Ruhelose Rache – Über die Motive weiblicher Geister, unter den Lebenden zu verweilen

Buch vor weißem Gewandt, fast von langen schwarzen Haaren verdeckt

Elisabeth Scherer (2011). Spuk der Frauenseele. Weibliche Geister im japanischen Film und ihre kulturhistorischen Ursprünge. Bielefeld: transcript Verlag; broschiert, 310 Seiten.

 

Es sind hagere, weiß gekleidete Frauengestalten, deren bleiches Gesicht fast gänzlich von ihren langen, lose herunterhängenden, schwarzen Haaren verdeckt wird. Nur ihr Oberkörper ist deutlich sichtbar, Beine haben sie nicht, ihre Hände sind in übergroßen Kimono-Ärmeln unnatürlich nach unten abgeknickt. Manche von ihnen sind anmutig, andere tragen Verletzungen oder Deformierungen im Gesicht. Es sind Yūrei, wandelnde Seelen von Toten, die keine Ruhe finden können und daher in dieser Welt erscheinen.

„Spuk der Frauenseele“ ist Elisabeth Scherers sehr anschaulich und verständlich geschriebene Dissertation über die Figur der weiblichen Geister in der japanischen Kultur. Der Band ist in zwei etwa gleich große Teile von je 120 und 130 Seiten untergliedert.

Im ersten Teil gibt Elisabeth Scherer eine Übersicht über die Kulturgeschichte der Yūrei, im zweiten analysiert sie vier Spukgeschichten-Filme (kaidan eiga). Mit Einleitung, Schluss und einem Anhang von ca. 40 Seiten umfasst der Band insgesamt 310 Seiten.

Der Anhang beinhaltet Interviews mit den Regisseuren Nakata Hideo und Yamada Seiji, eine Filmografie, ein Literaturverzeichnis und ein Verzeichnis der Internetquellen. Der Band enthält über 20 Abbildungen, Illustrationen traditioneller Darstellungen von Yūrei und Standbilder aus den Filmen, die analysiert werden.

01. Darstellung eines weiblichen Yūrei von Sawaki Sūshi in seinem Werk „Bildlexikon der einhundert Dämonen“ („Hyakkai zukan“, 1737). Sūshis Bilder hatten prägenden Einfluss auf die Bildsprache des Übernatürlichen.

Darstellung eines Yūrei von Sawaki Sūshi (1737): eine abgemagerte ältere Frau in einem hellen, fast durchsichtigen Kimono mit langen, zerzausten schwarzen Haaren, einem verbitterten Gesicht, Hände wie Krallen; nach unten hin löst sich die Figur auf.

Was sind Yūrei?

Basis für Elisabeth Scherers Untersuchung sind Definitionen der japanischen Geisterforschung, insbesondere richtungsweisende Arbeiten des Volkskundlers Yanagita Kunio (1875-1962), der mündliche Überlieferungen auf volksreligiöse Vorstellungen hin analysierte und mit einer Sammlung von Geistergeschichten aus der Gegend um Tōno (Tōno monogatari, 1910) berühmt wurde.

Danach liegen die Grundlagen für das Verständnis der japanischen Geistergeschichten in der Vorstellung von den Seelen Verstorbener bzw. vom Jenseits, die aus Shintō, Buddhismus und Konfuzianismus gespeist wurden (S. 21).

Laut Yanagita gab es vom Jenseits (anoyo) zunächst verschiedene Vorstellungen, wie tief unten im Wasser, hoch oben im Gebirge oder unter der Erde. Im Laufe der Zeit rückte diese andere Welt aber immer näher an die Welt der Lebenden heran, und schrittweise habe sich die Überzeugung herausgebildet, dass die Seelen der Verstorbenen ständig präsent seien (S. 38).

