Selbstbestimmt und unabhängig – Katō Shizue, eine wichtige Vertreterin der Frauenbewegung in Japan

Das Buch liegt auf einer alten Reiseschreibmaschine, daneben eine wertvolle japanische Geldbörse.

Ishimoto Shidzué (2018). Ein Leben in zwei Welten. Erstübersetzung ins Deutsche von Gerhard Bierwirth mit Harald Raykowski. München: Iudicium. Eine Publikation der OAG Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, Tōkyō. Original: „Facing two Ways – The Story of My Life” by Baroness Shidzué Ishimoto [1935]; broschiert, 370 Seiten.

Ishimoto Shidzué oder Katō Shizue – zum Namen gleich mehr – vereint in ihrem Leben ungewöhnlich gegensätzliche Erfahrungen, im Grunde aus viel mehr als nur zwei Welten, wie im Titel angedeutet. Am 2. März 1897 als Hirota Shizue in eine Familie des japanischen Hochadels geboren, wurde sie zunächst nach streng traditionellen Vorstellungen erzogen. In einer ersten, arrangierten Ehe war sie dreißig Jahre lang (von 1914 bis 1944) mit ihrem ersten Ehemann Baron Ishimoto Keikichi verheiratet. Zu dieser Zeit lernte sie als junge Frau die USA und Europa kennen, knüpfte Kontakte zu Frauen, die sich für ihre Rechte einsetzten, und engagierte sich zunehmend politisch. Ihren Fokus legte sie auf die Familienplanung.

Als das Ehepaar sich auseinandergelebt hatte, dauerte es lange Jahre, bis die männlichen Familienmitglieder ihre Zustimmung der Scheidung, das heißt der Streichung ihres Namens aus dem Familienregister des Ehemanns, zustimmten. Danach heiratete sie den Sozialisten Katō Kanjū, den sie bei ihrer gemeinsamen politischen Arbeit kennengelernt hatte und mit dem sie bis zu dessen Tod im Jahr 1978 zusammen war.

Auf vielen Gebieten handelte sie als Pionierin. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie als eine der wenigen ersten Frauen erst in das japanische Unterhaus, später in das Oberhaus gewählt und war über dreißig Jahre lang politisch aktiv. Am 22. Dezember 2001 verstarb Katō Shizue im Alter von 104 Jahren.

Portrait einer jungen Japanerin mit hochgesteckten Haaren in traditionellem Kimono.

01. Ein Portraitfoto vom Juni 1914

Die Autobiografie

Katō Shizue verfasste diese Autobiografie schon 1935 mit noch nicht einmal 40 Jahren, und zwar auf Englisch für eine US-amerikanische und britische Leserschaft. Das Buch wurde veröffentlicht, als sie noch den Familiennamen ihres ersten Ehemanns, Ishimoto, trug. Der Buchstaben „D“ in der Umschrift ihres Vornamens „Shidzue“ war als Aussprachehinweis für das ausländische Publikum eingefügt. Um Verwirrungen zu vermeiden, werde ich sie in dieser Empfehlung durchgehend als „Katō Shizue“ bezeichnen.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung warteten noch mehr als 65 Lebensjahre auf sie, die sie mit den unterschiedlichsten Vorhaben ausfüllen und in denen sie weitere Autobiografien schreiben sollte. Doch auch mit Mitte Dreißig hatte sie schon unfassbare Wendungen in ihrem Leben durchgemacht. Das Buch besteht aus 12 chronologisch angeordneten Kapiteln und einem Anhang.

Schwarzweiß-Portrait einer Dame im Kimono

02. Katō Shizue, 1932 aufgenommen während einer Vortragsreise durch die USA.

Die Hauptüberschriften der Kapitel geben Hinweise auf die Inhalte:

