Die Fortführung einer großen Kunst – Japanische Farbholzschnitte des 20. Jahhunderts

Katalog am unteren Buchrand in ein blaues Tuch gehüllt

Chris Uhlenbeck (2022): Shin-hanga. Der moderne Farbholzschnitt Japans 1900-1960. Berlin: Hatje Cantz; mit Beiträgen von Chris Uhlenbeck, Jim Dwinger und Philo Ouweleen; Hardcover; 224 Seiten.

Sie sind weltbekannt und lösten im 19. Jahrhundert in Europa eine unvorstellbare Japan-Euphorie aus: die bunten Holzblockdrucke, die während der Edo-Zeit (1600-1868) von berühmten Künstlern wie Hokusai und Hiroshige entworfen wurden. Ursprünglich erreichten die Drucke Europa als Verpackungsmaterial für wertvolle Keramiken. Hiesige Künstler waren fasziniert von den Farben und Formen, der Gestaltung und den Bildinhalten. Sie nutzten sie als Inspiration, und unter ihrem Einfluss entwickelten sich neue Stilrichtungen (siehe den Beitrag Europa im Farbenrausch).

Nach der Öffnung Japans, als die Künstler der Farbholzschnitte grafische Techniken aus Europa einsetzten und neue Bildinhalte wählten, gerieten die Werke, auch in der Konkurrenz zu anderen Drucktechniken, zunächst einmal ins Abseits. 

Es ist vor allem dem rührigen Herausgeber Watanabe Shōzaburō zu verdanken, dass die Tradition des Holzblockdrucks in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „Shin-hanga“ („Neue Drucke“) erfolgreich neu belebt werden konnte.

Über die Autor/innen

Chris Uhlenbeck ist für die Redaktion des Bandes und die Zusammenstellung der Inhalte verantwortlich. Von ihm stammen das Vorwort, die Einleitung und erläuternde Anmerkungen zu den Farbholzschnitten. Weitere Beiträge zu den Abbildungen stammen von Jim Dwinger und Philo Ouweleen.

Chris Uhlenbeck ist Kunsthändler. 1982 gründete er in Leiden (Niederlande) Hotei Japanese Prints. Er war nicht nur als Kunsthändler tätig, sondern veröffentlichte auch Bildbände und organisierte Ausstellungen. Uhlenbeck hat Jahrzehnte lange Erfahrung auf dem Gebiet der Farbholzschnitte und kuratierte zahlreiche Ausstellungen zur japanischen Kunst in namhaften Museen Europas.

Jim Dwinger und Philo Ouweleen sind bei Hotei Japanese Prints beschäftigt. Jim Dwinger ist Kunsthistoriker mit dem Fachgebiet japanische Farbholzschnitte, Philo Ouweleen ist Japanologin mit dem Schwerpunkt japanische Kunst. Sie arbeitete zunächst am Japanmuseum Siebold-Huis in Leiden, bevor sie bei Hotei Japanese Prints anfing.

Über das Buch

Das Buch umfasst ein Vorwort und eine Einleitung, einen Hauptteil mit acht Kapiteln und einen Anhang.

Die Kapitel des Hauptteils lauten:

  1. Die entscheidenden Jahre: Anfang des 20. Jahrhunderts findet Watanabe Shōzaburō einen neuen Stil für Farbholzschnitte, inspiriert auch durch ausländische Künstler wie den Engländer Charles William Bartlett (1860-1940) und den Österreicher Fritz Capelari (1884-1950).
  2. Weibliche Schönheiten vor dem Erdbeben: Ab 1915 erleben die Shin-hanga durch beeindruckende Bilder schöner Frauen von Hashiguchi Goyō und Itō Shinsui eine erste Blüte.
  3. Landschaften vor dem Erdbeben: Zur gleichen Zeit sind es vor allem die Landschaftsdarstellungen, in denen Künstler neue Ausdrucksformen des Holzblockdrucks finden.
  4. Weibliche Schönheiten nach dem Erdbeben: Nach 1923 fordern Verleger wie Watanabe Maler dazu auf, Drucke auf der Basis ihrer Gemälde zu entwerfen. Holzschneider und Drucker sind handwerklich so versiert, dass sie neue, prächtige Farbübergänge schaffen.
  5. Die großen Stars des Kabuki-Theaters: Künstler entwerfen Schauspieler-Portraits mit großen Köpfen (ōkubi-e) vor schimmernden Hintergründen, zum Teil eng verbunden mit der Bewegung zur Reformierung des Kabuki-Theaters.
  6. Natur: Vor allem durch die Werke des Künstlers Ohara Koson gerät das Genre der „Bilder von Blumen und Vögeln“ (kachōga) nicht in Vergessenheit.
  7. Das moderne Leben: In den 1920er und 1930er Jahren wirken moderne Stadtlandschaften aufregend, auffällig gekleidete Frauen gelten als provokant.
  8. Landschaften nach dem Erdbeben: Landschaftsszenen sind nach wie vor die begehrtesten Motive, vor allem bei der Kundschaft aus Übersee.