Der Übergang der Verstorbenen in die andere Welt wird somit als kein endgültiger Zustand angesehen: Ihre Seelen seien in der Lage, zwischen den Welten zu wechseln und ihre Angehörigen zu besuchen. Gedeutet wird diese Vorstellung als Ausdruck der Sehnsucht der Lebenden, mit den Verstorbenen in Kontakt zu bleiben. Rituale, Tänze und Gesänge (wie zum Beispiel beim o-bon-Fest) bringen die Menschen regelmäßig mit den Seelen der Verstorbenen zusammen.

02. „Der Geist von O-Yuki“ auf Maruyama Ōkyos Rollbild ist hübsch, nicht durch Wunden oder körperlichen Verfall entstellt. Tuschmalerei in Schwarzweiß (sumi-e, 1750).

Maruyama Ōkyos Rollbild „Der Geist von O-Yuki“, ein zartes Tuschebild, zeigt eine lächelnde junge Frau mit offenen, zerzausten Haaren, ihr Oberkörper in einem weißen Kimono zart angedeutet.

Ursachen für das Auftauchen in dieser Welt

Es ist immer etwas Unerfülltes, etwas Unvollendetes, das die Seelen der Verstorbenen in dieser Welt hält. In der chinesischen Erzähltradition, die die japanische wesentlich beeinflusst hat, kann die Ursache in der Liebe einer Mutter liegen, die im Kindbett verstorben ist, sich aber weiterhin um das Neugeborene sorgt. Oder eine Frau hat von einem Mann, den sie zu Lebzeiten heftig liebte, keine Gegenliebe erfahren (S. 57-70). Ruhe finden ihre Seelen, wenn sie als liebende Mütter ihre Aufgabe erfüllt oder als Verliebte ihren Angebeteten gewonnen haben.

03. Die „Geschichte von der Päonienlaterne“ („Botan dorō“) ist eine der bekanntesten Geistergeschichten Japans (S. 90). Sie stützt sich auf ein chinesisches Vorbild und wurde 1666 von Asai Ryōi zum ersten Mal ins Japanische übersetzt.

Das Kernthema handelt von der unerfüllten Liebe zwischen dem Samurai Shinzaburō und O-Tsuyu. Nachdem O-Tsuyu und ihre Dienerin verstorben sind, erscheint O-Tsuyu seltsamerweise während des o-bon-Fests mit ihrer Dienerin bei Shinzaburō. Die Dienerin trägt eine Laterne in Form einer Päonie. Shinzaburō und O-Tsuyu lieben sich Nacht für Nacht, Shinzaburō erliegt den Täuschungen des Geistes, verwahrlost und magert ab und wird schließlich durch die Warnungen eines Freundes gerettet.

– Illustration aus „In Ghostly Japan“ (1899) von Lafcadio Hearn (1850-1904), einem Schriftsteller irisch-griechischer Abstammung. Er kam 1890 nach Japan, wo er traditionelle Erzählungen, auch viele Geistergeschichten, sammelte (S. 87).

Tuschebild in Schwarz-weiß von zwei Damen in einem weißen Kimono mit schwarzem Obi; eine Frau hält eine Laterne.

Der Hauptgrund: tiefer Groll

Die weitaus häufigste Ursache aber ist ein abgrundtiefer Groll (urami), der die Seelen in der Welt der Lebenden hält, meist ein gewaltsamer Tod. Erst wenn dieser Groll ausgeräumt ist, kann die Seele die Welt der Lebenden verlassen und die Buddhaschaft erlangen (S. 41). Bei der Besänftigung der Geister leisteten Ying-Yang-Meister (onmyōji), Prediger oder asketische Bergmönche (yamabushi) Hilfe (S. 56).

Als berühmtestes Beispiel gilt der Heian-zeitliche Hofadlige und Gelehrte Sugawara no Michizane (845–903). Nach einer Intrige wurde er degradiert und starb weitab der Hauptstadt Kyōto im Exil. Kurz darauf suchten Naturkatastrophen die Hauptstadt heim, Söhne des Tennō verstarben. Als Ursache wurde Sugawara no Michizanes Rachegeist (onryō) ausgemacht. Dieser wurde besänftigt, ein Schrein wurde für ihn errichtet. Heute wird er als Tenji, Kami der Gelehrsamkeit, verehrt, Schülerinnen und Schüler bitten vor Prüfungen um seine Hilfe (S. 43).