  1. Meine unbeschwerte Kindheit im schon teilweise verwestlichten Tokyo: Schilderung eines wohlhabenden Familienlebens inmitten der japanischen Modernisierung und Industrialisierung
  2. Meine Schulzeit: Besuch einer Schule speziell für Kinder adliger und begüterter Familien
  3. Ich lerne, bewusster zu leben: Ausbildung in den klassischen Künsten und zugleich auch intellektuelle Neugier
  4. Mein Leben in Verantwortung beginnt: Heirat und Umzug zur Familie des Ehemanns
  5. Wir schlagen unser Domizil in einer Bergbauregion auf: Umzug des Ehepaars nach Kyūshū, Beginn eines neuen Lebens unter äußerst harten Bedingungen
  6. Ich bereite mich auf ein Leben in Unabhängigkeit vor: Reise des Ehemanns in die USA; Katō Shizue folgt ihm nach. Ihr Mann verlangt, dass sie eine „moderne Frau“ werden und ihr Leben selbst in die Hand nehmen solle. Er orientiert sich politisch um, wird in seinen Erwartungen allerdings tief enttäuscht; gemeinsame Reise des Ehepaars durch Europa.
  7. Ich verdiene mein eigenes Geld und reise nach Korea und China: Katō Shizue arbeitet in Tokyo als Sekretärin. Während sie erfolgreich ein Geschäft für Garne und Strickwaren führt, scheitert ihr Ehemann mit seinen Vorhaben finanziell; Asien-Reise mit dem Ehemann. Japan-Besuch der US-Amerikanerin Margaret Sanger, die sich für Familienplanung einsetzt, Katō Shizue ist während dieser Zeit an ihrer Seite; starke Widerstände von der Familie und aus ihrem früheren Umfeld.
  8. Unsere zweite Reise in die USA und nach Europa: Katō Shizue knüpft weitere Kontakte in den USA, gemeinsam bereist das Ehepaar das vom Ersten Weltkrieg zerstörte Europa.
  9. Unsere Eheprobleme verschärfen sich: Der Ehemann, der zuvor äußerst progressive Ideen vertrat, schwenkt um und erwartet von seiner Frau nun ein Leben nach traditionellen Vorstellungen.
  10. Was kann mir der Buddhismus geben? Katō Shizue stellt die Ideen und Grundannahmen verschiedener buddhistischer Schulen vor und legt die Gründe dar, warum sie sich von welcher Richtung persönlich angesprochen fühlt.
  11. Die japanische Frauenbewegung: theoretische Grundlagen, historische Entwicklung und verschiedene Ausrichtungen
  12. Ich mache eine lange Vortragsreise durch die USA und beginne ein neues Kapitel: mit Plänen für Japan, unter anderem der Eröffnung einer Praxis für Empfängnisverhütung.
Schwarzweiß-Fotografie eines Tors, das über eine breite Einfahrt zu einem weitläufigen parkähnlichen Anwesen führt.

03. Eingangstor zur Gakushūin, ursprünglich eine Bildungseinrichtung für die Kinder des japanischen Adels. Gebracht wurden die sorgsam behüteten Kinder in Kutschen oder Rikschas von der Dienerschaft, die im Park auf Schulschluss wartete und die Haare der Kinder neu frisierte, falls die Frisur beim Spielen verrutscht war (S. 51-55). Wie überall bestand das Spielen im Nachahmen der Erwachsenenwelt, in diesem Fall der Zeremonien am Hofe (S. 56). Und tatsächlich erhielten die Absolventinnen ihre Zeugnisse bei der Abschlusszeremonie aus der Hand der Kaiserin (S. 84).

Der Anhang umfasst zwei Zeittafeln (die erste mit ausgewählten historischen Daten, die zweite mit einer Übersicht zu Katō Shizues Leben), außerdem die Übersetzung des Textes „Die Hohe Schule der Frauen“ („Onna daigaku“, ein neokonfuzianischer Lehrtext aus dem 18. Jahrhundert), in einer Übersetzung ins Deutsche von Koike Kenji aus dem Jahr 1939.

Das Buch enthält knapp 30 Fotografien in Schwarzweiß. Schon allein beim Betrachten dieser Fotos wird deutlich, in welch verschiedenen Welten sich Katō Shizue bewegte: Auf einigen Bildern ist sie in einen erlesenen Kimono gehüllt, auf anderen posiert sie in einem westlichen Partykleid, mal ist der üppige Garten des Familienanwesens zu sehen, dann die trostlose Bergbauregion von Kyūshū.

Die Übersetzung

Katō Shizue veröffentlichte ihre Autobiografie auf Englisch für eine ausländische Leserschaft. Der deutsche Text ist also eine Übersetzung aus dem Original (und wurde nicht vom Japanischen ins Englische und von dort ins Deutsche übertragen).