Der Anhang umfasst Kurzbiografien der Künstler (6 Seiten), eine Auswahlbiografie (eine Seite) und ein Glossar (2 Seiten). Neben dem Impressum findet man Angaben zu den drei Autor/innen des Bandes.

Die im Buch dargestellten Drucke stammen aus der Kollektion zweier niederländischer Sammler (Tobias Lintvelt und René Scholten), aus dem Nachlass des berühmtesten Verlegers von Neuen Drucken, Watanabe Shōzaburō, und aus der Sammlung der Königlichen Museen für Kunst und Geschichte in Brüssel (S. 7).

Den Abbildungen im Katalogteil sind folgende Informationen beigestellt, insofern sie vorhanden sind: Name des Künstlers in Schriftzeichen und Umschrift, Lebensdaten des Künstlers – Titel des Bildes in Schriftzeichen, Umschrift und Übersetzung – Serie – Datierung – Signatur – Künstlersiegel – Edition – Name des Blockschneiders – Name des Druckers – Bestandsnummer – Verlag – Format – Sammlung.

Anmerkung: Die meisten der hier gezeigten Abbildungen sind auch im Katalog abgebildet, stammen aber aus anderen Quellen.

Frau in Seitenansicht, reibt sich mit der linken Hand zart die rechte Schulter ein.

01.-02. Frauendarstellungen, beide mit dem Titel „Schminke“ („Keshō“), aus den Jahren 1929 und 1930 von Torii Kotondo (1900-1976). Von ihm stammt auch das Titelbild des Bandes.

Frau in Frontalansicht, kniet vor einem Spiegel, Oberkörper entblößt, steckt sich die Haare nach oben.

Vorgeschichte: Holzblockdrucke mit europäischen Einflüssen

Die Drucke aus der Edo-Zeit waren unter ausländischen Sammlern von Anfang an heiß begehrt, transportierten sie doch ein traditionelles Japanbild. Aus diesem Grund spezialisierten sich viele japanische Verleger Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur auf den Handel mit Originaldrucken, sondern auch auf die Herausgabe von Reproduktionen.

Die Drucke, die nach der Öffnung Japans ab 1860 angefertigt wurden, stießen dagegen lange Zeit auf wenig Interesse. Sie zeigten ausländische Einflüsse wie Japanerinnen und Japaner in europäischer Kleidung, Gebäude und Straßen im westlichen Stil, Maschinen und Verkehrsmittel (siehe die Abbildungen in dem Beitrag zur Ideengeschichte der Meiji-Zeit). Während der beiden Kriege gegen China (1894-95) und Russland (1904-1905) entstanden außerdem großformatige Kriegsszenerien, die aus drei nebeneinander angeordneten Drucken bestanden (Triptycha). Realisiert wurden sie unter Einfluss europäischer Kunsttechniken. Diese neuen Entwürfe wurden von den meisten Sammlern als Abkehr vom ursprünglichen Ideal japanischer Drucke betrachtet (S. 8-10).

Watanabe Shōzaburō

Der junge Herausgeber Watanabe Shōzaburō (1885-1962) war sich Anfang des 20. Jahrhunderts dieser Situation bewusst. Uhlenbeck bezeichnet Watanabe aufgrund seiner Aktivitäten in dreierlei Hinsicht als diezentrale Figur bei der Rettung der Techniken traditioneller Holzblockdrucke (S. 10-12):

  1. Watanabe erkannte das Vermarktungspotenzial von Drucken auf dem ausländischen Markt.
  2. Er sah die Gefahr, dass durch das Aufkommen alternativer Drucktechniken die Techniken zur Herstellung von Holzblockdrucken verloren zu gehen drohte. Aus diesem Grund begann er 1916 mit der Herausgabe einer aufwendigen Reproduktion alter Meister.
  3. Watanabe war klar, dass die Farbholzschnitte eine neue Formensprache benötigten, falls sie überleben wollten. Er begann eine Zusammenarbeit mit namhaften Künstlern seiner Zeit (S. 12-13).

