Die Gedankenwelt auf den Kopf gestellt – Intellektuelle der Meiji-Zeit und ihre Interpretation der zeitgenössischen Ereignisse

Buch vor einem Hintergrund mit ähnlicher Musterung

Karube Tadashi (2019). Toward the Meiji Revolution. The Search for „Civilization“ in Nineteenth Century Japan. Tōkyō: Japan Publishing Industry Foundation for Culture (JPIC); 256 Seiten. Übersetzt von David Noble [japanisches Original von 2017].

Karube Tadashi beschäftigt sich mit der japanischen Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts. In diesem Buch behandelt er die Frage, wie zeitgenössische Intellektuelle auf die dramatischen Neuerungen vorbereitet waren, die der Kontakt Japans mit dem Ausland zur Folge hatte: Wie deuteten die damaligen Gelehrten die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen und wie bauten sie diese in ihr Weltbild ein?

Die Ereignisse rund um die Öffnung des Landes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten keinen plötzlichen Einschnitt dar. Sie waren im Gegenteil nur als Weiterführung größerer gesellschaftlicher und gedanklicher Entwicklungen möglich, die schon in den letzten Jahrzehnten der Edo-Zeit Fahrt aufgenommen hatten (S. 7, 29).

Die japanischen Gelehrten hatten sich schon vor der Ankunft von Commodore Perry 1853 in der Bucht von Edo ausführlich mit medizinischem und technischem Wissen, philosophischen, soziologischen und politischen Ideen des Auslands auseinandergesetzt. Innerhalb kürzester Zeit befanden sie sich mitten in einem Diskussionsprozess, der sich darum drehte, welche Aspekte des Fremden für eine Aneignung in Frage kommen könnten (S. 29). Karube Tadashi stellt dar, welche Positionen von wem vertreten wurden.

Über das Buch

Das Buch enthält

– ein Vorwort zur englischen Ausgabe;

– eine Einführung;

– 11 Kapitel von meist 16, manchmal 20 Seiten;

– einen Anhang mit Anmerkungen, Quellenangaben, Abbildungsnachweisen, Angaben zum Autor und zum Übersetzer.

Die Kapitel lauten:

  1. Meiji Restauration or Meiji-Revolution?
  2. The Long Revolution
  3. History in Reverse
  4. The Voltaire of Osaka
  5. Is Commerce Evil?
  6. The Age of Economics
  7. Another Side of Motoori Norinaga
  8. A New Cosmology and the Concept of Ikioi
  9. Ikioi as the Motive Force of History
  10. A Farewell to the Hōken-System
  11. The Advent of “Civilization”

Der Text wird von zahlreichen kleinen Abbildungen in Schwarzweiß begleitet: Portraits der Gelehrten, Deckblätter ihrer Veröffentlichungen, Seiten aus Manuskripten.

Farbholzschnitt von einer Steinbrücke, Passanten in europäischer Kleidung, zum Teil in Rikschas und zu Pferde.
Farbholzschnitt eines westlich anmutenden Straßenzugs mit Rikschas, Pferden, Gehweg vor einem zweistöckigen, aus Stein errichteten Gebäude.

01-02. Menschen in ausländischer Kleidung, europäische Architektur; 2 Bilder aus der Serie „Ansichten berühmter Orte in Tōkyō“ („Tōkyō meisho zue“) von Utagawa Hiroshige III (1842-1894).

Über den Autor und über den Übersetzer

Der Autor Karube Tadashi (geb. 1965) erwarb seinen Doktor der Rechtswissenschaften an der Universität Tōkyō, School of Legal and Political Studies. Dort ist er heute als Professor für Politikwissenschaften tätig. Sein Spezialgebiet ist die Geschichte des japanischen politischen Denkens. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen, von denen einige mit Preisen ausgezeichnet wurden.

Der Übersetzer David Noble war Chefredakteur der mehrbändigen Enzyklopädie „Japan. An Illustrated Encyclopedia“, die 1993 bei Kodansha erschien. Heute arbeitet er als selbstständiger Übersetzer, Redakteur und Buchdesigner.

