Die Gemeinschaft erleben anstelle von Beten – Unterwegs auf den Pilgerpfaden der Welt

Vor einem bunten Hintergrund ist das Buch, das empfohlen wird, gemeinsam mit einer Marienfigur zu sehen.

Okamoto Ryōsuke (2019): Pilgrimages in the Secular Age. From El Camino to Anime. Übersetzt von Deborah Iwabuchi und Enda Kazuko. Tōkyō: Japan Publishing Industry Foundation for Culture (JPIC), 178 Seiten (japanisches Original von 2015).

Viele Menschen besuchen heilige Stätten, um zum Kern von Kulturen vorzustoßen, um eine besondere lokale Identität kennenzulernen. Heilige Orte sind wichtige Symbole, die sich dem Strom der Zeit entgegenzustellen scheinen, und oft wird übersehen, dass gerade sie unter dem Einfluss des Tourismus große Veränderungen erleben. So waren und sind beispielsweise Tourismus und Pilgern immer eng miteinander verbunden, und die Entdeckung, Wiederentdeckung, Auf- und Abwertung von heiligen Stätten ist durch eine sich ändernde Religiosität ständigem Wandel unterworfen.

Über den Autor

Okamoto Ryōsuke ist Dozent an der Hokkaidō Universität, Graduate School of International Media, Communication, and Tourism Studies. Im Rahmen seines soziologischen Forschungsschwerpunkts untersucht er, wie sich Traditionen durch den Einfluss von Medien und Tourismus verändern.

Sein Hauptinteresse gilt dabei der Frage nach der Stellung von Religionen in säkularisierten Gesellschaften: Wie existieren Religionen in Gesellschaften fort, deren Mitglieder sich im Alltag aus kirchlichen Bindungen gelöst haben? (S. 17).

Ausgangsunkt von Okamotos Forschungen war Frankreich, das ihm ein widersprüchliches Bild bot: Während die Messen am Sonntag kaum von Gläubigen besucht wurden, war eine schier unüberschaubare Menge an Pilgern auf den Jakobswegen unterwegs. In der Pilgerreise erkannte er interessante Vermischungen von religiösen Aspekten mit touristischem Interesse.

Monument 12 lebensgroßer Menschenfiguren, die den Jakobsweg entlangwandern: in Kleidung verschiedener Jahrhunderte, zum Teil auf Eseln, zum Teil mit Hunden.

01. Pilgerinnen und Pilger verschiedener Zeiten auf dem Jakobsweg. Skulptur von Vicente Galbete in Alto del Perdón, Spanien.

Über das Buch

Das Buch umfasst 177 Seiten und enthält

  • eine Einführung zur englischen Ausgabe;
  • ein Vorwort;
  • eine Einführung zum Hintergrund moderner religiöser Pilgerreisen;
  • sechs Kapitel, die anhand von Fallbeispielen die gegenseitige Beeinflussung von Religion und Tourismus behandeln;
  • ein Nachwort;
  • eine Bibliografie.

Das Buch wurde durch die Japan Publishing Industry Foundation for Culture (JPIC) übersetzt. JPIC wurde 1991 als gemeinnützige Körperschaft gegründet und 2012 in eine Stiftung umgewandelt. Ihre Aufgabe besteht darin, die Kultur der Verlagsbranche und das Lesen durch verschiedene Programme und Projekte zu fördern (vgl. in der Bundesrepublik Deutschland: Stiftung Lesen).

Ausgangspunkt: Heilige Orte als Ziele für Gläubige und Touristen

Heilige Stätten haben für eine Religion einen besonderen Status. In jedem Fall existiert eine Geschichte, die den Ort mit einem Gott, einem Heiligen oder einem Geist verbindet und somit zu etwas Besonderem macht. Traditionellerweise sind es religiöse Organisationen, die über die Geschichte eines Ortes entscheiden. Mit dieser „autorisierten Geschichte“ können sie den Ort und seine Nutzung kontrollieren (S. 24-25, 31).