Insgesamt geht man heute davon aus, dass Watanabes Unternehmen etwa 1.000 Shin-hanga-Motive herausbrachte, was ein Drittel der geschätzten Gesamtmenge ausmacht (S. 17).

Shin-hanga versus sōsaku hanga

Shin-hanga („Neue Drucke“) orientierten sich an der Produktionsform klassischer Farbholzschnitte, die sich als Massenware gut verkaufen mussten. Künstler entschieden nicht selbstständig und im Alleingang, welche Motive sie drucken ließen, sondern erhielten in den allermeisten Fällen Aufträge von Verlegern (hanmoto). Auch bei den Shin-hanga wurden die Bildinhalte bestellt: Der Herausgeber verlangte bestimmte Themen und entschied über deren Gestaltung. Die weitere Produktion erfolgte in Arbeitsteilung mit Holzschneidern und Druckern. Ziel war die Produktion einer traditionellen Kunst in modernem Gewand (S. 15-16).

Uhlenbeck beschreibt Watanabe als „klassischen, charismatischen, aber auch dominanten Verleger“, der immer die besten Handwerker beauftragte (S. 13).

Mit der Erfahrung, die sie im Ausland gemacht hatten – vor allem mit den Konzepten von künstlerischer Freiheit und Originalität – waren nun aber einige Künstler nicht mehr dazu bereit, sich dem Diktat eines Herausgebers zu beugen. Sie wollten den Herstellungsprozess ihrer Drucke von Anfang bis Ende selbst gestalten und sahen sich als Teil einer internationalen Bewegung. Um ihre Werke von den kommerziellen Drucken abzugrenzen, nannten sie die Werke, die unter ihrer künstlerischen Vorgehensweise entstanden, „sōsaku hanga“ („kreative Drucke“). Von ihnen stammt die in Japan ursprünglich nicht praktizierte Gewohnheit, Drucke mit einer definierten, durchnummerierten Stückzahl herauszugeben (S. 14-15, 55).

In der Praxis arbeiteten einige Künstler für beide Richtungen. Zum einen waren alle Kreative auf eine gewisse Effizienz und Vermarktung angewiesen, um finanziell erfolgreich zu sein. Zum anderen verlangte der Herausgeber Watanabe in den 1930er Jahren von den Künstlern, die für ihn arbeiteten, Techniken der kreativen Drucke für die Shin-hanga anzuwenden, um Stilisierungen und Klischees zu entgehen (S. 194).

Schiffe im Hafen, im Bildmittelpunkt eine Boje, im Hintergrund eine Bergkette.
Straßenecke, Passantinnen in moderner Kleidung, Fahrrad, im Hintergrund ein Automobil.
Brücke, im Zentrum ein Laternenmast, im Hintergrund eine Häuserreihe.

03.-05. Werke eines Vertreters der Kreativen Drucke, Kawanishi Hide (1894-1965), der ab 1932 Mitglied in der Japanischen Gesellschaft des kreativen Holzschnitts (Nihon sōsaku hanga kyōkai) war. Über mehrere Jahrzehnte brachte er verschiedene Serien mit Ansichten seiner Heimatstadt Kōbe heraus.

Die Zielgruppe

Von Beginn an zielte der Herausgeber Watanabe auf ausländische Kundschaft: Er lieferte an ein Antiquitätengeschäft in Karuizawa, einem Touristenort in den Bergen, in dem ausländische Familien gern die Sommerferien wie auch die freien Tage im Winter verbrachten. Außerdem baute er Kontakte zu einem Kunsthändler auf, der Japonica in New York, Boston und London vertrieb (S. 10-11).