Gerhard Bierwirth (geb. 1943) promovierte in Englischer Literatur und arbeitete danach in Kulturbereichen auf den unterschiedlichen Kontinenten der Welt. Er legte zahlreiche Übersetzungen englisch- und französischsprachiger Literatur vor.

Harald Raykowski (geb. 1943) unterrichtete englische und irische Literatur an der Universität Frankfurt. Von ihm liegen zahlreiche Literaturübersetzungen aus dem Englischen vor.

Schwarzweiß-Fotografie einer Menschenmenge rund um einen Wagen, auf dem eine Frau steht, die zu den Menschen hinunter spricht.

04. Die US-amerikanische Frauenrechtlerin Mary Ritter Beard, hier leider nur von hinten zu sehen, steht in einem offenen Wagen vor dem Innenministerium in Washington und spricht zu einer Menschenmenge auf der Straße. – Auf Beards Vorschlag hin begann Katō Shizue mit der Niederschrift ihrer Autobiografie. Erst fünfzig Jahre später, 1985, wurden diese ins Japanische übersetzt (Helen M. Hopper, S. 50-51).

Anmerkung: Helen M. Hopper bietet eine kenntnisreiche politische Biografie (mit leider kleinen Fehlern in den Jahreszahlen). Sie verdeutlicht die Zusammenarbeit von Katō Shizue mit Intellektuellen, Schriftsteller/innen und Künstler/innen, ihre internationalen Kontakte und ihren Mut, in politisch schwierigen Zeiten zu handeln.

Helen M. Hopper (2004): „Katō Shidzue. A Japanese Feminist“, New York u.a.: Pearson Longmann (Reihe „The Library of World Biography”).

Rückblick: Kindheit und Jugend in Zeiten des Umbruchs

Katō Shizue eröffnet das Buch mit einer Beschreibung der Lebensweise ihrer Familie und der Lage Japans zur Zeit ihrer Geburt am Ende des 19. Jahrhunderts. Aus dem gesellschaftlichen Panorama, das sie zeichnet, geht hervor, dass auch nach Jahrzehnten der Modernisierung und Industrialisierung die gesellschaftlichen Klassen klar voneinander getrennt lebten (S. 13).

Der Vater, ein Angehöriger der adligen Samurai-Schicht, der in den Umbruchszeiten einen neuen Lebensweg einschlagen musste, studierte als einer der Privilegierten unter ungeheuerlichen Anstrengungen an der Kaiserlichen Universität Tōkyō und wurde Maschinenbauingenieur (S. 15). Er kleidete sich westlich, sprach Englisch, entwarf Fabriken, aber seine Ansichten waren noch ganz und gar „von der feudalen Ideologie durchdrungen“ (S. 16). 

Und dies galt laut Katō für die meisten Angehörigen des Adels (S. 56). Den Jungen kam eine hervorragende Ausbildung in Technik und Wissenschaft zu, Mädchen wurden in den traditionellen Künsten unterrichtet. Mehrmals erwähnt Katō das bedingungslose Einstudieren der Regeln, der Etikette und speziellen Benimmregeln, das Lernen an sich bezeichnet sie als „Formsache“ oder „Ritual“ (S. 65). Im Hintergrund stand die Ansicht, zu viel Bildung „schade den wichtigsten weiblichen Tugenden, Gehorsam und anmutiger Naivität“. Die Ehefrau wurde nicht als ebenbürtige Partnerin angesehen, sondern als dienendes, ästhetisiertes Objekt eingestuft (S. 85).

Die gesellschaftliche Stellung der Frau als Folge des Feudalismus

Katō Shizue ist es wichtig, ihrer Leserschaft die Ursachen für die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der Frauen in Japan darzulegen. Aus diesem Grund erklärt sie ausführlich die Funktionswese des Feudalsystems der Edo-Zeit (1600-1868): Den Samurai-Familien waren nach einem festgelegten System Reisstipendien zugeteilt worden, die nach dem Tod des Familienoberhaupts auf den ältesten Sohn übergingen. Es war also die Existenz eines Sohnes, die die Weiterführung der familiären Privilegien garantierte – und dies bedeutete zugleich die gesellschaftliche Herabsetzung der Töchter / Frauen:

Zum einen hatten die Familienvorstände Nebenfrauen, um die Geburt eines Sohnes zu garantieren (S. 13-14). Zum anderen pflegten die Hausherren nicht selten auch sexuelle Kontakte zu weiblichen Hausangestellten, und Kinder, die aus diesen Beziehungen hervorgingen, wurden in die Familie aufgenommen (S. 57-58). Die Rolle der Ehefrau bestand in der „absolute[n] Kontrolle über alle organisatorischen, finanziellen und personellen Angelegenheiten des privaten Bereichs“, somit auch über die Lieblingsnebenfrau des Ehemanns (S. 58).