Während der Edo-Zeit (1600-1868) waren in Japan das Pilgern und das Vergnügen am Reisen untrennbar miteinander verbunden. Das als Pilgern deklarierte Reisen war die einzige Möglichkeit, einmal im Leben den Alltag hinter sich zu lassen. Die Trennung zwischen Reisen und Pilgern kam erst mit der Meiji-Zeit (1868-1912) auf.

Heute ändert sich dies wieder, beide Aspekte sind oft nicht mehr klar voneinander zu trennen. In dem Buch behandelt Okamoto mehrere Beispiele für die Vermischung religiöser und touristischer Reisen. So stellt er zum Beispiel fest, dass sich die meisten Pilger auf den Jakobswegen nicht als Christen betrachten. Diese „nichtreligöse Pilgerschaft“ ist nicht auf Europa beschränkt, sondern auch auf Pilgerwegen in Japan zu beobachten. Der Begriff „nichtreligiös“ bedeutet in diesem Fall „no connection to any particular organized religion“ (S. 23-24, 26).

Bronzefigur eines gehenden Pilgers mit großem Rucksack, eingerollter Schlafmatte, Jakobsmuschel und Pilgerstab.
Figur einer sitzenden Pilgerin, die den rechten Schuh ausgezogen hat und sich ihren wehen Fuß anschaut.

02.-03. Figuren in typischen Situationen entlang der Jakobswege.

Religion als Privatangelegenheit

Laut Wikipedia ist „Religion“ ein Sammelbegriff für viele unterschiedliche Weltanschauungen, deren Grundlage der jeweilige Glaube an bestimmte transzendente (überirdische, übernatürliche, übersinnliche) Kräfte sowie häufig auch an heilige Objekte darstellt.

Okamoto definiert „Religion“ über funktionale Aspekte, von denen der wichtigste der Aspekt der Sinnfindung ist: „a system of beliefs and practices by means of which a group of people struggles with … the ultimate problems of human life“ (S. 35, nach J. Milton Yinger).

Er macht darauf aufmerksam, dass säkularisierte Gesellschaften nicht in gleichem Maße wie Gesellschaften mit einer kollektiven Religionstradition über allseits akzeptierte Bräuche und Wertesysteme verfügen. In säkularisierten Gesellschaften ordnen Regeln und Gesetze den Umgang miteinander, aber Weltanschauungen und Werte einzelner können enorm voneinander abweichen.

Damit ist Religion zur Privatangelegenheit geworden: Viele Menschen bedienen sich nur noch ausschnitthaft eines religiösen Systems (das sie oftmals als Ganzes gar nicht mehr akzeptieren) oder kombinieren (für sie praktikable) Aspekte unterschiedlicher Religionen miteinander. Okamoto nennt diesen Vorgang „Privatisierung der Religion“, und diese individuelle Religiosität spielt bei den von ihm angeführten Beispielen eine wichtige Rolle. „Spiritualität“ sieht er als ein Ergebnis dieser Privatisierung von Religion; der Begriff wird meist außerhalb traditioneller Religionen benutzt (S. 30-31).

Das Buch behandelt Beispiele von heiligen Stätten in Europa und in Japan, bei denen Menschen, die keiner organisierten Religionsgemeinschaft angehören, sich damit nicht an den vorgegebenen Geschichten orientieren und eigene Vorstellungen an einen Ort herantragen. Sie verhalten sich anders als vorgesehen, beten zum Beispiel nicht vor einem Schrein-Gebäude, sondern berühren und umarmen Bäume auf dem Schrein-Gelände (S. 33).

Das heißt: Okamotos Anliegen in diesem Buch ist es nicht, die besonderen Eigenschaften und damit Unterschiede von Christentum, Shintoismus, Buddhismus oder den Neuen Religionen Japans zu erklären. Er konzentriert sich auf ein aktuelles Phänomen, das sich sowohl in Europa wie auch in Japan in den letzten Jahren großer Beliebtheit erfreut: dass sich immer mehr Menschen auf den Weg machen, um zu einem heiligen Ort zu reisen oder zu pilgern.

Realistisches Portrait eines Mannes mit Rucksack, Jakobsmuschel und Pilgerstab, über die gesamte Hauswand hinweg.