Eine männliche Erscheinung mit wild zerzausten Haaren entreißt einem angreifenden Menschen das Schwert.

04. Darstellung eines onryō (links); Buchillustration von Katsushika Hokusai (1808).

Onryō sind Geister, die nicht als Gestalt persönlich erscheinen, sondern Unglück, Naturkatastrophen und Krankheiten vor allem denjenigen bringen, die ihren Tod verschuldet haben (S. 40).

Geister im Nō-Theater

Nō-Maske vor schwarzem Hintergrund, Typ yaseonna, d.h. abgemagerte Frau.

05. Um die vorherrschenden Gefühlszustände der Frauengeister wie Wahnsinn, Ruhelosigkeit oder innere Qualen zu akzentuieren, sind im Nō verschiedene Frauen-Masken möglich, zum Beispiel die yaseonna-Maske …

Nō-Maske vor schwarzem Hintergrund, Typ deigan, d.h. eine Frau mit golden untermalten Augen.

06. … oder die deigan-Maske (S. 95).

In den Geschichten des Nō-Theaters ist Erlösung ohne zerstörerische Rache möglich. Oft geht es darum, dass ein einsamer Mönch auf Wanderschaft eine Frau oder einen Mann trifft, die/ der ihm unbekannt ist und zunächst unauffällig wirkt, sich dem Mönch aber im Traum als Geist offenbart. Mithilfe des Mönchs erlebt der Geist sein Trauma erneut und findet schließlich Erlösung, meist durch die Hinwendung zur buddhistischen Lehre (S. 92-95).

Yūrei und Yōkai

Klar zu trennen sind die Totengeister (Yūrei) von anderen übernatürlichen Wesen (Yōkai). Letztere sind die unterschiedlichsten Ungeheuer und Dämonen, nicht menschlichen Ursprungs und meist an einen bestimmten Ort gebunden, an dem sie sich zeigen und ihr Unwesen treiben (S. 47-49).

Blockdruck „Illustrierter Führer zu den 12 Arten von Kappa“, 12 Kappa-Figuren mit Erklärungstexten.
Krähen-Tengu mit Schnabel und Flügel in der Kleidung eines Bergasketen.

07./ 08.  Zu den berühmtesten Yōkai zählen Kappa, grüne Flusskobolde, und Tengu, Wesen mit langer Nase und dem Aussehen eines Bergasketen oder mit dem Körper einer Krähe (Plastik eines Krähen-Tengu, karasu tengu, aus der späten Edo-Zeit).

In der Edo-Zeit: Prägung der heutigen Vorstellung über die Yūrei

Mit Beispielen aus dem Alltag beschreibt Elisabeth Scherer lebhaft, wie die heute verbreiteten Vorstellungen von Geistern vor allem während der Edo-Zeit geprägt wurden: durch Spiele und Vergnügungen rund um Geistergeschichten, Kartenspiele, Mutproben und Schaubuden (S. 71-74). Damals entstand der Begriff „kaidan“ für „Spukgeschichte“ (S. 77).

Nicht zu besänftigende Geister im Kabuki-Theater

Die spektakulärste Verbindung gingen die Geistergeschichten mit dem Kabuki-Theater ein. Das Kabuki zeigte Stücke für Städter, die nach intensiver, auch derber Unterhaltung dürsteten, die Stücke lebten von überraschenden Wendungen in der Geschichte und Aufsehen erregenden Bühneneffekten (> Lifestyle in der Edo-Zeit). Was bot sich da mehr an, als die Umsetzung reißerischer Geistergeschichten?

Das berühmteste Geisterstück ist „Tōkaidō Yotsuya kaidan“ („Die Geistergeschichte von Yotsuya am Tōkaidō“), ein typisches Rachedrama, das auf einem Gerücht basiert, das in Edo im Umlauf war. Der Stückeschreiber Tsuruya Nanboku (1755-1829) brachte es im Sommer 1825 auf die Bühne.