Dazu produzierte er Kataloge in englischer Sprache (S. 16) und begann, die Drucke zu nummerieren, um den Gewohnheiten der Liebhaber aus Europa und den USA zu entsprechen. Dies folgte aber wohl eher einer Marketing-Strategie und entsprach weniger der tatsächlichen Auflagenhöhe (S. 16). Viele Drucke haben nicht nur eine japanische Bildbezeichnung am Seitenrand, sondern auch eine englische Bildunterschrift am unteren Rand (z.B. S. 184).

Ausschnitte eines großen Schreintors, davor zwei Pilger, die nach oben zur Holzkonstruktion schauen.

06. „Ikegami“ aus der Serie „Acht Ansichten vom Süden der Hauptstadt“ („Ikegami“, „Tonan hakkei no uchi“), Takahashi Shōtei (1871-1945), 1922.

Die große Zäsur: der 1. September 1923

Mit dem Großen Kantō-Erdbeben wurden nicht nur die meisten bis dahin gefertigten Drucke, sondern auch die allermeisten Druckstöcke vernichtet. Das Erdbeben am 1. September 1923 war ein so verheerendes Ereignis für die Kunstform der Shin-hanga, dass es laut Uhlenbeck zu einem wichtigen Merkmal der Einordnung und Klassifizierung wurde: Heute werden die Drucke aus der Zeit vor und der Zeit nach dem Beben unterschieden. Auch die Kapitel des Bildbands orientieren sich an dieser Einteilung. Stammt ein Druck aus der Zeit vor dem Erdbeben, hat es heute enormen Seltenheitswert (S. 17).

Neue Techniken

Trotz aller Traditionsverbundenheit erzielten die Shin-hanga durch verschiedene neue Techniken eine bis dato ungewohnte Wirkung. Zum einen wurde im 20. Jahrhundert qualitativ viel besseres Papier benutzt. Es war dicker und bot damit die Möglichkeit, mehrere Farben übereinander zu drucken, ohne dass es riss.

Zum anderen weist Uhlenbeck darauf hin, dass die Künstler früherer Jahrhunderte Grafiker waren, die sich auf die Aussagekraft der Linien stützten. Für die Künstler der Shin-hanga, von denen die meisten zugleich Maler waren, spielten dagegen Texturen und Farbnuancen eine wichtige Rolle. Sanft gedruckte Konturlinien (S. 57), gedeckte Grautöne, zarte Farbübergänge und glitzernde Hintergründe schufen malerische Effekte (S. 72). Die Drucker trugen die Farbnuancen in Dutzenden von Arbeitsschritten nacheinander auf das Papier auf (S. 108).

So entstanden zarte, fast traumähnliche Szenen von Nachtlandschaften mit den Silhouetten von Bäumen in der Dämmerung, indirekt beleuchtet von Licht, das aus Fenstern fällt (S. 69). Einige Drucke zeigen Mondstrahlen oder auch künstliches Licht, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelt (besonders: S. 77, 94, 99, 158, 159).

Nicht nur die feineren Techniken, auch die kleineren Auflagenzahlen belegen, dass sich die Holzblockdrucke in der Zeit der Shin-hanga vom Massenprodukt zum Kunstwerk entwickelten. Die Modernen Drucke wurden in weit weniger hohen Auflagen als die Holzblockdrucke in der Vergangenheit gedruckt (Auflagenzahl eines Motivs in der Edo-Zeit: mindestens 3.000 Stück, in der Praxis immer so lange Nachfrage herrschte / im 20. Jahrhundert: etwa 1.000 Stück; vorsichtige Schätzungen von Uhlenbeck, S. 20).

Holzhäuser am Wasser, ein Baum, der mit seiner Krone die gesamte Szenerie überspannt.

07. „Kuriwatashi-Anleger in Funabori“ („Funabori Kuriwatashi“), 1932

Blick auf die orange eingefärbte Bergspitze des Fuji, die sich im Wasser spiegelt.

08. „Tagesanbruch am See Yamanaka“ („Yamanaka-ko no akatsuki“), 1931

Ausschnitt eines Schreingebäudes, davor steht eine Frau.

09. „Meguro Fudō Tempel“ („Meguro Fudō-dō“), 1931

Brücke aus Stahl in der Dämmerung mit Laternen, deren Licht sich im Wasser spiegelt. Im Wasser mehrere Kähne.

10. „Kiyosu-Brücke“ („(Kiyosu-bashi“), 1931

Burggraben und Mauer mit einem Eingangstor, dessen Silhouette sich im Wasser des Grabens spiegelt.