Ihre Mutter lebte Katō Shizue das Ideal der „guten Ehefrau und klugen Mutter“ (ryōsai kenbo) vor und gab ihr den zentralen Ratschlag mit auf den Weg: „Mehr als alles andere sollte eine Frau die Tugend des Ertragens kultivieren.“ Sie sah Liebe als „Anzeichen unkontrollierter Gefühlsausbrüche“, gestattet „allenfalls dem gemeinen Volk“ (S. 20-21). Erklärtes Ziel der mütterlichen Erziehung bestand darin, „dass ich [Katō] niemals Anstoß erregen würde“ (S. 84).

Ihre Töchter nahm die Mutter als „eine Art gasförmiger Wesen“ wahr, „die sich nach langen Jahren der Fürsorge und Disziplinierung letztlich doch verflüchtigten und Mütter mit dem Gefühl eines endgültigen Verlusts zurückließen“ (S. 131).

Von dem Großvater erhielt Katō als Vermächtnis ein Manuskript der Schrift „Die hohe Schule der Frauen“ [„Onna daigaku“], die lange Zeit dem Neo-Konfuzianer Kaibara Ekiken zugeschrieben wurde (S. 46-47). Die Schrift stellt die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der Frau als natürlich gegeben dar und hatte vor allem unter den oberen Schichten Gültigkeit. Später sah Katō Shizue in dieser Schrift den „Inbegriff all dessen, wogegen ich ankämpfen musste“ (S. 47). – Aus diesem Grund nahmen die Übersetzer „Die hohe Schule der Frauen“ in den Anhang des Buches auf.

Blick in eine Ausstellungsvitrine mit einem aufgeklappten japanischen Buch aus dem 18. Jahrhundert.

05. Eine Ausgabe von „Die Hohe Schule der Frauen“ („Onna daigaku“)

Intellektuelle Einflüsse

Katō Shizue stellt zwei Männer in den Vordergrund, die ihr Denken entgegen der für sie vorgesehenen Rolle als Frau und Mutter maßgeblich prägten:

Zum einen den späteren Kritiker, Schriftsteller und Politiker Tsurumi Yūsuke (1885-1973), aus der Sicht von Shizue „Onkel Yūsuke“. Er zog nach dem Tod seiner Eltern in den Haushalt von Shizues Familie. Nur zwölf Jahre älter als Shizue, nahm sie ihn als jungen Berater wahr (S. 92). Er war belesen und teilte viel von seinem Wissen mit Shizue und ihren Brüdern (S. 97).

Portraitbild in Schwarzweiß eines älteren Herrn in Anzug

06. Tsurumi Yūsuke, Mitte der 1950er Jahre. Er studierte an der juristischen Fakultät der Kaiserlichen Universität Tōkyō und arbeitete danach bis 1924 beim Eisenbahnministerium. Er heiratete die Tochter des einflussreichen Politikers Gotō Shinpei, unterstützte dessen liberale Politik tatkräftig und wurde später selbst Politiker. – Anmerkung für Forschende der Populärkultur: Tsurumi Yūsuke ist der Vater des berühmten Philosophen, Kritikers und Populärkulturforschers Tsurumi Shunsuke (1922–2015).

Zum anderen Nitobe Inazō, der Mentor von Tsurumi Yūsuke. Er war Agrarwissenschaftler, Politikwissenschaftler, international anerkannter Diplomat und veröffentlichte Bücher. Shizue kannte ihn über die Lesezirkel der Universität, die reihum bei den verschiedenen Familien der Studenten stattfanden. Onkel Yūsuke erlaubte ihr, bei den Treffen zugegen zu sein und zuzuhören (S. 99).

Schwarzweiß-Fotografie: Portrait eines älteren Herren mit Brille. Mit einer Signatur von Nitobe am linken Bildrand.

