figur der Kappa in den Erzählungen über die Jahrhunderte wandelte (S. 90-92). Auch zum Ursprung der Vorstellungen zu Kappa liefern Forschende weit auseinanderliegende Interpretationen.

Mageres Wesen mit vollem Haar und langen Klauen an Fingern und Zehen.

14. Kappa des Tonegawa-Flusses.

Oni –Teufel

„Oni“ wurde traditionell mit „Teufel“ übersetzt, inzwischen oft mit dem aus dem Englischen übernommenen Wort „Oger“ mit der Bedeutung „menschenähnliches furchterregendes Wesen“. Oni wurden schon in den ersten Schriften Japans erwähnt (S. 97). Folglich haben sie eine lange Geschichte, und das Bild von ihnen änderte sich über die Jahrhunderte.

Generell kann man sie folgendermaßen beschreiben: Oni sind von menschlicher Gestalt, haben allerdings riesige Muskelpakete, eine abstoßende Hautfarbe, wilde Haare und ein seltsames Grinsen, das sich über ihr Gesicht zieht. Um die Hüfte tragen sie ein Tigerfell, anstelle von Fingern und Zehen haben sie Klauen. Ihr entscheidendes Merkmal sind ihre beiden Hörner (S. 98).

Oni sind für alle Arten von Unheil verantwortlich, sie rauben Seelen und ergreifen von unschuldigen Menschen Besitz. Sie sind stark, grausam und hinterhältig, in allem das Gegenteil von Menschlichkeit, repräsentieren alles psychisch Schlechte (S. 98) bzw. das Antisoziale oder Perverse am Menschen (S. 99).

Eine Gruppe von Samurai kämpft gegen den riesigen Oni, der über ihnen zu schweben scheint. Er ist kräftig und hat eine rote Haut.

15. Samurai bekämpfen den Anführer der Oni, Shuten-dōji.

Oni stecken hinter vernichtenden Unwettern und Epidemien (S. 108). Später wurden Außenseiter der Gesellschaft, wie Straftäter oder Fremde (S. 101-102), bestimmte Berufsgruppen, wie Männer in der Eisengewinnung und -verarbeitung, oder Bergasketen (S. 109) als Oni betrachtet.

Tengu und Yamauba  – Berggeister und Berghexen

Tengu gibt es in zwei Versionen.

Raubvogel mit menschlichem Gesicht, von einem Baum herabschauend.

16. Die erste Version der Tengu ist ein Mischwesen aus Mensch und Vogel, mit Klauen und Flügeln. Vorstellungen von dieser Gestalt entstanden im 12. und frühen 13. Jahrhundert, sie wurde als eine Präsenz betrachtet, die den Lehren des Buddhismus entgegenwirkte. Man unterstellte den Bergasketen der Glaubensrichtung Shugendō, sie könnten Tengu kontrollieren (S. 120-121). Hier ein Bild eines Tengu von Toriyama Sekien.

Zwei rote Masken mit Phallus-förmigen Nasen.

17. Das Äußere des Tengu mit rotem Gesicht und langer, phallusförmiger Nase entstand erst später, während der Edo-Zeit (1600-1868). Es war von Masken beeinflusst (S. 122-123).

Alte Frau, auf Stock gestützt, mit langen Haaren und Klauen.

18. Die Berghexe Yamauba vereint gute und böse Eigenschaften. Auf der einen Seite hat sie Attribute einer Göttin für sichere Geburten und für den Schutz von Kindern, auf der anderen Seite ist sie böse wie ein Oni.

Yūrei – Geister

Yūrei sind die Geister von Verstorbenen, die nach ihrem Tod in der Gestalt der Person erscheinen, die sie einst waren. Sie besitzen also Aussehen, Namen, Persönlichkeit und Biografie aus ihrem Vorleben und behalten nach dem Tod ihr Bewusstsein (S. 139).

Ihre Seele kann keine Ruhe finden, da sie entweder nicht angemessen aus dieser Welt verabschiedet wurden oder da sie eine bestimmte Emotion in sich tragen, die sie in der Welt der Lebenden hält: meist Groll, in einzelnen Fällen aber auch starke Mutterliebe. Diese Emotion zielt meist auf einen bestimmten Menschen, oft denjenigen, der den Tod verursacht oder mitverschuldet hat. Erst wenn die Emotion befriedigt ist, kann die Seele gehen.