Das Zusammentreffen verschiedener Kulturen

Was bedeutete es für die japanischen Gelehrten – neben der spektakulären Umgestaltung des Stadtbildes, der Einführung von Maschinen, den Veränderungen des Alltags – in Kontakt mit fremden Gedankenwelten einer technisch überlegenen Kultur zu kommen?

Farbholzschnitt eines westlich anmutenden Straßenzugs mit Pferden, Gehweg vor einem zweistöckigen, aus Stein errichteten Gebäude.
Farbholzschnitt eines westlich anmutenden Straßenzugs mit Straßenlaternen, Gehweg vor einem mehrstöckigen, aus Stein errichteten Gebäude.
Farbholzschnitt einer Steinbrücke, ein aus Stein errichtetes Gebäude im Hintergrund.

03.-05. Drei Bilder aus der Serie „36 Ansichten des Tōkyō der Aufklärung“ („Tōkyō kaika 36 kei“) von Utagawa Hiroshige III., die etwa 1874 bis 1877 veröffentlicht wurden. Sie zeigen die neue Atmosphäre der Hauptstadt.

– Schlagwörter der Zeit waren „bunmei kaika“, „Zivilisation und Aufklärung“. Karube erklärt, wann die Begriffe in welchem Zusammenhang gebraucht wurden. Er selbst bezieht sich mit dem europäischen Konzept von Zivilisation auf den Soziologen Norbert Elias: Zivilisation als „Ausdruck europäischer Selbsterkenntnis“ (S. 11).

Für den Einstieg bezieht sich Karube – zunächst einmal irritierend ausführlich – auf den Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington, der vor allem durch seine breit diskutierte Veröffentlichung „The Clash of Civilizations“ („Kampf der Kulturen“, 1996) bekannt wurde.

Huntington wandte sich in dem Buch gegen die Vorstellung einer universellen Weltkultur, wie sie nach 1989 (Auflösung des Ost-West-Konflikts durch den Zusammenbruch der Sowjetunion) von verschiedenen Politologen, unter anderem von Francis Fukuyama, vertreten wurde. Es sei eine völlig falsche, überhebliche Selbsteinschätzung, die wirtschaftliche Entwicklung von Ländern bringe automatisch die Einführung europäischer Werte mit sich. Die neuen Konflikte sah Huntington zwischen Zivilisationen (großen Kulturräumen), die bei der Auseinandersetzung mit der euro-amerikanischen Dominanz zu wichtigen identitätstiftenden Einheiten geworden seien (ausführlich in Wikipedia: Eintrag Samuel P. Huntington). Das Buch wurde damals äußerst kritisch diskutiert, nicht nur wegen Huntingtons Analyse, sondern vor allem wegen der Forderungen, die er auf Basis seiner Annahmen an die Politik richtete.

Karube Tadashi führt dies an, weniger um nun nach knapp 30 Jahren Huntingtons Thesen zu kritisieren, sondern zur Veranschaulichung, welch breite Palette denkbarer Möglichkeiten es gibt, wenn verschiedene Kulturen aufeinandertreffen: sei es in Konkurrenz, in einem Nebeneinander, in Formen der Übernahme verschiedener Ideen-Bausteine.

Er legt dies ausführlich anhand mehrerer Themenkreise dar, die die japanischen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts während ihres Kontakts mit der europäischen Gedankenwelt beschäftigten, darunter ihre damaligen Geschichtsbilder, ihre politischen Konzepte, ihre Haltungen zu wirtschaftlichen Tätigkeiten.

Die Darstellung ist vielfältig und umfasst zahlreiche Details, so dass ich in der folgenden Empfehlung nur einige Punkte herausgreife.

Der Gebrauch der Begriffe, welcher Begriffe?

Bei der Lektüre von Karubes Buch wird deutlich, wie schwierig es für Zeitgenossen überhaupt war, den Gang der Ereignisse einzuschätzen. Dies zeigt ihre Suche nach den passenden Bezeichnungen für das Neue, das innerhalb kürzester Zeit von der Regierung eingeführt, von politischen Gegnern bekämpft, dann doch durch- und umgesetzt wurde.