11. „Sakurada-Tor“ („Sakurada-mon“), 1928

07.-11. Werke von Kawase Hasui (1883-1957), der mit fast 700 Motiven zu den produktivsten Druckkünstlern des 20. Jahrhunderts zählt (S. 215-216). Die Drucke zeigen ein wunderbares Spiel von Licht und Schatten sowie Spiegelungen auf Wasserflächen.

Wichtige Sujets

In ihren Motiven erinnern die Shin-hanga auf den ersten Blick an die Bildinhalte traditioneller Drucke. Trotzdem haben sie eine ganz andere Wirkung. Vor allem an den Landschaftsdarstellungen und an den Portraits schöner Frauen kann man sehen, wie sich die Kunstform weiterentwickelte.

12. „Es sieht nach Schnee aus“ („Yuki-moyoi“), Yamakawa Shūhō (1898-1944), 1927

Portrait einer traditionell gekleideten Frau, die zwei Finger ihrer rechten Hand an den Mund legt.

Landschaftsdrucke (fūkeiga)

Landschaftsbilder hatten jetzt keine berühmten Orte (meisho) mehr zum Bildinhalt, sondern Gegenden, die noch unberührt von der Industrialisierung waren. Das ländliche Japan stand im Gegensatz zur fortschreitenden Urbanisierung, die Darstellungen riefen schon zu ihrer Entstehungszeit ein Gefühl der Nostalgie hervor (S. 20, 79). Viele Bilder haben impressionistische Züge, andere Darstellungen wirken extrem dreidimensional. Besonders der Künstler Itō Shinsui (1898-1972) schuf stimmungsvolle Landschaftsbilder mit aquarellartigen Farbübergängen (S. 16).

Stromschnellen eines Baches, umgeben von Klippen, kleine Strudel.

13. „Stromschnellen am oberen Tone-Fluss“, Yoshida Hiroshi (1876-1950), 1928. Das Bild wirkt plastisch, die Bewegung des Wassers lebendig. In einigen Fällen waren die Drucke kaum noch von Gemälden zu unterscheiden.

Oft ist die Landschaft bei heftigem Regen oder Schneefall dargestellt. Viele Künstler feilten lange an der Technik, um Regentropfen und Schneeflocken überzeugend darzustellen. Sie verleihen den Bildern mehr Tiefe und Struktur. In einigen Werken sieht man den Regen als Abdruck des Werkzeugs, mit dem der Drucker das Papier auf die Druckblöcke presst, so dass mit jedem Abdruck ein individuelles Muster entstand (S. 82, 185). Zugleich verleiht die Witterung der Szenerie eine ganz besondere Atmosphäre. Die Figuren kämpfen gegen die widrigen Wetterbedingungen an, führen einen symbolischen Kampf gegen die Elemente (S. 20).

Verschneiter Weg, große Kiefer, einzelne Menschen mit Schirmen auf dem Weg, hin zu einem Tempeltor.

14. „Honmon-Tempel in Ikegami“ („Ikegami Honmon-ji“), Kawase Hasui, 1931

Ein Mensch mit Schirm steht vor den verschlossenen Gebäuden eines Tempels, seine Fußspur ist im Schnee zu erkennen.

15. „Tenno-Tempel in Ōsaka“ („Ōsaka Tenno-ji“), Kawase Hasui, 1927

16. „Asakusa im Schnee“ („Asakusa Kannondō“), Takahashi Shōtei, 1936

Pagode und verschneite Bäume, Frau mit Schirm im Schnee.

Bilder von schönen Frauen (bijinga)

Im Gegensatz zu früheren Drucken zeigen die Künstler der Shin-hanga individuelle Frauen, oft in sehr privaten Momenten wie beim Kämmen der Haare oder beim Auftragen von Schminke. Die Künstler portraitierten Modelle, die namentlich bekannt sind (S. 104-105). Die Gesichter der Frauen sind nun nicht mehr emotionslos wie in den traditionellen Drucken. Ihre Wangen sind gerötet, sie lächeln zart, scheinen gedankenverloren, kurz: Sie zeigen Gefühle. Das Idealbild erinnert an traditionelle Schönheiten im Kimono (S. 113), zeigen aber auch moderne Frauen in den Städten.