Der verschlungene Plot dreht sich im Kern um die Rache an dem hinterhältigen und brutalen Mörder Iemon, der nicht nur O-Iwas Vater getötet hat, sondern schließlich auch O-Iwa vergiftet. Das Gift, das er ihr verabreicht hat, entstellt ihr Gesicht. Als O-Iwa diese grausige Verunstaltung im Spiegel bemerkt, kommt sie in ihrer Verzweiflung zu Tode. Iemon nagelt O-Iwa und seinen Diener Kōhei, den er zuvor ebenfalls getötet hat, an eine Tür, die er in einem Fluss versenkt. In der Folge wird Iemon von O-Iwas Geist heimgesucht. In seiner Verwirrung ermordet er seine neue Braut und deren Familie in der Hochzeitsnacht und wird schließlich wahnsinnig.

Holzblockdurck: O-Iwa mit ihrem entstellten Gesicht presst Blut aus einem ihrer Haarbüschel, das auf einen umgestürzten Bildschirm tropft, links der Masseur Takuestu.
Holzblockdruck: O-Iwa als weiß gekleidete Geister-Frau mit deformiertem Gesicht und ihrem Kind auf dem Arm.

Einer der Höhepunkte des Stücks ist die Verwandlung der O-Iwa nach ihrer Vergiftung:

Die Haare fallen ihr aus, ihre Haut verfärbt sich und eine Gesichtshälfte schwillt an.

Auf der Bühne wird die Verwandlung durch verschiedene Masken realisiert (S. 102).

09. O-Iwa bei ihrer Verwandlung und

10. O-Iwas Geist mit ihrem Kind auf dem Arm.

Ganz anders als in den Nō-Dramen gehen die Geister im Kabuki-Theater einen anderen Weg, um Frieden zu finden: über die gewaltsame, unbändige Rache. Mit ihren ausschweifenden Gruselszenen waren die kaidan-Bühnenstücke dem heutigen Horrorfilm sehr nahe (S. 106).

Holzblockdruck: Der Schauspieler Ichikawa Danjūrō VIII als Iemon schaut auf die Türplatte, viermal nebeneinander. Das Trickbild zeigt einen einzelnen Druck mit den Klappen in vier verschiedenen Positionen: O-Iwa, den Diener, ein Skeltett, ein Haufen von Skelett-Knochen auf der Türplatte.
Blockdruck: Iemon schaut auf die Türplatte. Das Trickbild zeigt einmal die Türplatte mit O-Iwa, einmal mit dem Diener.
Blockdruck: Iemon schaut auf die Türplatte. Das Trickbild zeigt einmal die Türplatte mit O-Iwa, einmal mit dem Diener.

11.-13. Berühmt ist das Stück auch für die Präsentation der Tür, auf deren eine Seite Iemon die Leiche der O-Iwa und auf der anderen Seite die des Dieners befestigt hat. Nachdem er die Tür mit den Leichen ins Wasser geworfen hat, treibt sie den Fluss hinunter.

Das Publikum sieht zuerst die Seite mit O-Iwa, kurz darauf dann die Seite mit dem Diener, der sich zuerst noch bewegt und sich dann in ein Skelett verwandelt.

– Hier zwei Holzblockdrucke, die über Faltungen einen Eindruck von der Technik „Wechsel der Türplatte“ (toita gaeshi) geben.

Für die besten Bühneneffekte entwickelten die Kabuki-Theater raffinierte technische Tricks (keren): Sie arbeiteten mit Falltüren und Drehbühnen, Helfer ermöglichten sekundenschnelle Kleiderwechsel und ließen Schauspieler durch die Luft schweben.

14.-15. Ein letzter Höhepunkt ist die Schlussszene auf dem Hebiyama („Schlangenberg“), in der O-Iwas Geist einer großen Papierlaterne entschlüpft (chōchin nuke).

Die Laterne ist von symbolischer Kraft, denn es sind diese Laternen, die während des o-bon-Fests den Seelen der Verstorbenen den Weg zu ihren Nachkommen leuchten (S. 104).