04. Eines von mehreren Graffitis von berühmten Pilgerreisenden auf dem Jakobsweg, hier des Journalisten Antón Pombo.

Im Zentrum von Okamotos Überlegungen: Die Schaffung von Authentizität

Okamoto fragt, warum Menschen an bestimmte – im Falle des Pilgerns an heilige – Orte reisen. Als wichtigsten Anziehungspunkt sieht er die Authentizität, die diese Stätten ausstrahlen. „Authentizität“ bedeutet „Echtheit im Sinne von Ursprünglichkeit“: aus archäologischer bzw. historischer Sicht keine Fälschung. In vielen Fällen kann dies aber nicht eindeutig entschieden werden. Im ersten Kapitel geht Okamoto deshalb der Frage nach, wie und aus welchem Grund Orte als authentisch wahrgenommen werden.

Dazu erklärt er ausführlich die Vorgehensweise der katholischen Kirche, die den Kanon der Heiligen sowie der Orte, die als heilige Stätten gelten, festlegt: oft Stätten, an denen Reliquien aufbewahrt werden oder an denen eine Marienerscheinung stattfand.

Reliquien sind Überreste (oftmals Knochen) vom Körper einer/eines Heiligen oder Gegenstände, die mit ihr bzw. ihm in Verbindung gebracht und verehrt werden (z.B. Kleidungsstücke). Im Katholizismus haben Reliquien keine übernatürlichen Kräfte, schaffen aber eine physische Verbindung von einem Ort zu einem höheren Wesen, die Möglichkeit, der/dem Heiligen durch ein Objekt näher zu kommen, und verleihen dem Ort somit eine besondere Bedeutung.

 

Prächtig ausgeschmückter und verzierter Glaskasten, der einen Knochen beinhaltet.

05. Behältnis (Reliquiar) mit einer Knochenreliquie des Heiligen Otto im Bamberger Dom.

Vergoldetes Silbergefäß in Form eines Unterarms und einer Hand, mit Edelsteinen besetzt, darin ein mumifizierter Finger.

06. Armreliquiar des Heiligen Nikolaus aus dem Domschatz Halberstadt, innen ein mumifizierter Finger.

Im Mittelalter bedeutete der Besitz bedeutender Reliquien politische und wirtschaftliche Macht. Es gab Händler, die eigens auf den Vertrieb von Reliquien spezialisiert waren. Kaiser und Adlige erwarben Reliquien und schenkten sie an Kirchen und Klöster. Mit einem solch bedeutenden Akt stellten sie ihre eigene wirtschaftliche Macht zur Schau und förderten zugleich ihr Seelenheil (S. 43-44).

Ähnlich wie in der katholischen Kirche gibt es Orte, an denen Reliquien Buddhas (Asche, Knochen, Haare, Zähne) aufbewahrt werden.

Von Marienerscheinungen wird vor allem in Frankreich im 19. Jahrhundert berichtet. Die Gläubigen, denen Maria erschien, berichteten von Botschaften und Heilsversprechen. Der weltweit berühmteste Ort von Marienerscheinungen ist Lourdes in Südfrankreich. Okamoto weist auf die potenzielle Bedrohung von Marienerscheinungen für die Kirche hin, wenn diese mit bestimmten, der Kirche gegenüber durchaus kritischen Botschaften einhergehen (S. 51). Die Anerkennung als Ort einer Marienerscheinung seitens der Kirche ist daher langwierig und aufwendig.

Heller Altarraum einer Kapelle in Weiß und Hellblau, im Zentrum eine Marienfigur.

07. Die Kapelle Unserer Lieben Frau von der Wundertätigen Medaille (Chapelle Notre Dame de la Médaille Miraculeuse) ist ein bedeutender Ort der Marienwallfahrt. Hier hatte Schwester Catherine Labouré (1806–1876) 1830 mehrere Marienerscheinungen. Während einer Erscheinung wurde sie aufgefordert, Medaillen prägen zu lassen. Diese wundertätigen Medaillen (Médailles miraculeuses) sollen Gläubigen, die sie mit Vertrauen tragen, helfen.

Viele weiße, eng nebeneinander angebrachte Tafeln mit der Aufschrift „Merci / A Marie“ und Jahreszahl.

