Unter Tage und auch über Tage – Japanisch-deutsche Freundschaften im Ruhrgebiet der 1950er und 1960er Jahre
Atsushi Kataoka, Regine Mathias, Pia-Tomoko Meid, Werner Pascha, Shingo Shimada (Hg.) (2012) : Japanische Bergleute im Ruhrgebiet. „Glückauf“ auf Japanisch. Essen: Klartext Verlag; broschiert, 318 Seiten (siehe Anmerkung am Ende des Textes).
Zwischen 1957 und 1965 kamen insgesamt 436 japanische Bergleute als Arbeitskräfte in das Ruhrgebiet. Sie wurden über ein deutsch-japanisches Regierungsprogramm ausgesucht und reisten – ganz anders als die Angehörigen der japanischen Geschäfts- und Bankenwelt rund um die Immermannstraße in Düsseldorf heute – als so genannte „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Hier erlebten sie den Alltag mit ihren deutschen Kollegen und deren Familien.
50 Jahre später erinnerten sich einige von ihnen noch einmal an ihre Zeit in Deutschland.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber
Die Deutsch-Japanische Gesellschaft (DJG) am Niederrhein hatte sich zum Ziel gesetzt, den Aufenthalt der japanischen Bergleute in Nordrhein-Westfalen zu untersuchen und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Anlass war das damalige 150-jährige Jubiläum der deutsch-japanischen Beziehungen im Jahr 2011 (siehe: 160 Jahre Beziehungen zwischen Japan und Deutschland).
So waren alle am Vorhaben Beteiligten zur Entstehungszeit des Buches in Nordrhein-Westfalen tätig und sind dies zum Teil auch heute noch: als Forscherinnen und Forscher an den dortigen Universitäten oder im Rahmen der deutsch-japanischen Gesellschaften.
Atsushi Kataoka setzt sich für deutsch-japanische Beziehungen ein, er ist in der Deutsch-Japanischen Gesellschaft am Niederrhein als deren Vizepräsident aktiv.
Regine Mathias ist Japanologin. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit der Geschichte Japans im 19. und 20. Jahrhundert.
Pia-Tomoko Meid ist Beraterin, Dolmetscherin, Moderatorin und Geschäftsführerin der Deutsch-Japanischen Gesellschaft am Niederrhein e.V.
Werner Pascha ist Ökonom. Er beschäftigt sich mit den internationalen Wirtschaftsbeziehungen Ostasiens, schwerpunktmäßig untersucht er die japanische bzw. die südkoreanische Wirtschaft.
Shingo Shimada ist Professor für Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte sind kulturvergleichende Soziologie und die alternde Gesellschaft in Japan.
Über das Buch
Die Planungen für dieses Buch wurden gerade noch rechtzeitig aufgenommen: Über fünfzig Jahre nach dem Entsendungsprogramm war es noch möglich, mit Zeitzeugen zu sprechen, von denen 2010, zum Zeitpunkt der Interviews, viele schon 80 Jahre oder älter waren. Atsushi Kataoka beschreibt in seinem Nachwort, wie er 2007 die Initiative für dieses Projekt übernahm und schrittweise alle Beteiligten kontaktierte. Das Ergebnis ist der vorliegende Band sowie eine Veranstaltung in Essen im September 2011 zum Thema Energieversorgung im Wandel der Zeit.
Die Beiträge des Buches sind heterogen: Sie umfassen ein Vorwort, ein Grußwort des japanischen Botschafters, wissenschaftliche Abhandlungen, Berichte ehemaliger Bergleute, Zusammenfassungen von Gesprächen mit Zeitzeugen, Materialien (vor allem Listen: von Verbindungsleuten, von Bergbauunternehmen, von den in Deutschland gebliebenen Bergmännern), ein Nachwort und Fotomaterial.
Am bedeutsamsten sind:
– die wissenschaftlichen Aufsätze von Hiromasa Mori, Regine Mathias, Werner Pascha und Annika Raue, die die historischen Hintergründe beleuchten;
– die Berichte und Erinnerungen der ehemaligen Bergleute;
– die Fotografien;
– die Wiedergabe von Originaldokumenten wie der Verbalnote der japanischen Botschaft mit dem Programm, das die genau formulierten Eckpunkte der vorübergehenden Beschäftigung der japanischen Bergleute enthält.