Karube nimmt die Leserinnen und Leser mit in ihre Gedankenwelt: Er zeigt, welche Ausdrücke ihnen zu Verfügung standen – entweder aus dem klassischen Chinesisch, in dem sich die Gelehrten gedanklich bewegten, oder aus den neuen, ihnen noch fremden Sprachen – und warum sie aus ihrer damaligen Wahrnehmung heraus diesen oder jenen Begriff wählten und mit welchen Konnotationen sie verbunden waren.

Dabei wird deutlich, wie prägend und zentral im Denken die Ideale der chinesischen Klassiker und die neokonfuzianische Denkweisen waren: Ihre Grundausbildung erhielten die Gelehrten in Schulen, die die Philosophien verschiedener Klassiker vertraten, und sie nutzen die Begrifflichkeiten der klassischen Texte, um die aktuellen Ereignisse zu deuten.

Portrait in Schwarzweiß von einem älteren Herrn in europäischem Anzug.

06. Nishi Amane (1829-1897), Philosoph und politischer Verwalter, der sich in neokonfuzianistischer Wortwahl für die Gedanken der Aufklärung einsetzte (S. 79). Amane prägte u. a. das japanische Wort „tetsugaku“ für den Begriff „Philosophie“ (Wikipedia: Eintrag Nishi Amane).

„Restauration“ oder „Revolution“?

Das erste Kapitel fragt nach der Bezeichnung für das, was stattfand – zum einen die Rückgabe der politischen Macht vom Shōgun an den Tennō, zum anderen die gesellschaftliche und politische Umgestaltung, die schrittweise vonstatten ging und schließlich alle Lebensbereiche betraf: die Abschaffung des erblichen Klassensystems, die Zentralisierung der Regierungsmacht, die Einführung neuer politischer und rechtsprechender Institutionen, der neue Gebrauch von Objekten im Alltag (S. 34-35).

War dies eine Revolution (kakumei) oder eine Restauration (ishin, „Rückkehr zur kaiserlichen Herrschaft“)?

07. Der letzte Shōgun, Tokugawa Yoshinobu, deklariert die Rückgabe der Regierungsgewalt an den Tennō (taiseki hōkan), Kyōto, 1867.

Gemälde: Im Inneren des Palasts der Shōgun, im Vordergrund die Untergebenen, sich verbeugend.

Karube zeigt, dass sich die Bezeichnung „Restauration“ (ishin) durchsetzte, mit der Bedeutung der Wiederherstellung der kaiserlichen Macht als Teil einer umfassenden politischen Revolution (S. 37). „Ishin“ ist ein Begriff aus dem Konfuzianismus und wurde benutzt, um den Übergang der Herrschaft von einer Dynastie zu einer anderen zu erklären: Ein Herrscher, ursprünglich mit göttlichem Auftrag versehen, sollte besonders tugendhaft sein und bei seiner Herrschaft stets das Wohlergehen des Volkes im Blick haben. Kam er vom rechten Weg ab, wurde er zu einem Tyrannen, dann war es rechtschaffen, gegen ihn vorzugehen und ihn abzulösen (S. 42).

Die beiden Schriftzeichen für „ishin“ können auch als „kannagara“ gelesen werden: „dem Willen der Götter folgend“, „göttlich“. Mit der Bezeichnung „ishin“ konnte also betont werden, dass die Vorgänge um 1868 in Übereinstimmung mit göttlichem Willen stattfanden („kannagara no michi“ ist ein anderer Begriff für „Shintō“, S. 44-45).

So konnte auch auf den ersten (mythischen) Kaiser, Jinmu Tennō, und seine Gründung des japanischen Reichs zurückgegriffen werden. Dies wurde später von der neuen Regierung benutzt, um die Einführung ganz neuer, im Westen geprägter Institutionen zu legitimieren.

Portrait in Schwarzweiß von einem Herrn in europäischem Anzug.