08. Votivtafeln, die von Gläubigen als Dank für eine überstandene Krankheit oder Krise angefertigt und in der Kapelle angebracht wurden, in der sie Maria um Beistand gebeten hatten.

Die Einzigartigkeit von Orten

Für nichtgläubige Besucher sollten heilige Stätten im Grunde keine Besonderheit darstellen, und doch reisen sie hin. Sie machen dabei keinen Unterschied zum Besuch historischer Orte wie einer alten Burg oder dem Wohnhaus einer Berühmtheit vergangener Jahrhunderte.

Laut Okamoto suchen sie dabei eine bestimmte Echtheit des Ortes, die auch dann gegeben sein kann, wenn der Ort inzwischen restauriert oder gar vollständig neu errichtet wurde. Als Beispiel führt er Burg Shurijō auf Okinawa an, die mehrfach zerstört und wieder detailgetreu aufgebaut wurde (und nach der letzten Brandkatastrophe 2019 auch jetzt gerade wieder neu errichtet wird).

Entscheidend für Touristen ist die Einzigartigkeit und Ungewöhnlichkeit eines Ortes, und heilige Stätten mit ihren besonderen Geschichten reihen sich hier sehr gut ein, sie werden zu sehenswerten touristischen Attraktionen (S. 56).

Dass die Vermengung zwischen dem touristischen Reisen und dem religiösen Pilgern komplex ist und überraschende Wendungen bereithält, zeigt Okamoto in den folgenden Kapiteln seines Buches.

Pilgerreisen auf den Jakobswegen

Zunächst macht Okamoto deutlich, wie in den 1990er Jahren die Beliebtheit des Pilgerns auf den Jakobswegen durch verschiedene Medienereignisse immens zunahm. Dazu zählten die Registrierung des Wegenetzes als Weltkulturerbe durch die UNESCO im Jahr 1993, vor allem aber auch Bücher und Filme berühmter Pilgerreisender, die durchaus nicht im streng katholischen Sinne unterwegs waren.

Europa-Karte mit einem Netz an Wegen, die farblich unterschiedlich markiert sind.

09. Das Netz der Jakobswege in Europa.

Die religiöse Wallfahrt war in der Vergangenheit eine Fahrt oder Wanderung zu einer heiligen Stätte aus einem bestimmten religiösen Motiv heraus (z. B. Buße, Suche nach Heilung) und mit dem großen Ziel, vor der Reliquie zu beten. Okamoto war selbst auf den Jakobswegen unterwegs und führte Interviews mit Pilgerinnen und Pilgern. Die Beschreibung seiner Erfahrungen ist interessant und mündet in die Erkenntnisse,

 

  • dass sich die heutigen Pilgerinnen und Pilger über Internet und Bücher bestens informiert auf den Weg machen und durch zwar persönliche, aber doch immer wieder ähnliche Beschreibungen sehr präzise Vorstellungen davon haben, wie eine Pilgerreise abzulaufen hat;
  • dass sie das Hauptziel, in Santiago de Compostela anzukommen, durch das Erlebnis des Unterwegsseins ersetzt haben: „… they have replaced the importance of the relic with the importance of the journey“ (S. 67).
Gelbe Muschel auf blauem Grund als Symbol des Jakobswegs.
Wegweiser in Form eines Hinweisschild auf einen Wanderweg.

10.-11. Wegweiser auf den Jakobswegen.

Auf Lateinisch verfasst Urkunde, in die Name und Datum eingetragen wurde.

12. Pilgerzertifikat, das 2013 in Santiago di Compostela ausgestellt wurde.

Gleiches beobachtet Okamoto auf dem Pilgerweg der 88 Tempel auf Shikoku, dem Kumano kōdō auf der Kii-Halbinsel und dem Pilgerweg von Tōkyō zum Berg Fuji (S. 71): Das Wandern selbst wird zu einer spirituellen, religiösen Erfahrung.

Mann mit Pilgerhut und weißem Oberteil.

13. Pilger auf der Insel Shikoku.

Auf Japanisch ausgestellte Urkunde, zwei Zettel von Tempeln und eine Anstecknadel in der Form der Insel Shikoku.