07. Nitobe Inazō (1862-1933) studierte an der Landwirtschaftlichen Hochschule von Sapporo unter deren ersten Präsidenten William S. Clark und ging später in die USA, um dort Agrarpolitik zu studieren. Nach Lehrtätigkeiten an mehreren japanischen Universitäten wurde er stellvertretender Generalsekretär des Völkerbundes. Er engagierte sich außerdem für eine bessere Ausbildung von Frauen, war zum Beispiel an der Gründung der Schule von Tsuda Umeko beteiligt (siehe den Beitrag „Eine Hochschule für junge Frauen“).

Die Heirat mit Baron Ishimoto Keikichi

Die geringe Stellung der Frau wurde für Shizue spürbar, als sie einen jungen Baron heiratete, in dessen Haushalt einzog und sich ab diesem Zeitpunkt nicht nur seinen Entscheidungen, sondern auch dem Willen seiner Mutter beugen musste (S. 105; siehe auch den Beitrag über den Alltag in der Edo-Zeit).

Interessanterweise vertrat ihr Ehemann zunächst einen christlichen Humanismus mit dem Ziel, soziale Reformen herbeizuführen (S. 109, 175). Nach seinem Studienabschluss trat er als Bergbau-Ingenieur eine Stelle im Miike Kohlenbergbau des Konzerns Mitsui auf Kyūshū an. Er verzichtete auf eine privilegierte Unterbringung als Ingenieur, wollte stattdessen wie die Arbeiterinnen und Arbeiter leben und verlangte dies auch von seiner Ehefrau.

Es ist nicht vorstellbar, in welch neues Leben Shizue geworfen wurde – und es ist kein Wunder, dass sie fürchtete, bei ihrer Ankunft einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Plastisch beschreibt sie die unmenschlichen Arbeitsbedingungen dieses „industriellen Schlachtfelds“ (S. 140), den Schmutz, die vielen Arbeitsunfälle, die Armut und das Elend, die jenseits ihres Denkens und ihrer Vorstellungskraft lagen. Sie bezog mit ihrem Mann und ihrer persönlichen Dienerin eine Unterkunft für Arbeiterfamilien, mit Ratten im Haus und Löchern im Dach. Weil sie es selbst erleben wollte, nahm ihr Mann sie einmal mit unter Tage, zu ihrer Zeit arbeiteten noch Frauen und Kinder im Stollen. Zweieinhalb Jahre (1915-1917) ging ihr Mann der Arbeit im Bergwerk nach, bis er es gesundheitlich nicht mehr verkraftete (S. 136-143).

Anmerkung: Eine Abhandlung von Regine Mathias (1990), versehen mit zeitgenössischen Fotos, vermittelt einen Eindruck von den Arbeitsbedingungen: „Mit Kohlenschlitten und Spitzhacke. Frauenarbeit im japanischen Kohlenbergbau“. In: „Der Anschnitt“ 42, S. 68-79.

Abbildungen zu einem Streik 50 Jahre später findet man im Beitrag zu japanischen Bergleuten, Abbildungen 3 und 4

Schwarzweiß-Portrait eines mit vielen Orden geschmückten Militärangehörigen.

08. Der Schwiegervater von Shizue, Baron und Generalleutnant Ishimoto Shinroku (1854-1912), war zum Zeitpunkt der Hochzeit schon verstorben. Er war während des Japanisch-Russischen Krieges wegen seiner Leistung geadelt und vielfach ausgezeichnet worden.

Erste Reise in die USA

Nur kurze Zeit später entschloss sich Baron Ishimoto dazu, eine Reise in die USA zu unternehmen, um den Kapitalismus zu studieren. 1919 traf Shizue die Entscheidung, ihre beiden Söhne bei den Großeltern zurückzulassen und ihrem Mann nach New York nachzureisen. Als sie dort ankam, erwartete er von ihr, dass sie, während er selbst nach Washington reiste, allein leben und eine Ausbildung machen sollte. Shizue war zum ersten Mal im Leben vollkommen auf sich allein gestellt. Bei der Handelsschule des Christlichen Vereins junger Frauen (YWCA) absolvierte sie eine Berufsausbildung als Sekretärin und lernte zugleich Englisch.