Der wirtschaftshistorische Kontext
Regine Mathias beschreibt die historische Entwicklung des Bergbaus in Japan ab dem 17. Jahrhundert und zeigt eine Karte mit der Lage der Kohlefelder: vor allem in Hokkaidō, im Nordosten von Honshū und im Westen von Kyūshū (S. 47-48).
Schnell wird deutlich, dass sich die Situation im Bergbau in Japan und Deutschland in den 1950er Jahren vollkommen unterschiedlich darstellte.
In Japan herrschte ein duales System von einigen wenigen Großkonzernen (zaibatsu-Unternehmenskonglomerate) wie Mitsui, Mitsubishi und Sumitomo, die, finanziell gestützt von anderen firmeneigenen Geschäftszweigen, unter anderem Bergbau betrieben. Daneben gab es viele kleine, wenig rentable Hütten.
01.-02. Die Insel Hashima vor Nagasaki. Die gesamte Infrastruktur der Insel entstand, um von hier aus unterseeischen Abbau von Kohle zu betreiben (Mitsubishi, 1887-1974). Heute ist die Insel unbewohnt.
Der Arbeitsalltag war durch harte Auseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern und dazu noch von Kämpfen der Gewerkschaften untereinander geprägt.
Nach vielen Spaltungen hatten sich neben den Betriebsgewerkschaften zwei große Branchengewerkschaften gebildet. Es wurde um Lohnforderungen und ab 1953 gegen Rationalisierungsmaßnahmen gefochten.
Die Anhänger der rivalisierenden Bergbau-Gewerkschaften bekämpften sich untereinander bitter, in einigen Fällen in Kampfausrüstung (Helme, gepolsterte Jacken) und mit Schlagstöcken. Ein Bergmann berichtet: „Auch ich wurde in den Trupp der Angestellten für die Auseinandersetzung gesteckt, habe eine Rüstung aus Stoff angezogen, in die unzählige Zeitschriften [zur Panzerung] eingenäht waren, und habe mich angeschickt, mich mit einem 1,80 m langen Stab der entscheidenden Schlacht entgegenzustellen.“ (Reiji Ishimura, S. 132)
03. Der Arbeitskampf an der Mine von Miike dauerte 282 Tage, er war der längste Streik in der japanischen Geschichte. Ein Streikposten wurde getötet und mehr als 1.700 Personen verletzt (S. 57).
04. Eine Kette von Bergarbeiterfrauen bildete vor der Miike-Mine eine Streikpostenlinie, um zu verhindern, dass Bergarbeiter der rivalisierenden Gewerkschaft die Produktion wieder aufnahmen, 20. April 1960.
Doch der Niedergang des japanischen Steinkohlebergbaus war längst besiegelt: Er hatte sich durch verspätete Modernisierungsmaßnahmen ins Abseits manövriert (Mathias, S. 59). 1955 wurde das Gesetz zur Rationalisierung der Bergbauindustrie erlassen.
Zu dieser Zeit verlagerte sich die japanische Energiepolitik allmählich von der Steinkohle zum Erdöl (Mori, S. 22-23). Die japanische Steinkohle konnte sich trotz Produktivitätssprüngen weder gegen die billigere Importkohle noch gegen das Erdöl behaupten.
Zudem wurde 1955 mit einem Gesetz über die friedliche Nutzung der Kernkraft entschieden. Die Bergleute wurden mit Abfindungen entlassen oder in andere Unternehmensbereiche der Großkonzerne versetzt. 2002 schloss die letzte Zeche in Japan (Mathias, S. 63-64, Pascha, S. 74).
In Deutschland galt die Steinkohle dagegen weiterhin als wichtige Energiequelle, die man trotz auftretender Probleme versuchte, noch über Jahrzehnte staatlich zu stützen. Werner Pascha legt anschaulich die Gründe dar, warum der Strukturwandel im Kohlebergbau in den beiden Ländern so unterschiedlich verlief (Pascha, S. 79-82).