– Zwei Darstellungen von Hokusai und Kuniyoshi. Hokusai interpretiert die Laterne als entstelltes Gesicht von O-Iwa (S. 114).

Die leere Laterne in der Form von O-Iwas verzerrtem Gesicht, an der Stelle des Mundes ein großes Loch. Davor Iemon in erschreckter Abwehr.
Der Geist von O-Iwa mit ihrem Kind auf dem Arm, aus der Laterne entstiegen, die ein Loch hat.

Teil 2: Yūrei heute – Filmanalysen

Der zweite Teil des Buches beginnt mit einem kurzen Abriss der japanischen Filmgeschichte. Elisabeth Scherer legt dabei ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung der Gespenster-Filme (kaidan-Filme).

Für die vier Analysen wählte sie berühmte Filme, die aufgrund ihrer Thematik und Machart großen Einfluss auf Nachfolgewerke hatten. In ihnen erscheinen weibliche Geister unterschiedlicher Typen. Die ersten beiden Filme stammen aus den 1950er Jahren, in denen das japanische Kino eine Blütezeit erlebte. Die letzten beiden Filme sind dem aktuellen japanischen Horrorfilm-Genre (J-Horror) zuzuzählen, das weltweit große Erfolge feiert.

Film 1. O-Iwa: der klassische weibliche Rachegeist

Der Film „Tōkaidō yotsuya kaidan“ von 1959 gilt als Meisterwerk, Nakagawa Nobuo setzte mit den angewandten Stilmitteln Maßstäbe für weitere Geisterfilme.

Der Film kam im Hochsommer, zur Geistersaison, in die Kinos, und Elisabeth Scherer zeigt zahlreiche Motive auf, die deutlich machen, dass sich auch die Geschehnisse des Films im Sommer abspielen: das Sommerfeuerwerk im Hintergrund, Glöckchen mit dünnen Papierstreifen, die sich im Wind bewegen (fūrin), Mückennetze, das Zirpen der Zikaden (alles: Jahreszeitenanzeiger, kigo, S. 157-158).

Die Verfilmung orientiert sich eng an der Kabuki-Vorlage, übernimmt weitgehend den Handlungsverlauf und auch die darstellerischen Mittel, zum Beispiel die musikalische Untermalung, die Trommelwirbel, die die Mordszenen begleiten, oder stilisierte Kämpfe der Kontrahenten (tachimawari, S. 155).

Elisabeth Scherer stellt die Rolle von O-Iwas Schwester O-Sode heraus, die den Bösewichten standhaft widersteht und sich am Ende des Films in einem Duell mit Iemon für den Tod ihrer Schwester rächt (S. 173).

Iemon sieht in der Hochzeitsnacht mit seiner neuen Frau die Erscheinung von O-Iwa an der Decke.

16. Filmszene aus „Tōkaidō Yotsuya kaidan“.

Film 2. Miyagi und Wakasa: weibliche Geister in der chinesischen Erzähltradition

In dem Film „Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond“ von 1953 verbindet Mizoguchi Kenji zwei Episoden aus der Erzählsammlung „Ugetsu monogatari“, einer Geschichtensammlung von Ueda Akinari (1734-1809) aus dem Jahr 1776.

Zum einen ist dies „Das Haus im Schilfgras“: Eine Frau wartet lange auf ihren Mann, der sich auf eine Reise begeben hat, sie stirbt während seiner Abwesenheit und kann ihn nur noch als Geist begrüßen. Am Abend, als ihr Mann zurückkehrt, empfängt Miyagi ihn liebevoll, bewirtet ihn und kümmert sich fürsorglich um ihn. Sie entspricht den treuen Geister-Ehefrauen der chinesischen Vorlagen.