Im Januar 1920 lernte sie die Frauenrechtlerin Margaret Sanger kennen, eine Aktivistin der Bewegung für Geburtenkontrolle (S. 171). Mit ihrer Erfahrung des Elends im Bergbaugebiet im Hinterkopf sah Katō Shizue ab da ihre Aufgabe darin, japanischen Frauen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung näherzubringen: „Während sie von der Kampagne für Familienplanung sprach, standen mir die Erinnerungen an die überbelegten Bergarbeiterhütten im westlichen Japan wieder so lebhaft vor Augen, dass mir blitzartig klar wurde, worin auch meine Lebensaufgabe bestehen würde.“ (S. 173). Später begleitete sie Margaret Sanger mehrere Male auf deren Touren durch Japan.

Ausschnitt aus einer englischsprachigen Zeitungsseite

09. Zeitungsnachricht vom 18.02.1922: Margaret Sanger wurde zunächst die Einreise nach Japan verweigert. Laut Katō Shizue steigerte die Einstufung der Position von Margaret Sanger als „gefährliches Gedankengut“ unter den jungen Japanerinnen und Japanern noch das Interesse an ihren Ideen (S. 213).

Schwarzweiß-Foto von drei Menschen unter einem japanischen Papierschirm: links Katō Shizue, in der Mitte Margaret Sanger, rechts der Sohn von Margaret Sanger.

10. Katō Shizue mit Margaret Sanger und deren Sohn, 1922.

Katō Shizue blieb Jahrzehnte lang ihrem Ziel treu und fand die verschiedensten Wege, oftmals mit prominenten Mitstreiterinnen, Frauen zu unterstützen und ihre Stellung in der japanischen Gesellschaft zu verbessern.

Unterdessen vertrat Baron Ishimoto neue politische Überzeugungen und stand in engem Kontakt zu Katayama Sen, dem Mitbegründer der Kommunistischen Partei der USA (1919) und Japans (1922). Obwohl Katayama ihm Empfehlungsschreiben für Lenin und Trotzki verfasst hatte, hinderten ihn verschiedene Gründe, darunter nicht zuletzt sein Adelstitel, daran, nach Moskau zu reisen (S. 176-181). Später sollte ausgerechnet er, der seine Ehefrau den Weg zu politischem und sozialem Engagement gewiesen hatte, seine politischen Ansichten erneut radikal ändern und von ihr ein Leben nach traditionellen Vorstellungen fordern.

Die Autobiografie ist auch nach 90 Jahren noch lesenswert, denn …

… sie ist erzählerisch beeindruckend.

Katō Shizue gelingt eine ausgewogene Mischung von selbst Erlebtem und allgemeinem Hintergrundwissen. Mit beeindruckender Leichtigkeit verknüpft sie Schilderungen persönlicher Erfahrungen mit Beschreibungen zu Land und Leuten.

Dazu gehören Erklärungen zu Tōkyō (zuvor Edo) und den immensen Veränderungen und Umbrüchen der vorangegangenen Jahrzehnte (S. 26); zu den Jahreszeiten, besonders der Regenzeit (S. 28), zu dem Anwesen der adligen Familie mit den verschiedenen Häusern im traditionellen und westlichen Stil (S. 30-33), die fast paradiesisch anmutende Darstellung des Landsitzes des Großvaters in Kamakura (S. 38-47), den Reichtum der Familie in Form von Kunstschätzen (S. 125).

In konkreten Beschreibungen werden die Lebensumstände greifbar, zum Beispiel zu ihrer Heirat: Das erste Zusammentreffen der Familien, die heimlichen Kontakte zu ihrem späteren Mann vor der offiziellen Hochzeit, die exquisite Aussteuer, die prachtvolle Feier kombiniert Katō mit den harten Realitäten, die sich hinter der Fassade verbargen, zum Beispiel dem schwierigen Wechsel als junge Braut in die Familie des Ehemanns: Beim ersten Frühstück in der neuen Familie saß sie frierend ohne Sitzkissen auf den Reisstrohmatten, um die Unterwürfigkeit dem Mann und der Schwiegermutter gegenüber zu zeigen (S. 124).