14. Anstecknadel, einzelne Tempelkarten und Pilgerzertifikat der 88 Tempel von Shikoku.

Der Einfluss nichtreligiöser Institutionen wie das Welterbe-System der UNESCO

Nichtreligiöse Instanzen können dabei enormen Einfluss auf die Wahrnehmung von traditionellen heiligen Stätten haben. Für eine erfolgreiche Bewerbung zum Weltkulturerbe durch die UNESCO wird oftmals der (ehemalige) religiöse Wert einer Region hervorgehoben. So auch beim Berg Fuji, wo die Bewerbung nach einem gescheiterten Versuch erst mit einem weiteren Anlauf positiv beschieden wurde. Bei diesem zweiten Versuch wurde der Berg als kultureller Ort auswiesen, an dem in der Vergangenheit die Shintō-Religion eine bedeutende Rolle spielte (S. 83-84).

Im Vordergrund eine Pagode und rosa Kirschblüten, im Hintergrund vor dem blauen Himmel der schneebedeckte Berg Fuji.

15. Der Berg Fuji ist Weltkultur-, nicht Weltnaturerbe.

Aber oftmals führen Werbekampagnen für einen Ort Traditionen an, die nicht althergebracht sind oder im Lauf der Jahrhunderte ganz unterbrochen waren. Eine Ernennung zum Weltkulturerbe wirkt sich stark auf den Bekanntheitsgrad und damit auf den Tourismus einer Region aus und kann Konflikte zwischen noch praktizierten religiösen Bräuchen und dem neu aufbrandenden Tourismus nach sich ziehen. Lokal praktizierter Glaube verändert sich, wenn sich eine Stätte für Touristen öffnet, und dabei gehen traditionelle Elemente verloren und neue werden generiert.

Das „Grab Jesu“ in Japan

Völlig auf den Kopf gestellt wird der Sachverhalt in Shingō (Aomori) bei einem als „Grab Jesu“ bezeichneten Hügelgrab, bei dem es sich ganz offensichtlich weder aus historischer noch aus religiöser Perspektive um das Grab Jesu handeln kann. Okamoto nennt das vierte Kapitel seines Buches deshalb: „Making a Sacred Spot: How Authenticity is born of a Sham“.

In dem Kapitel erklärt er die Entstehungsgeschichte der Legende um das Grab nach den so genannten „Takeuchi-Dokumenten“, die erzählen, dass Jesus einst in Shingō lebte. Es sind keine Geschichten, die in der Gegend über Jahrhunderte verankert gewesen wären, sie kamen erst in den 1930er Jahren auf, und die meisten Anwohner glauben nicht an ihre Echtheit.

Treppen hinauf zu einem Grabhügel, an der Seite eine Tafel mit Erklärungen auf Englisch und Japanisch.

16. Grabhügel: angebliches Grab von Jesus.

Aber besonders während des so genannten „occult boom“ in den 1970er Jahren rückte der Ort in das Rampenlicht. Inzwischen findet jedes Jahr im Juni ein Fest nach shintoistischem Ritus (Matsuri) auf dem Gelände des Grabes statt, zu dem Tausende Pilger und Touristen anreisen (S. 109-111).

Okamoto legt in dem Kapitel ausführlich dar, wie ein Ort mit gefälschter Geschichte zu einer besonderen Stätte werden konnte. Er sieht in den Reisen nach Shingō einen Ausdruck individueller Religiosität in einer modernen Gesellschaft. Während die örtlichen Behörden den Tourismus ankurbeln, scheint der Ort für viele Besucherinnen und Besucher ein Kraftort (Power Spot) zu sein, an dem sie eine Art von spiritueller Kraft verspüren. Zudem kommen die Anwohner bei dem Fest zusammen und finden in den Aktivitäten rund um das Grab ihre regionale Identität. In dem Miteinander von Angereisten und Anwohnern können intensive, fast als „religiös“ zu bezeichnende Erfahrungen gemacht werden (S. 121).