17.-22. Werke von Hashiguchi Goyō (1881-1921). 

Frau in Frontalansicht, hat ihren Kopf leicht nach links gebeugt. Hebt mit der linken Hand ihr langes Haar, das sie der rechten Hand kämmt.

17. „Frau, die ihr Haar kämmt“ („Kami sukeru onna“), 1920. Das Bild ist nach Uhlenbeck eines der wichtigsten Werke der modernen japanischen Druckkunst (S. 45).

Frau in Frontalansicht, schaut auf den Taschenspiegel in ihrer linken Hand und trägt mit der rechten Hand Schminke auf ihrer Schulter auf.

18. „Frau, die Schminke aufträgt“ („Keshō no onna“), 1918

Vor dem Spiegel kniende Frau im Yukata, der ihre Brüste gerade noch bedeckt.

19. „Frau im Sommerkimono“ („Natsugoromo no onna“), 1920

Stehende Frau in blauem Kimono, einen langen, bunten, aufgewickelten Obi in ihren Händen.

20. „Junge Dame im Sommerkimono“ („Natsu yosoi no musume“), 1920

Eine nackte Frau kniet vor der Waschschüssel und wringt ein Tuch aus.

21. „Frau in ihrem Bad“ („Yuami“), 1915

Eine Frau im Yukata stützt sich gedankenverloren auf einem Geländer auf und schaut in die Ferne.

22. „Frau im Onsen“ („Onsen yado“), 1920

Moderne Stadtlandschaften

Bei der Darstellung des Stadtlebens der 1930er Jahre kommen die Neuen Drucke (Shin-hanga) den kreativen Drucken (sōseki hanga) wohl am nächsten.

Im Vordergrund zwei Moga am Tisch, die Cocktails trinken, im Hintergrund tanzen drei Paare.

23. „Tanzen im New Carlton Hotel in Shanghai“ („Odori Shanhai Nyū Karuton shoken“) von Yamamura Kōka (1885-1942), 1924. Das Werk gilt als erster Druck, auf dem „Modern girls“ (Moga) dargestellt werden: Sie tragen westliche Kleidung und haben einen Bob-Haarschnitt (S. 150).

24. Der Druck mit dem Titel „Schwips“ („Horoyoi“) von Kobayakawa Kiyoshi (1899[?]-1948), 1930, zeigt ein Moga der 1920er Jahre. Moga standen für das moderne Leben: finanziell unabhängig, sexuell befreit. Die junge Frau auf dem Bild trinkt Alkohol, raucht, stützt sich locker auf den Ellbogen auf und schaut den Betrachtenden direkt in die Augen (S. 153).

Eine Frau mit einem Cocktail vor sich auf dem Tisch und einer Zigarette in der Hand.

Das Ende der Kunstform Shin-hanga

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs brach die ausländische Kundschaft weg, die Rohstoffe wurden knapp bzw. rationiert. Mit den Bombenangriffen auf Tōkyō wurden erneut viele Druckstöcke zerstört. Aber schon kurz nach dem Krieg war Watanabe wieder wirtschaftlich erfolgreich. Gerade die in Japan stationieren US-amerikanischen Soldaten kauften gern Farbholzschnitte als Mitbringsel für Zuhause.

Uhlenbeck stellt jedoch fest, dass die neuen Drucke in ihrer Qualität nicht mehr an die aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts heranreichten: „Das „Neue“ der „Neuen Druckkunst“ war abhandengekommen, und die Bewegung schaffte es nicht, sich neu zu erfinden.“ (S. 24).

25. „Der Hauptbahnhof von Tōkyō in der Gegenwart“ („Genzai no Tōkyō-eki“), Yamakawa Shūhō, 1942

Eine junge Frau im Kimono vor dem Gebäude des Hauptbahnhofs.

Der Band ist lesens- und betrachtenswert, denn …

… er bietet eine umfassende, gute Übersicht über die Neuen Drucke.

Die Gesamtdarstellung ist äußerst übersichtlich und sehr gut verständlich. Die ausgezeichnet gegliederte Einführung stellt zunächst einmal die wichtigsten Aspekte der Kunstform bereit. Der anschließende Katalogteil macht mit Hilfe der Auswahl und der chronologischen Anordnung der Bilder deren Entwicklung deutlich: Zum Beispiel die Suche nach einer neuen Ausdrucksform zu Beginn des 20. Jahrhunderts, noch ganz unter dem Einfluss der traditionellen Sujets, vor allem der Ikonen der Vergangenheit wie Hiroshige und Hokusai (z.B. S. 34, 86).