Zum anderen ist dies die Erzählung „Die Liebe einer Schlange“: Ein Mann verliebt sich in eine Geisterfrau, im Original eine Riesenschlange. Die verführerische Wakasa lebt in Luxus und gibt sich vergnüglich ihrem Verlangen hin. Erst schrittweise kommt heraus, dass sie schon lange tot ist (S. 180, S. 190-191). Die Musik, ihr Make-up, Kostüm und Schmuck sind im Stil des Nō-Theaters gehalten (S. 183). Sie gehört zum Typus der gefährlichen Geliebten, die ihrem Auserwählten mit ihrer Leidenschaft die Lebensenergie raubt. Auch dieses Motiv stammt ursprünglich aus China.

Koloriertes Filmplakat mit den Hauptfiguren des Filmes Ugetsu monogatari.

17. Filmplakat „Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond“ von 1953

Film 3. Sadako: Geister und moderne Medien

Der Film „Ringu“ von Nakata Hideo aus dem Jahr 1998 markiert den Höhepunkt des zweiten japanischen Geisterfilm-Booms. Elisabeth Scherer weist darauf hin, dass Motive des neuen Horrors (J-Horror) in den 1990ern aus urban legends beziehen (S. 146). Der Film spiegelt das Lebensgefühl in der anonymen Großstadt, in der Seltsames, Unberechenbares passiert, das außer Kontrolle gerät. Neben der spirituellen Veranlagung von Frauen (der Ort, der den Frauen Shizuko und ihrer Tochter Sadako ihre Kräfte verleiht, ist Ōshima, S. 213) spielt die Unkontrollierbarkeit der Medien eine zentrale Rolle (S. 228-233).

In „Ringu“ stirbt von einer Gruppe junger Leute, die bei einem Wochenendausflug gemeinsam gefeiert hat, eine Woche nach der Feier mysteriöserweise jedes einzelne Mitglied einen brutalen Tod. Nach und nach wird klar, dass es sich um den Fluch einer jungen Frau namens Sadako handelt, die in der Vergangenheit lebte und mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet war. Ihr Stiefvater ermordete sie brutal, indem er sie in einen Brunnen stürzte. Der Brunnen wurde später von dem Ferienhaus, in dem sich die Ausflügler aufhielten, überbaut. Der durch tiefen Groll in Sadako ausgelöste Fluch wird durch ein todbringendes Video übertragen, das die jungen Leute gemeinsam angeschaut hatten.

Ein Kopf mit langen, schwarzen Haaren steigt aus einem Brunnen hervor, unter den Haaren ist eine Reihe von Tellern zu sehen.
Die Erscheinung eines weiblichen Geistes vor einem Brunnen, die untere Körperhälfte löst sich auf.

18.-19. Seit jeher markieren Brunnen den Übergang in die andere Welt, sie sind Begegnungsorte der Lebenden und der Geister der Verstorbenen.

„Das Tellerhaus“ („Banchō sarayashiki“), die berühmteste Geschichte mit einem Brunnen im Zentrum, handelt von der hübschen Dienerin O-Kiku. Sie fällt ihrem Herrn ins Auge, lehnt dessen Avancen allerdings ab. Kurz darauf verschwindet einer der Teller, auf die sie achten soll. Sie wird für den Verlust verantwortlich gemacht und stirbt wenig später in dem Brunnen neben dem Haus (S. 216).

Zwei Interpretationen der O-Kiku, die erste von Hokusai.

Film 4. Asami: eine noch lebende, aber geisterähnliche Frau

Interessant ist die Wahl des letzten Filmes, den Elisabeth Scherer den Geisterfilmen zuordnet: In „Audition“ von 1999 lebt die Hauptfigur, trägt aber alle Eigenschaften eines weiblichen Geistes in sich, lehnt sich gegen erlittenes Unrecht auf und lässt ihrer Rache freien Lauf. Der Regisseur Miike Takashi stritt in einem Interview ab, dass es sich bei „Audition“ um einen Horrorfilm handle, aber fast die Hälfte der befragten japanischen Zuschauer sah eine Verbindung zu japanischen Geistergeschichten (S. 244-245).