Der Glaube an Yūrei reicht weit zurück und ist in bestimmten Regionen Japans noch heute verbreitet. Besonders nach der Dreifach-Katastrophe im Nordosten Japans im März 2011 gab es zahlreiche Berichte von Erscheinungen Verstorbener.

Erscheinen Yūrei vor Menschen, handeln sie, als seien sie nicht verstorben (S. 137). Heute werden diese Erscheinungen psychologisch als Halluzinationen, Sinnestäuschungen, Ängste oder Vorahnungen gedeutet (S. 142).

Frau mit vergrämtem Gesicht, langen, verwirrten Haaren, in weißem Gewand, mit langen Fingernägeln.

19. In der Edo-Zeit formte sich eine neue Vorstellung vom Äußeren eines Yūrei. Damals boomte die Figur der sich für ihren Tod rächenden Frau: Sie erschien auf den Theaterbühnen, in den Erzählungen und wurde auf Blockdrucken abgebildet.

Die Frauenfigur ist nach vorn gebeugt, hat die Arme angewinkelt und trägt einen weißen Kimono. Sie hat keinen Unterleib und keine Füße, ihr langes, schwarzes Haar trägt sie offen und wirr (siehe die Empfehlung: Ruhelose Rache – Über die Motive weiblicher Geister, unter den Lebenden zu verweilen).

Neben den hier angeführten Erscheinungen behandelt Komatsu Außenseiter (Identifizierung verschiedener Gruppen von Außenseitern, Funktionen von Außenseitern), Tier- und Menschenopfer und schließlich Grenzbereiche, die Gruppen kollektiv bewusst sind.

Das Buch ist lesenswert, denn  

– es gewährt einen Blick in die Vergangenheit.

Mit der wirtschaftlichen Hochwachstumsphase in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lösten sich die gesellschaftlichen Strukturen der ländlichen Gebiete in Japan praktisch auf. Die ehemalige Abgeschiedenheit der ländlichen Regionen gehörte der Vergangenheit an, denn die Menschen wanderten in die Städte ab. Damit verschwanden auch fast alle Vorstellungen von Yōkai (S. 55).

Samurai kämpfen gegen eine riesige Erdspinne.

20. Ausschnitt aus „Illustrierte Erzählung von der Erdspinne“ („Tsuchigumo zōshi“): Minamoto Yorimitsu und seine Männer treffen auf eine gigantische Erdspinne (tsuchigumo).

– es liefert einen hervorragenden Überblick über die Forschungslage.

Der Band bietet einen hervorragenden Überblick, eine Zusammenfassung Jahrzehnte langer wissenschaftlicher Arbeit. Komatsu ordnet die Werke der Forscherinnen und Forscher ein, gibt gut verständliche Kurzzusammenfassungen ihrer Veröffentlichungen und referiert die wichtigsten Punkte ihrer Ansätze. Somit liefert er eine Art Vogelperspektive auf das Themenfeld „Yōkai-Studien“. Dabei zollt er einzelnen Leistungen großen Respekt (z.B. S. 69), empfiehlt in seiner Sicht gute Übersichtswerke (S. 114), kritisiert aber auch Theorien, die er als wilde Vermutungen ohne jegliche Belege betrachtet (z.B. zu Oni S. 111-113). Eigene Ansichten bzw. seine eigenen Veröffentlichungen platziert er in den Rahmen der dargestellten Forschungsgeschichte (z.B. S. 28, 93).

– es verdeutlicht, welch unterschiedliche Ergebnisse die Betrachtung ein und desselben Forschungsgegenstands liefern können.

Mit Yōkai haben sich in der Vergangenheit Vertreter/innen der verschiedensten Disziplinen beschäftigt: aus der Volkskunde, den Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften, der Kulturanthropologie und Religionswissenschaft, aus komparatistischen Literatur- und Mythenstudien. Alle tragen unterschiedliche Fragestellungen an das Thema heran und kommen folglich zu unterschiedlichen, um nicht zu sagen zu erstaunlich unterschiedlichen Erklärungsmodellen (z.B. zu Tsukimono S. 44; zu Kappa S. 86-90).