Meist zeigt Katō Verständnis für ihr Gegenüber, indem sie dessen Hintergrund und Motivation ausleuchtet. Ihr Stil ist leicht, ohne Groll, dafür mit Witz. So handelt ein Abschnitt vom Unterricht im Blumenstecken (Ikebana): Der Lehrer, der ins Haus kam, steckte zuerst ein Arrangement zu einem bestimmten Thema, danach versuchte sie, es ihm gleichzutun. Nach jedem Versuch lobte der Lehrer ihr Gesteck über alle Maßen, nahm es allerdings sofort auseinander, arrangierte es neu, verbeugte sich und lobte es erneut: „Was für ein wunderbares Kunstwerk.“ Katō schreibt über ihre Verwirrung, denn sie wusste, dass ihr „Ergebnis nichts mit Kunst zu tun hatte“. Später deutete sie das Verhalten des Lehrers als Aufforderung, zu lernen, sich selbst richtig einzuschätzen (S. 87).

… sie knüpft über die Darstellung damals international bekannter Persönlichkeiten eine Brücke zu ihrer ausländischen Leserschaft.

Katō Shizue beschreibt berühmte Persönlichkeiten der Meiji-Zeit aus der Perspektive einer jungen Frau, die die Personen aus ihrem direkten Umfeld kannte. So schildert sie die Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Meiji-Tennō und die Reaktionen auf die anschließenden Selbsttötungen von General Nogi und seiner Ehefrau aus ihrem damaligen Blickwinkel einer Jugendlichen des Hochadels (S. 75-80). Die Erwähnung dieser auch international bekannten Persönlichkeiten ermöglicht es Katō, an das Wissen der ausländischen Leserschaft anzuknüpfen.

Schwarzweiß-Foto eines Generals in Paradeuniform, mit zahlreichen Orden an der Brust.

11. General Nogi Maresuke (1849-1912).

Im Ausland damals sehr bekannt war der ihr vertraute Nitobe Inazō durch sein Buch „Bushido – The Soul of Japan. An Exposition of Japanese Thought“ von 1900 (S. 14).

Auch an andere englischsprachig Veröffentlichungen über Japan knüpft Katō an, so erwähnt sie Veröffentlichungen von Lafcadio Hearn (S. 19, 41). Zugleich bezieht sie sich auf berühmte Geschichten: So gehöre ihre Familie zu den Gefolgsleuten eines Fürsten, der seine Ländereien an der Inlandsee hatte und dessen Nachbar durch die Geschichte der 47 Samurai berühmt wurde (S. 13, siehe auch den Beitrag „Rache nach Masterplan“).

Buchumschlag einer Originalausgabe von 1900, stilisiert dargestellt sind Kirschblüten und eine aufgehende Sonne

12.  „Bushido – The Soul of Japan. An Exposition of Japanese Thought“ von 1900.

Vorderes Buchcover, aufwändig illustriert, im Zentrum ein sitzender Buddha

13. Das Japan-Buch von Lafcadio Hearn in der deutschen Ausgabe von 1911.

Um die Vorstellungskraft ihrer Leserinnen und Leser zu stärken, zieht Katō Vergleiche in der Motivik von Geschichten. Am Ende der Hochzeitszeremonie wurde beispielsweise das Nō-Stück „Takasago“ aufgeführt. Ohne den Inhalt näher zusammenzufassen, vergleicht Katō das Motiv mit den Gestalten Philemon und Baucis aus der griechischen Mythologie (S. 122).

… sie spiegelt das Japan der 1930er Jahre, die Entstehungszeit der Autobiografie.

Das Buch beginnt mit Katōs Kindheit, als sich im Alltag nach und nach westliche Einflüsse in ihr Leben „einschlichen“, da der Vater von seinen Auslandsreisen immer mehr Gerätschaften und Einrichtungsgegenstände mitbrachte (S. 33).

Katō beschreibt Japans Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der 1930er Jahre, der Zeit, als sie an der Autobiografie schrieb, zum Beispiel: „Männer und Frauen, die sich bis dahin nur als Teil des feudalistischen Familiensystems gesehen hatte, waren nun durch bezahlte Arbeit zu unabhängigen Individuen geworden,“ (S. 211). Aber: „Bis heute haben Japanerinnen kein Wahlrecht“ (S. 256).

Besonders deutlich wird die damalige Epoche durch die Beschreibungen ihrer Asienreise 1921, zu einer Zeit, als Korea unter japanischer Herrschaft stand.

… sie zeigt die Offenheit, die geistige Flexibilität und den Mut von Katō Shizue.

Es ist bewundernswert, auf welche Lebensumstände Katō Shizue sich einließ oder besser gesagt einlassen musste, wie sie die jeweiligen Situationen meisterte und welche Rückschlüsse sie für ihr weiteres Leben zog.