Dazu tragen die weiße Kleidung der Hauptfigur Asami bei, ihre schlaffe Haltung und das passive Dahocken in einem heruntergekommenen Tatami-Zimmer (S. 255). Asami wurde als Kind missbraucht, und nach einem entwürdigenden Vorstellungsgespräch in einem Unternehmen lebt sie ihre Rache brutal aus: Sie foltert einen der beiden Interviewer. Die beiden Männer hatten die Frauen zu den Gesprächen eingeladen, nicht um eine Arbeitsstelle neu zu besetzen, sondern um für einen von ihnen eine Partnerin zu finden.

Warum Frauen?

Stellt sich die Frage, warum die überwiegende Mehrheit der Geister Frauen sind. Die meisten Autorinnen und Autoren sehen darin einen Spiegel der sozialen Verhältnisse: Die Leiden der gesellschaftlich benachteiligten, an den Rand gedrängten Frau rufen den rächenden Geist auf den Plan, der die unterdrückten Emotionen personifiziert.

Dies allein kann aber nicht Ursache für das häufige Auftreten weiblicher Geister sein. Die Lebensbedingungen für Frauen waren nach offizieller, durch Buddhismus und Konfuzianismus beeinflusster Weltanschauung schlecht, das praktische Leben aber sah oft anders aus: Je bedeutender ihre Arbeitskraft war, zum Beispiel auf dem Land oder bei Handwerkern und Kaufleuten, desto mehr Macht hatten Frauen im Alltag.

Deshalb sieht Elisabeth Scherer noch eine weitere Ursache für das häufige Auftreten weiblicher Geister: die Angst vor dem „anderen Geschlecht“, die tief verwurzelte Furcht von Männern, dass die Frauen, die schwächer sind als sie selbst, zur Bedrohung werden könnten. Die Filme zeigen in der Dämonisierung der Frau das „Monströs-Weibliche“ (S. 19); sie verdeutlichen, was passieren könnte, wenn gesellschaftliche Konventionen gebrochen würden, Frauen die ihnen zugeschriebene Passivität überwänden und ihre Wünsche, ihre Sexualität auslebten. Auffällig ist, dass die besprochenen Künstler der kaidanmono und Regisseure der Horrorfilme ausnahmslos Männer sind (S. 263).

Die Bedeutung der langen, schwarzen Haare

Unter den zahlreichen Motiven, die Elisabeth Scherer vorstellt, spielen die langen, schwarzen Haare eine besonders wichtige Rolle. Sie stehen in Japan für Jugend, Lebensenergie und Sexualität. Das lange Haar von Frauen hat den Ruf, außergewöhnliche Kräfte zu besitzen. Stirbt eine Frau mit langen, schwarzen Haaren, wurde sie um ihr Leben gebracht und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie als Geist wiederkehrt (S. 163).

Zerzauste Haare sind ein Zeichen des psychischen Zusammenbruchs (S. 164). In der Szene, in der O-Iwa sich vor Schmerzen krümmt und ihr klar wird, dass sie vergiftet wurde, geraten ihre Haare in Unordnung. Mit der Auflösung ihrer Frisur brechen ihre Gefühle hervor und sie entwickelt sich zu einem Rachegeist.

 

 

20. Die Dame ohne Gesicht (kejōrō) von Toriyama Sekien (1712-1788).

Aus einem Buch der Edo-Zeit: Bild einer Frauenfigur mit langen, offenen Haaren, die das Gesicht völlig verdecken.

Unzählige Motiv-Bausteine

Der Themenkomplex um weibliche Geister ist riesig, und Elisabeth Scherer hat für beide Teile des Buches aus einer großen Menge an Quellen und Sekundärliteratur repräsentative Beispiele ausgewählt. Im ersten Teil des Buches stellt sie die wichtigen Motive und Symbole, Erzählbausteine und Handlungsmuster, Schauplätze und Requisiten vor. Mit den feinen Beobachtungen, durch Abbildungen gut belegt, ist man hervorragend auf die Filmanalysen des zweiten Teils vorbereitet.