05. Besuch japanischer Schüler in der Schachtanlage der Friedrich Thyssen A.G. in Duisburg-Hamborn, Juli 1960.
Das Entsendungsprogramm
06.-09. 4 Briefmarken von 1957, dem Jahr, in dem die ersten Bergleute aus Japan ins Ruhrgebiet kamen. Die Briefmarken aus der Serie „Helfer der Menschheit“ zeigen vier Bergmänner in verschiedenen Arbeitssituationen.
In dem Entsendungsprogramm trafen sich zwei Interessen:
Während der Jahre des Wirtschaftsaufschwungs in der Bundesrepublik Deutschland waren Arbeitskräfte knapp, vor allem im Bergbau mit seiner anstrengenden, gefährlichen Arbeit. Daher gab es von Seiten des Staates verschiedene Programme, die fehlenden Arbeitskräfte aus Südeuropa und der Türkei zu rekrutieren (Mori, S. 21).
Der Vorschlag zur Entsendung kam von japanischer Seite: eine Anfrage aus dem japanischen Außenministerium, ob man in Deutschland am Einsatz japanischer Bergleute im deutschen Kohlenbergbau interessiert sei.
Drei Gründe wurden dabei offiziell angeführt:
– das Bekanntmachen mit modernen Arbeitsmethoden (Bedienung der Maschinen, Aneignung moderner Technologien);
– das Kennenlernen der Arbeitsverhältnisse im deutschen Kohlenbergbau (Alltag in einer modernen westlichen Demokratie, vollkommen andere Verhältnisse zwischen der Gewerkschaft und den Arbeitgebern als in Japan, stolzes Standesbewusstsein der Bergleute im Ruhrgebiet);
– Förderung der japanisch-deutschen Beziehungen: Vertiefung der gegenseitigen Freundschaft (Mathias, S. 45-46).
Insgesamt kamen 5 Gruppen japanischer Bergleute ins Ruhrgebiet, die mit großer Sorgfalt hinsichtlich verschiedenster Kriterien (Körperbau, Persönlichkeit, Bildungsstand, ledig) ausgesucht wurden (Mori, S. 24).
In Japan war der Steinkohlebergbau zu dieser Zeit schon eine niedergehende Industrie. Bereits in der zweiten Phase des Entsendungsprogramms war klar, dass über eine Million japanischer Bergleute entlassen werden würden. Es ging nun vorrangig darum, arbeitslose Bergleute unterzubringen.
In der Phase des starken wirtschaftlichen Wachstums in Japan wollten allerdings viele arbeitslos gewordene Bergleute lieber eine andere Arbeit suchen, als nach Deutschland zu gehen. Alles in allem blieben die Zahlen der Entsandten in allen Phasen weit unter den vereinbarten Größenordnungen zurück (Mori, S. 32, 35, 39; Pascha, S. 72).
Die japanischen „Gastarbeiter“
Alle japanischen Bergmänner, die nach Deutschland entsandt wurden, hatten eine gute Ausbildung, zum Teil waren sie hoch gebildet. In Deutschland wurden sie zu drei Unternehmen geschickt (S. 25): zur Hamborner Bergbau AG in Duisburg (199 Bergleute), zur Essener Steinkohlebergwerke AG in Gelsenkirchen (100 Bergleute) und zur Klöckner-Bergbau AG in Castorp-Rauxel (137 Bergleute).
Begleitet wurden die Bergmänner von so genannten Verbindungsmännern. Diese wurden in den japanischen Unternehmen eigens ausgesucht, verfügten über Deutschkenntnisse und hatten gewisse Führungspositionen inne. Ihre Aufgabe bestand darin, die Belange der Bergleute vor Ort zu vertreten, die Verhandlungen mit den deutschen Unternehmen zu führen, die Verbindung mit der japanischen Botschaft zu halten und generell für das Wohlergehen der Bergleute zu sorgen (S. 32).
Die deutsche Presse begleitete die Ankunft, manchmal auch den Alltag und später die Rückkehr der japanischen Bergleute mit großer Aufmerksamkeit und berichtete stets positiv.
10.-13. In den Stollen: Arbeit unter Tage.
Doch während der ersten Monate kam es zunächst einmal zu Irritationen. In Japan war man davon ausgegangen, dass die Bergleute zur technischen Ausbildung nach Deutschland entsandt würden, in Deutschland wurde erwartet, dass die Bergleute so bald wie möglich unter Tage arbeiteten.