Eine Frau und ein Mann überqueren eine Holzbrücke, indem sie sich mit ihren Schirmen gegen den starken Regenschauer stemmen.

26. „Regen auf der Izumi-Brücke“ („Izumi-bashi no ame“), Takahashi Shōtei, 1923

Uhlenbeck zeigt nicht nur typische Vorbilder, sondern erklärt auch die Motivik der Bildinhalte, wie zu „Mond, Schnee und Blumen“ (setsugekka, S. 33), zu „Acht Ansichten des Biwa-Sees“ („Ōmi hakkei“, S. 62 ff), zum „Reihermädchen“ („Sagi musume“, S. 102) oder zur Bedeutung des Motivs der Krähe (S. 145).

Dazu zählt auch „Morgendliches Haar“ „Asanegami“, ein poetischer Begriff, der eine Frau beschreibt, die im Bett liegt und an ihren Geliebten denkt. Der Druck von Torii Kotondo aus dem Jahr 1931 ist das Titelbild des Katalogs. Da das Motiv durch die Behörden offenbar als zu sinnlich eingestuft wurde, konnten nur 70 Abdrucke gemacht werden und noch unverkaufte Drucke wurden beschlagnahmt (S. 112). 

Uhlenbeck deutet an, dass die Forschung noch offene Fragen bereithält. Zum Beispiel sei erst vor kurzem festgestellt worden, dass Takahashi Shōtei anfänglich unter dem Namen „Kakei“ tätig war. Zuvor hatte man Kakei für einen eigenständigen Künstler gehalten (S. 136).

… er ist von hervorragender Qualität, auf gutem Papier in wunderfarben Farben gedruckt.

Durch die Qualität des Katalogs kommt die beeindruckende technische Perfektion der Drucke zur Geltung. Die Bildschärfe, die Kontraste und die Brillanz der Farben sind beeindruckend, z. B. bei dem Muster eines Kimonos, das an Miró erinnert (S. 166).

Ein im Ausschnitt vergrößerter Farbholzschnitt zu Beginn jedes Kapitels lädt in die Thematik ein. Die beschriebenen Drucktechniken sind auf den Abbildungen deutlich erkennbar. Dazu zählt etwa die Technik, die Maserung des Holzblocks hervortreten zu lassen (S. 139). Selbst Blinddrucke (Druckgang ohne Farbe, der eine Vertiefung als Relief in das Werk einstanzt) sind auf den Katalog-Abbildungen zu erkennen (z.B. S. 109).

In einem anderen Fall zeigen mehrere Versionen in voneinander abweichenden Farbkombinationen die unterschiedliche atmosphärische Wirkung, die sie hervorrufen (S. 110, 198-200). Bei Landschaftsbildern können bei ein und demselben Motiv Bilder von unterschiedlichen Tages- oder Jahreszeiten und zu verschiedenen Wetterverhältnissen entstehen, zum Beispiel wenn das Gras nicht grün, sondern braun ist, in einem Fall Regen, im anderen Fall blauer Himmel die Szenerie beherrscht (S. 178-179).

In den Katalog wurden außerdem Bleistiftzeichnungen (S. 45, 112), fotografische Vorlagen (S. 129) und ein Abdruck einer zerstörten Druckplatte aufgenommen: Einige wenige Künstler beschädigten die Platten, um den Käufern einen Beweis für die Limitierung der Auflage zu liefern (S. 112).

Eine nackte Frau mit offenen Haaren spielt mit einem Tuch mit einer Katze.

27. „Frauenakt, mit einer Katze spielend“ („Rafu neko jarashi“). Eines von drei Aktbildern, die Takahashi Shōtei zwischen 1927 und 1930 angefertigte. Die Farben bilden starke Kontraste (S. 152).

… er zeigt die Bedeutung des Verlagswesens für die japanischen Künste.