Der Boom an so genannten „Power Spots“ in Japan

Dies führt Okamoto zu seinem nächsten Thema: dem explosionsartigen Anstieg der Zahl so genannter „Kraftorte“ in der Gegenwart. Als wichtige Ursachen für diesen „Power Spot-Boom“ in Japan sieht er mehrere Punkte: die wichtige Rolle der Massenmedien, der im Shintō innewohnende Animismus und das Fehlen von religiösen Aufsichtsinstitutionen, die über die Zulassung als heilige Stätte entscheiden (S. 123-125).

Das plötzliche Auf und Ab der Beliebtheit lokaler Gottheiten hatte laut Okamoto schon in der Edo-Zeit eine gewisse Tradition, und der Prozess des Bekanntwerdens lief stets nach einem bestimmten Muster ab (hayari-gami, wörtl. „Mode-Gottheiten“, „Trend-Gottheiten“, nach Miyata Noboru, S. 126).

Interessant für Okamoto ist die Entwicklung, der einen Ort heute zu einem „Power Spot“ werden lässt, also das Phänomen, wie einem Ort ein neues Image bzw. ein neuer „Mythos“ zugeschrieben wird. Er unterscheidet dabei drei Prozesse und führt interessante Beispiele an, deren Entwicklung er nachzeichnet.

Der Begriff „Power Spot“ hat weder religiöse Konnotationen noch wirkt er zu traditionsbeladen, ist also bestens zur neutralen Vermarktung von Orten geeignet. In den meisten Fällen sind junge Frauen die Zielgruppe von Verlegern, Fernseh-Berühmtheiten oder spirituellen Beratern, und oft arbeiten Schreine an der Image-Kampagne mit, auch wenn sie der Kritik ausgesetzt sind, ihre heilige Stätte zu kommerzialisieren. Tatsache ist, dass Menschen, die sich von Power Spots angezogen fühlen, keine lange und intensive Bindung zu ihm aufbauen, wie dies Gläubige tun, die sich einer Religion zugehörig fühlen. Okamoto bezeichnet daher den Power Spot-Boom als „spread of religion without belief“ (S. 129, 131, 134-135, 137, 140-143).

Mit bemoosten Steinen eingefasst Quelle.

17. Die Kiyomasa-Quelle am Meiji-Schrein in Tōkyō gilt als Power Spot.

Eine Vielzahl an heiligen Stätten

Bei der Bestätigung der „Echtheit“ von Orten unterscheidet Okamoto die beiden Konzepte der „cool authentication“ und „hot authentication“ (in Anlehnung an Erik Cohen und Scott Cohen, S. 145). Bei der „kühlen Authentifizierung“ entscheiden gesellschaftlich anerkannte Institutionen wie die UNESCO-Kommission über die Wertigkeit eines Ortes.

Bei der „heißen Authentifizierung“ schreiben Gruppen ohne besondere Autorität einem Ort einen bestimmten Wert zu. Mit ihren Aktivitäten machen sie die Stätte, zu der sie sich stark hingezogen fühlen, auf eher privater Ebene bedeutsam.

Beide Kategorien sind nicht für immer festgelegt, sie können beide Aspekte miteinander vereinen (wie das Netz der Pilgerwege nach Santiago de Compostela) oder sich verändern. Viele Orte, die heute offiziell bestätigte heilige Stätten sind („cold sacred sites“), waren einmal „hot sacred sites“, die durch die Begeisterung einer Gruppe von Menschen geschaffen wurde.

Zu empfehlen –

– wegen der Verständlichkeit

Okamoto schreibt trotz der Komplexität des Themas sehr anschaulich und verständlich und gibt für die grundlegenden Begrifflichkeiten (die von ihm angewandten) Definitionen: Was ist eine Religion, was sind Heilige, was bedeuten Reliquien, was ist eine Pilgerreise, was ist die Rolle des Papstes, was bedeutet „Ablass“ im katholischen Sinne? Die Zielgruppe des Buches war in der Originalfassung eine japanische, nicht in der christlichen Tradition aufgewachsene Leserschaft, aber auch für englischsprachige Leserinnen und Leser, die keinen Bezug (mehr) zur Kirche haben, können diese Erklärungen hilfreich sein. 