Man fand einen Kompromiss: Es gab einen verlängerten Deutschunterricht während der Anlernphase, die japanischen Bergleute sollten ihre Arbeitsplätze regelmäßig wechseln, um verschiedene Tätigkeiten kennenzulernen, sie erhielten unbezahlte Urlaubstage zur Weiterbildung und die Möglichkeit, einen Hauerkurs zu belegen und mit einem Hauerbrief abzuschließen (S. 28-29).
Nach der Beendigung des gesamten Programms blieben 32 Bergleute in Deutschland. Sie konnten dies realisieren, indem sie den Studentenstatus erwarben, bei einer japanischen Firma eine Anstellung fanden oder ihre deutsche Partnerin heirateten (S. 36).
Einige andere Bergleute wanderten nach ihrem Aufenthalt in Deutschland nach Kanada aus, um in dortigen Zechen zu arbeiten.
14. Fünf Bergleute aus Japan starben in Deutschland, einige wurden bei Unfällen schwer verletzt (S. 30-31). Einige Bergleute schildern in ihren Berichten ihre Trauer um ihre tödlich verunglückten Kameraden.
– Dortmund, Eving, Zeche Minister Stein, Denkmal für verunglückte Bergarbeiter.
Die Beteiligten über ihre damaligen Erfahrungen
Die Bergleute gehörten zu den ersten Japanern, die nach dem Zweiten Weltkrieg für einen längeren Zeitraum in Deutschland lebten, ohne diplomatischen oder wissenschaftlichen Hintergrund. Sie erlebten den Alltag in einem ihnen vollkommen fremden Land und teilten mit ihren deutschen Kollegen ihre Sorgen und Freuden (Annika Raue, S. 85).
In Deutschland war damals kaum etwas über Japan bekannt. Der Krieg war noch nicht lange vorüber, und sicherlich wirkte noch die Propaganda der Kriegszeit nach, Japan war mit Deutschland verbündet gewesen. Einige Bergleute berichten von Deutschen, die unvermittelt an sie herantraten und Kontakt zu ihnen suchten, da sie im Ersten oder Zweiten Weltkrieg mit Japanern eine gemeinsame Kriegsvergangenheit teilten (Takehiko Kōguchi, S. 215-216).
15. Kohlenhauer verlassen nach der Schicht den Seilfahrtkorb.
16. In der Kaue.
Das Buch versammelt Berichte von Verbindungsleuten, Bergleuten, mit der Organisation Betrauten, wie zum Beispiel einem Heimleiter, von deutschen Kollegen, Freunden und Ehefrauen. Die Ehemaligen, die berichten wollten, waren in der Wahl ihres Themas vollkommen frei (S. 9). Dementsprechend unterschiedlich fallen ihre Berichte aus.
Sie erzählen von der Aufregung während der Entscheidung, ihre Heimat für mehrere Jahre zu verlassen, von ihren Vorbereitungen und der Zeit vor dem Abflug, dem Verlauf ihres Aufenthalts, den damaligen gesellschaftlichen Hintergründen und ihrer Arbeitssituation in Deutschland.
Sie schreiben über Kameraden, gemeinsame Unternehmungen, über deutsche Familien, zu denen sie zum Teil sehr engen Kontakt hatten. Gisela Tagawa berichtet über ihre Ehe mit dem Bergmann Hiroshi Tagawa.
Einige schildern ihr Leben nach ihrer Rückkehr nach Japan oder berichten von Treffen Ehemaliger in späteren Jahren.
Takehiko Kōguchi verfasste eine mit persönlichen Momenten angereicherte Biografie des Athleten Naoto Tajima, der bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 die Goldmedaille im Dreisprung gewonnen hatte. Er trat später in den Konzern Mitsui Mining Co. Lt. ein und genoss dort sehr viele Freiheiten, seinen Sport auszuüben. Aufgrund seiner Deutschkenntnisse, die er sich seit der Vorbereitung auf die Olympiade in Berlin angeeignet hatte, wurde er 1958 als zweiter Hauptverbindungsmann nach Deutschland entsandt.