Die Drucke zeigen nicht nur nostalgische Motive, sondern spiegeln auch aktuelle Ereignisse wider, wie eine Frau in einer ungewöhnlichen Tanzposition (der Eindruck von Vorstellungen ausländischer Tanzgruppen, S. 157) oder ein Ozeandampfer im Hafen von Shanghai (Beginn des Zweiten Chinesisch-Japanischen Kriegs 1937, S. 165). Einige Drucke stehen für die enge Zusammenarbeit mit anderen Künsten, wie die Darstellungen von Schauspielern, die das Kabuki-Theater erneuern wollten (S. 123).

Schauspieler mit expressivem Gesichtsausdruck in westlicher Kleidung.
Schauspieler mit expressivem Gesichtsausdruck in traditionell japanischer Kleidung.

28.-29. Zwei vollkommen unterschiedliche Schauspielerportraits von Yamamura Kōka.

28. Morita Kan’ya XIII als Jean Valjean, Hauptfigur des Stücks nach Victor Hugos Roman „Les Misérables“ (S. 126).

und

29. Ichikawa Danshirō II als der berüchtigte Rōnin Henmi Tesshinsai in einem modernen Kabuki-Stück (S. 123).

Vor allem aber verdeutlichen die Shin-hanga die enorme, nicht zu unterschätzende Bedeutung der Herausgeber und Verleger für die japanische Kunst: mit ihrer Orientierung am Publikumsgeschmack, dem Rückgriff auf die Traditionen, zugleich der Emanzipierung von den großen Vorbildern und vor allem mit ihrer gewaltigen Bedeutung für die spätere Populärkultur.

Bis heute produziert die Familie Watanabe Drucke mit originalen (!) Holzblöcken, die vor 50 bis 100 Jahren geschnitten wurden (S. 16). Das Unternehmen wird vom Enkel des Watanabe Shōzaburō betrieben und hat ihren Sitz in der renommierten Einkaufsmeile Ginza, wohin Watanabe Shōzaburō 1923 nach dem Großen Erdbeben umzog (S. 17).

21.06.2025 (Ausgabe 19)

Susanne Phillipps

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Bildnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Buch-Arrangement Shin-hanga: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: Von Torii Kotondo (Japanese, active 1st half 20th century) – Walters Art Museum: Home page  Info about artwork, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18841273

02: Von Torii Kotondo (Japanese, active 1st half 20th century) – Walters Art Museum: Home page  Info about artwork, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18841277

03: Kawanishi Hide – Catalogue, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=46060618による

04: Kawanishi Hide – Catalogue, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=46060800による

05: Kawanishi Hide – Catalogue, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=46060801による

06: By Shōtei Takahashi – Museum of Fine Arts Boston, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=60159958

07: Von Kawase Hasui – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 2586549, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96614910

08: Von Kawase Hasui – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 2586549, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96614685

09: Von Kawase Hasui – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 2586549, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96614627

10: Von Kawase Hasui – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 2586549, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96614562

11: Von Kawase Hasui – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 2586549, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96613883

12: By Yamakawa Shūhō(1898-1944) – https://www.lempertz.com/en/catalogues/lot/1034-1/1180.html, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=58499549

13: Von Yoshida Hiroshi – https://ukiyo-e.org/image/mfa/sc219915, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=148990337

14: Von Kawase Hasui – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 2586549, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96614528

15: Von Kawase Hasui – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 2586549, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96613856

16: By Hiroaki Takahashi – https://collections.lacma.org/node/153919, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=114133849

17: Von Hashiguchi Goyo (1880-1921) – Kunstmuseum Honolulu, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36911281

18: Von Goyō Hashiguchi – Museum book, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25004919

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23: Von Yamamura Kōka – Printed to perfection, Hotei Pub, scan, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25020413

24: Kobayakawa Kiyoshi – Catalogue, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25091464による

25: By Yamakawa Shūhō(1898-1944) – http://jp.japanese-finearts.com/item/item_images/36/A1-92-021-01/1-92-021-01.jpg, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=58522396

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27: By Takahashi Hiroaki (1871-1945) – Book scan: “Printed to perfection. Twentieth-century Japanese Prints from the Robert O. Muller Collection”. Amsterdam: Hotei, 2004, p.43., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25005978

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29: Von Yamamura Koka (1886-1942) – Scanned from: “Printed to perfection”. Amsterdam: Hotei Pub, 2004, p.81. scan, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25020415