Dieses stringente Anknüpfen an die Analysen des ersten Teils macht deutlich, wie stark moderne Horrorfilme aus dem Figureninventar und den Handlungsmustern der älteren Geschichten schöpfen. Nur ein Beispiel ist die berühmte Szene aus dem Film „Ringu“, in der Sadako aus dem Fernsehschirm kriecht. Hier zieht Elisabeth Scherer die Parallele zu O-Iwa, die in einer Szene des Kabuki-Stücks „Tōkaidō Yotsuya kaidan“ aus der Laterne steigt (S. 223).

Dies verdeutlicht: Es sind bestimmte Erzähltraditionen, die über die Jahrhunderte weitergegeben werden und zu allen Zeit den ihnen eigenen Ausdruck finden. Während der Edo-Zeit waren es vor allem die Aufführungen des Kabuki-Theaters, die die Sinne der Zuschauerinnen und Zuschauer überlisteten. Der Film konnte da mit neuen Techniken nahtlos anknüpfen.

Geister sind en vogue: Es lohnt sich, sie zu untersuchen, denn ihre Motive und die Frage, wie sie befriedet werden können, sagen einiges über die Befindlichkeiten der Gesellschaft aus.

Shimobe Fudesuke auf einem Felsvorsprung an einem Wasserfall, im Wasserfall die Erscheinung eines weiblichen Geistes.

21. Im J-Horror gleichen die Geistergestalten äußerlich ihren Vorgängerinnen, sind aber mit anderen Ängsten besetzt (S. 259).

Susanne Phillipps

21.06.2021 (Ausgabe 03)

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Bildnachweis

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Buch-Arrangement Spuk der Frauenseele: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk.

01: By Sawaki Suushi (佐脇嵩之, Japanese, *1707, †1772) – scanned from ISBN 4-3360-4187-3., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5510196

02: By Maruyama Ōkyo – http://eee.uci.edu/clients/sbklein/GHOSTS/html/edoghosts/pages/oyuki.html, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9172709

03: Public Domain, https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=5853785

04: Von Katsushika Hokusai – scanned from ISBN 4-3360-4341-8., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5802587

05: By Rama, CC BY-SA 3.0 fr, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64060938

06: By Kakidai – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19859635

07: Von Juntaku – Internet, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19920237

08: Von WolfgangMichel – Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29941764

09: By Print artist: Utagawa Kuniyoshi (歌川国芳) – https://www.britishmuseum.org/collection/object/A_2008-3037-14721, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=89878549

10: By Creator:Enjaku – This file was donated to Wikimedia Commons as part of a project by the Metropolitan Museum of Art. See the Image and Data Resources Open Access Policy, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59374005

11: By Utagawa Kuniyoshi – Lyon Collection of Japanese Woodblock Prints, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=60453942

12: By https://www.britishmuseum.org/collection/object/A_2008-3037-21513, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=89913192

13: By Print artist: Utagawa Kuniyoshi (歌川国芳) – https://www.britishmuseum.org/collection/object/A_2008-3037-21513, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=89873864

14: By Shunbaisai Hokuei – https://www.metmuseum.org/art/collection/search/76565, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=95659628

15: By Utagawa Kuniyoshi – English Wikipedia, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2754220

16: 新東宝株式会社- http://higabros.blogspot.com/2009_08_01_archive.html, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9548985による

17: Von Daiei Motion Picture Company (大映株式会社, Daiei Kabushiki-gaisha), © 1937, – https://monstermoviemusic.blogspot.in/2014/07/ugetsu-monogatari-daiei-studios-1953.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3670653

18: By Hokusai – [1], Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=563083

19: By Tsukioka Yoshitoshi, Okiku, – From here., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=624386

20: By Toriyama Sekien (鳥山石燕, Japanese, *1712, †1788) – scanned from ISBN 4-336-03386-2., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2080105

21: By Tsukioka Yoshitoshi (Japan, 1839-1892) – Image: http://collections.lacma.org/sites/default/files/remote_images/piction/ma-31817497-O3.jpgGallery: http://collections.lacma.org/node/191601 archive copy, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27345121