Aufgrund der Beliebtheit und der weiten Verbreitung in allen Bereichen der Kultur beschäftigen sich heute nahezu alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit dem Phänomen Yōkai (S. 67).

– es ist sprachlich ansprechend.

Wider Erwarten ist das Buch keine trockene Abhandlung. Komatsu versteht es, mit seinem Text eine abwechslungsreiche, bunte Mischung verschiedener Bausteine zu schaffen: Er erzählt Geschichten nach, fasst die wichtigsten theoretischen Punkte zusammen, zitiert einzelne Passagen bedeutender Werke. Die englische Übersetzung ist geschmeidig, alle japanischen Buch- und Aufsatztitel werden in sehr guten Übersetzungen wiedergegeben.

– es gibt Anhaltspunkte für zukünftige Beschäftigungen mit dem Thema.

Das japanische Original erschien 2006, und die aktuelle Forschung hat schon längst neue Veröffentlichungen hervorgebracht. In der ungebrochenen Beliebtheit von Yōkai sieht Komatsu allerdings ein zweischneidiges Schwert: Manche Veröffentlichungen betrachtet er als Ideen, die auf den ersten Blick gut zu passen scheinen, zu denen aber grundlegende Untersuchungen fehlen (z.B. S. 90).

Komatsu verweist auf offene Fragen, erwähnt immer wieder, wie wünschenswert es sei, wenn in diese oder jene Richtung weitergearbeitet würde (z.B. S. 88 zu Kappa, S. 115, 126 zu Tengu). Vor allem zu Erscheinungen in den Städten sieht er noch großes Forschungspotenzial (S. 145).

Susanne Phillipps

(21.06.2023, Ausgabe 11)

Datenschutzhinweis: An dieser Stelle ist eine Anmerkung notwendig. Ich habe meine Website selbst erstellt, sie nutzt weder Cookies für Webtracking noch Web-Analyse-Programme. Ich verweise auf meine Datenschutzerklärung und verstehe die weitere Nutzung meiner Website als Einverständniserklärung.

Bildnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Buch-Arrangement Yōkai-Forschung: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: By 文部科学省ホームページ, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64334796

02: By WolfgangMichel – Own work, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29941764

03: Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1241077

04: By Sawaki Suushi (佐脇嵩之, Japanese, *1707, †1772) – ISBN 4-3360-4187-3., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2221682

05: Von Anonym – internet, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=33210781

06: Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1255729

07: Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1255720

08: By Toriyama Sekien (Japanese, *1712, †1788) – http://visipix.com/cgi-bin/view?userid=2044878164&q=kappa&n=3&p=1&l=de&u=2&ub=1&k=0, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=352064

09: Von Autor/-in unbekannt – Japanese book "Nagaoka Chūgaku Dokuhon Jinbutsu-hen", edited by Niigata Prefectural Nagaoka Junior High School (now Niigata Prefectural Nagaoka High School) in 1936, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=52862291

10: Von Autor/-in unbekannt – Japanese magazine "The Mainichi Graphic, 10 October 1951 issue" published by The Mainichi Newspapers Co.,Ltd., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=34894020

11: By Takehara Shunsen (竹原春泉) – ISBN 4-0438-3001-7., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2073787

12: By Takehara Shunsen (竹原春泉) – ISBN 4-0438-3001-7., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2074017

13: Von Sawaki Suushi (佐脇嵩之, Japanese, *1707, †1772) – scanned from ISBN 4-3360-4187-3., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2431167

14: By Akamatsu Soutan (赤松宗旦) – 河童博物館, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2965333

15: By Yoshitoshi – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 1310286, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=103227291

16: Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1255613

17: By Snake Head 1995 – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2597063

18: By Brigham Young University – https://archive.org/details/bakemonozukushie00, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74833238

19: By Brigham Young University – https://archive.org/details/bakemonozukushie00, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74833240

20: By Unknown, possibly Tosa Nagataka(Life time: No later than the mid-14th century) – Original publication: Extract from medieval picture scroll available onlineImmediate source: Screen-capped from the Tokyo National Museum website http://www.emuseum.jp/detail/100257/000/000, Public Domain, https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=65624275