– wegen der vielen Beispiele

Okamoto urteilt nicht über das Verhalten, das er bei den Pilgerreisenden beobachtet. In allen Beispielen der Vermengung von Tourismus und Religion sieht er neue Formen von Erfahrungen, bei denen die traditionellen Religionen nicht verloren gehen, sondern über ihre bisherigen Grenzen hinaus neue Formen annehmen (S. 77). Trotz offensichtlicher Vermarktungsinteressen der jeweiligen Orte – die auch bei den traditionellen heiligen Stätten nicht fehlen – gesteht er den Reisenden besondere Erfahrungen zu.

Diese rühren von der Gemeinschaft her, die an diesen Orten entsteht, oft allerdings nur vorübergehend. Was den so genannten Power Spots fehlt, ist ein Gedankengerüst im Hintergrund, und wenn das Medieninteresse an ihnen nachlässt, dann fällt auch die Zahl der Besucherinnen und Besucher.

Okamoto betrachtet dies als gesellschaftliches Phänomen, sein Standpunkt ist ein soziologischer, kein religionswissenschaftlicher, der weitaus kritischer ausfallen würde. Gerade dies macht sein Buch interessant: dass er die traditionellen heiligen Stätten ohne Vorbehalte mit den verschiedensten in neuster Zeit als „heilig“ wahrgenommenen Orten gemeinsam abhandelt und überraschende Übereinstimmungen feststellt.

– wegen der Aktualität

Besondere Orte werden heutzutage nicht mehr von traditionellen Religionen allein bestimmt. An mehreren Stellen des Buches streicht Okamoto die besonders wichtige Rolle der Medien heraus.

So zählen zu den neuen heiligen Stätten in Japan auch Orte, die dem Setting von sehr erfolgreichen Anime-Filmen als Vorlage dienten. Wird ein Ort als Vorlage erkannt, machen sich viele Fans auf die Reise, um ihn in echt zu erleben. Schreine vor Ort veranstalten dann spezielle Anime-Feste, bei denen sich Einheimische und zugereiste Fans vermischen und neue Formen des gemeinsamen Feierns entwickeln (S. 149, 151).

Mit Manga-Figuren bedruckte Holztäfelchen, die beschriftet und aufgehängt wurden.

18. Votivtäfelchen (ema) am Washinomiya-Schrein, der zu einer Pilgerstätte von Anime-Fans wurde.

Zusammenfassend kann man sagen: Das Buch von Okamoto Ryōsuke ist lesenswert, da seine Ausführungen interessante, fachübergreifende Denkanstöße zum Thema Religiosität in der Gegenwart enthalten.

Susanne Phillipps

21.12.2022 (Ausgabe 09)

Datenschutzhinweis: An dieser Stelle ist eine Anmerkung notwendig. Ich habe meine Website selbst erstellt, sie nutzt weder Cookies für Webtracking noch Web-Analyse-Programme. Ich verweise auf meine Datenschutzerklärung und verstehe die weitere Nutzung meiner Website als Einverständniserklärung.

Bildnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Buch-Arrangement Pilgern: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: Von Iñaki LL – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=92346214

02: Von P.Lameiro – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31251922

03: Von P.Lameiro – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35169402

04: Von Lameiro – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=116092432

05: Von TeWeBs – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=81848534

06: Von Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Foto: Bertram Kober/punctum – Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Domschatz Halberstadt. Copyright, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=103045929

07: Von jean-louis Zimmermann from Moulins, FRANCE – chapelle de la rue du Bac (PARIS,FR75)Uploaded by paris 17, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=23094444

08: Von André Leroux – « œuvre personnelle », Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22586698

09: Von Manfred Zentgraf, Volkach, Germany – Manfred Zentgraf, Volkach, Germany, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=748316

10: Von Llumeureka – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48347043

11: Von Jkü – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7190021

12: Von Mmacbeth – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38648753

13: By AUTUMNSNAKE – Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2122115

14: By Dokudami – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32235932

15: Von https://www.flickr.com/photos/reggiepen/ – https://www.flickr.com/photos/reggiepen/17025277650/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=67128875

16: By ウィキ太郎(Wiki Taro) – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=71540975

17: By Chris 73 / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1780581

18: By Nao Iizuka – https://www.flickr.com/photos/iizukanao/14253816453/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=86817297