17. Naoto Tajima trat 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin im Dreisprung der Männer an.
– Berühmt ist ein Foto von ihm in Leni Riefenstahls Bildband „Schönheit im Olympischen Kampf“, auf dem Tajima mit gesenkten Kopf und geschlossenen Augen einen Lorbeerkranz von Riefenstahl aufgesetzt bekommt.
Takao Sakamoto verbindet seine Erfahrungen in Deutschland mit der zur Entstehungszeit des Textes (2011) aktuellen Lage von ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern in Japan. In Deutschland profitierte er von der arbeitsrechtlichen Gleichstellung der ausländischen und einheimischen Arbeiter. Dies sieht er als notwendige Bedingung für die Gewinnung guter Arbeitskräfte. Für Japan wünscht er sich eine systematische Immigrationspolitik (S. 243-244).
Arbeit und Freizeit
Tadao Fujita fasst seine Zeit in Deutschland in dem Satz zusammen: „Hart arbeiten, sich gut amüsieren und viel trinken.“ (S. 238). Durch die gefährlichen Arbeitsbedingungen unter Tage erlebten die japanischen Bergleute die besondere Verbindung und Kameradschaft unter Bergleuten jeglicher Herkunft (Annika Raue, S. 92).
18.-21. Bergmannfenster in der Kirche St. Vinzentius in Bochum-Harpen.
Die meisten japanischen Bergmänner wohnten in Lehrlingsheimen, einige zogen dann zur Untermiete bei deutschen Familien ein. Sie waren gebildet, unternahmen große Anstrengungen, Deutsch zu lernen, und konnten sich gut verständigen. Aus Sicht der deutschen Lehrer und Betreuer galten sie als diszipliniert, ihnen fiel auf, dass sich die Japaner im Unterricht hervorragende Unterlagen anlegten (Karl Heinkel, S. 251).
Auch im Privaten hinterließen die japanischen Bergmänner einen positiven Eindruck, waren in ihr Umfeld integriert, anerkannt und willkommen. Sie wurden oft eingeladen und waren als Mieter beliebt. Über die Sportarten Tischtennis und Jūdō schlossen sie viele Freundschaften zu Deutschen.
In den Berichten wird immer wieder das Essen zum Thema gemacht: die fremde deutsche Küche – wie die anfängliche Enttäuschung, dass extra für sie Milchreis zubereitet wurde, den sie gar nicht kannten – und die Versuche, die hiesigen Speisen mit aus Japan vertrauten Zutaten anzureichern, mit Salatöl Tempura zuzubereiten, in Behältern Chinakohl einzulegen (Takehiko Kōguchi, S. 194). Wirklich unglaublich ist der Bericht über den Fang eines Karpfens in einem Park, die Zubereitung und den Genuss des Tieres, schließlich das Verschwindenlassen der Überreste (Takehiko Kōguchi, S. 196).
In Bussen und mit gebraucht gekauften Autos und Motorrädern machten sie sich gemeinsam auf den Weg, reisten nach Italien, Österreich und in die Schweiz –Urlaubsreisen, die im damaligen Japan undenkbar waren. Im Deutschen Bergbaumuseum Bochum informierten sie sich über die Bergbaugeschichte, in den nahen Niederlanden nutzten sie die Möglichkeit, asiatische Lebensmittel einzukaufen.
Empfehlenswert –
Das Buch ist eine Mischung von Texten, die sehr unterschiedlich sind: auf der einen Seite die wissenschaftlichen Einführungen, die Übersichten und das Quellenmaterial, auf der anderen Seite die Berichte der Bergleute bzw. die Zusammenfassung von Gesprächen, die 2010 durchgeführt wurden. Gerade in dieser Unterschiedlichkeit liegt der Reiz des Bandes.
– wissenschaftlich gesehen: verdeutlicht das Buch die Unvorhersehbarkeit wirtschaftlicher Entwicklungen
Die sehr guten Einführungen zeigen, dass das Programm auf große Personenzahlen hin ausgelegt war. Dann kamen der wirtschaftliche Aufstieg und das Umschwenken in der japanischen Energiepolitik, und beides ließ die japanischen Bergleute aus ihrem Beruf abwandern und in anderen Bereichen tätig werden.