Nachdem wie ihren Weg eingeschlagen hatte, verfolgte sie ihn trotz persönlicher Schicksalsschläge konsequent, einfallsreich, unkonventionell. Sie eröffnete ein Geschäft – für eine Frau ihres Standes damals noch undenkbar – engagierte sich in vielen Richtungen, hielt Vorträge sogar vor Bergarbeitern einer Kupfermine in Polizeipräsenz, wurde 1937 als „gefährliches Subjekt“ verhaftet und zwei Wochen im Gefängnis festgehalten (in dieser Autobiografie noch nicht erwähnt).

Schwarzweiß-Portrait eines Mannes in Anzug.

14. Katō Kanjū (1892-1978), 1935, als politischer Mitstreiter von Katō Shizue.

… Katō Shizue ist eine wichtige Vertreterin der Frauenbewegung.

Katō Shizue war eine politische Einzelgängerin, die sich Zeit ihres Lebens keinen Parteivorgaben beugte. In der zweiten Lebenshälfte setzte sie sich vor allem für drei Ziele ein: für die politische Gleichberechtigung von Frauen und Männern, für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage vor allem von Frauen und Kindern und für eine Versöhnung mit Staaten, die zuvor japanische Kolonien gewesen waren.

Schwarzweiß-Foto einer Gruppe von elf Damen, einige in europäischer Kleidung, einige wenige im Kimono.

15. Die Gründung des „Women’s Democratic Club“ im März 1946. Katō Shizue ist vorn links.

Schwarzweiß-Fotografie eines älteren Herrn, seitliche Ansicht.

15. Katō Kanjū, 1951, inzwischen mit Katō Shizue verheiratet.

Bei der Familienplanung legte sie ihr Augenmerk auf die Verhütung, um Abtreibungen zu vermeiden. Wie bedeutsam ihr Anliegen war, ist daran zu erkennen, dass in Japan erst 1999 die Antibabypille zugelassen wurde.

Susanne Phillipps

21.12.2025 (Ausgabe 21)

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Bildnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Buch-Arrangement Katō Shizue: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: 不明 – この画像は国立国会図書館のウェブサイトから入手できます。, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=145216375による

02: 不明 – 加藤シヅエ著、船橋邦子訳『ふたつの文化のはざまから』青山館、1985年7月20日。, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=145610000による

03: By Unknown author – Japanese book “Greater Tokyo Photo Guide” published by Hakubunkan., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5535080

04: Von Harris & Ewing, Washington, D.C. (Photographer) – http://hdl.loc.gov/loc.mss/mnwp.159005, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37407007

05: By Daderot – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74553365

06: 実業之日本社 – 鶴見祐輔 (1956年9月26日) 明日への出発:次の世代を担う人々へ、実業之日本社 巻頭, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=132475780による

07: By Unknown author – This image is available from the website of the National Diet Library, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17921332

08: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1541567

09: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=166502008

10: Von Autor/-in unbekannt – https://www.gettyimages.com/detail/news-photo/mrs-margaret-sanger-with-son-grant-sanger-and-baroness-news-photo/450756938?adppopup=true, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=160446681

11: Von Autor/-in unbekannt – restored by User:Adam Cuerden – This image is available from the website of the National Diet Library, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48971822

12: Von Inazō Nitobe (author) – Houghton Library, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35411436

13: Von Artist Max Schwerdtfeger. In: Hans Vollmer: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des XX. Jahrhunderts. Band 4: Q–U. E. A. Seemann, Leipzig 1958, S. 243.Hinweis: Schwerdtfeger ist 1881 geboren. 1958 kein Todesdatum eingetragen – Das Japanbuch. Eine Auswahl aus Lafcadio Hearns Werken, Frankfurt 1911, Seite V. Schwerdtfeger auf Seite VI : https://archive.org/stream/dasjapanbucheine00hear#page/n7/mode/2up, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26671740

14: By Los Angeles Times – https://digital.library.ucla.edu/catalog/ark:/21198/zz002df4fj, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=138518804

15: 不明 – 『写真・絵画集成 日本の女たち 第1巻』日本図書センター、1996年11月25日。, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=145538582による

16: By Unknown author – Japanese magazine “The Mainichi Graphic, 1 December 1951 issue” published by The Mainichi Newspapers Co.,Ltd., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=34894052