– aus der Perspektive der Zeitzeugen: zeigt das Buch den damaligen Alltag
Die Schilderungen sind von sehr unterschiedlichem Charakter. Einige, vor allem die der ehemaligen Verbindungsmänner, sind sachlich mit genauen Angaben zu den Zechen, zum Tagesablauf, mit Aufzählungen der Leute und Organisationen, zu denen Kontakt aufgenommen und gehalten wurde. Andere Berichte sind eher technisch, mit Erklärungen zum Arbeitsplatz unter Tage und den Maschinen, die betrieben wurden.
Am interessantesten und lebhaftesten sind sicherlich die Eindrücke vom damaligen Alltagsleben. Viele dieser Erzählungen sind episodenhaft, thematisch eher unstrukturiert, mit vielen Namen, die vor allem ehemaligen Kollegen etwas sagen dürften. Aber sie enthalten zahlreiche Momente, von denen sich jede/r Leser/in die für sich interessanten herausfischen kann.
Die persönlichen Erinnerungen geben einen Eindruck von den Gefühlen der damals Beteiligten, zum Beispiel wie sehr die Bergleute unter Druck standen, die (Sprach)Prüfungen zu bestehen, oder wie aufreibend und anstrengend internationale Ehen sein können, weil ganz grundlegende Fragen zur Aufenthaltsgenehmigung oder zu einer Einstellung geklärt werden müssen.
– als ein Stück Zeitgeschichte: verdeutlicht das Buch, wie fern Europa damals war
Nach Europa zu reisen war etwas ganz Besonders, derzeit für fast alle Japanerinnen und Japaner unerreichbar: „Wenn damals Japaner ins Ausland reisten, waren das meist Reisende aus der Elite oder Angestellte einer erstklassigen Handelsgesellschaft auf Dienstreise bzw. im Zuge einer Versetzung ins Ausland.“ (Reiji Ishimura, S. 132). Einmal nach Europa zu reisen, war ein von vielen jungen Japanern gehegter Traum. So ist auch die große Aufregung vor der Abreise zu verstehen, Ryōichi Tsushima schreibt, dass zu seiner Verabschiedung am Bahnhof mehr als 300 Menschen kamen (S. 178).
Die schwierige Anreise wird immer wieder erwähnt: Flugreisen mit mehreren Tankstopps über knapp fünfzig Stunden hinweg (S. 103, 134, 180) und die neuen Eindrücke: „Den sonderbaren Geschmack der ersten Coca Colas […] kann ich bis heute nicht vergessen.“ (Ryōichi Tsushima, S. 180).
Rückblickend wird das Programm als sehr positiv beurteilt, weniger im wirtschaftlichen Sinne, denn als ein bedeutender Beitrag zur freundschaftlichen Bindung zwischen deutschen und japanischen Kumpels und ihren Familien, ein Beitrag zur Freundschaft nicht auf diplomatischer Ebene, sondern im gelebten Alltag. Viele Freunde blieben in Briefkontakt und es gab regelmäßige Treffen der Ehemaligen in Tōkyō sowie verschiedene größere Nachtreffen, wie 1977 im Ruhrgebiet die „Glück auf-Tour“.
Das Buch verdeutlicht auf sympathische Weise, wie zwischen Nordrhein-Westfalen und Japan eine ganz besondere Beziehung entstand. Sie trug mit dazu bei, dass sich weitere japanische Firmen und Einrichtungen später dazu entschlossen, sich in der Region anzusiedeln (S. 8, 15).
Susanne Phillipps
21.03.2023 (Ausgabe 10)
Anmerkungen
Bei der Deutschen Welle gibt es einen Kurzfilm (4:30 min) über den Bergmann Misao Doi. Das Buch enthält eine Zusammenfassung des Interviews, das gemeinsam mit seiner Frau führt wurde (S. 259-262).
zum Buchumschlag: Auf der Titelseite des Buches wird der Name von Regine Mathias fälschlicherweise mit „Matthias“ angegeben.
zu den Eigennamen: Alle Namen in dieser Empfehlung folgen der im Buch gebrauchten Reihenfolge Vorname – Nachname, auch für japanische Eigennamen.
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Bildnachweis
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