08. Takekoshi Yosaburō, Historiker und Politiker (1865-1950) führte in seiner „Neuen Geschichte Japans“ („Shin Nihon-shi“, 1891-92) Gründe für Revolutionen auf:

  1. Suche nach der Rückkehr zu einem früheren, besseren Zustand („revivalist revolution“)
  2. Suche nach einem besseren Zustand in der Zukunft („idealistic revolution“)
  3. Suche nach Veränderung ohne genaue Vorstellung eines Idealzustands („anarchical revolution“)

Er interpretierte die Umwälzungen zu Beginn der Meiji-Zeit als „soziale Revolution“, bei der die Ereignisse von 1868 nur die Spitze des Eisbergs waren (S. 58-59).

Der Höhepunkt der Zivilisation: in der Zukunft oder in der Vergangenheit?

Die konfuzianische Perspektive sah den Idealzustand der Zivilisation in der weiten Vergangenheit. Sie glorifizierte die frühen Zeiten und interpretierte die menschliche Geschichte als graduellen Abfall der idealen Welt zur Zeit der legendären Herrscher des alten China.

Dies stand in genauem Gegenteil zur europäischen Perspektive der Aufklärung: Nach deren Auffassung lag die ideale Zivilisation durch die stete Verbesserung der Menschheit in der Zukunft.

Einer der wichtigsten Denker der Zeit, Fukuzawa Yukichi (1835-1901) vertrat unter dem Einfluss europäischer Denker einen grenzenlosen Fortschrittsglauben: die Vision der steten Verbesserung nicht nur der materiellen Umgebung, sondern auch des Intellekts und der Tugenden. Seiner Einschätzung nach ist das grundlegende Prinzip menschlicher Geschichte die stete Weiterentwicklung vom barbarischen Zustand zu zivilisatorischen Zuständen verschiedenen Grades (S. 68-70, 73, 214).

Portrait in Schwarzweiß von einem Herrn in japanischem Kimono und japanischer Haartracht.
Schriftzug auf dem Titelblatt der Veröffentlichung.

09.-10. Fukuzawa Yukichi 1862 in Paris. Sein „Abriss der Zivilisationstheorie“ („Bunmeiron no gairyaku“) wurde 1875 in sechs Bänden veröffentlicht.

Der Geist der Kaufleute, des unteren Standes

Ab dem 17. Jahrhundert bildete sich in Japan ein landesweites Verteilersystem für Waren mit Zentrum in Ōsaka heraus, was zur Entwicklung und Produktion zunehmend vielfältiger Wirtschaftsgüter führte. Die sozial als unterste Gesellschaftsschicht verorteten Kaufleute wurden wirtschaftlich immer stärker, ihr Selbstbewusstsein wuchs. Viele Daimyō waren bei ihnen verschuldet, nicht selten wurden die Kaufleute in die Provinzregierungen gerufen, um inmitten von Finanzkrisen die Güter wieder in Ordnung zu bringen.

Einige Kaufleute nutzten ihre Zeit für Bildung. Sie lasen klassische Schriften oder widmeten sich der Astronomie und anderen Naturwissenschaften, deren aktuellen Wissensstand sie über Bücher aus dem Ausland bezogen (S. 119). Manche meldeten sich mit eigenen Schriften zu Wort. So schrieb der Geschäftsmann, Astronom und Gesellschaftskritiker Nishikawa Joken (1648-1724), dass alle Menschen, egal welchen Standes, gleich seien, und dass allein ihre Erziehung und Bildung darüber entscheide, dass aus ihm / ihr ein guter Charakter werde (S. 105-106). Ein anderer, Yamagata Bantō (1748-1821) war gegenüber den Kosmologien des Shintoismus und Buddhismus besonders kritisch. Seiner Meinung nach zeigte die Fähigkeit zur Navigation direkt den Vorsprung westlicher Geografie und Astronomie (S. 150-152).

Grobe Skizze einer Pazifik-orientierten Weltkarte, auf der die Kontinente erkennbar sind.

11. Weltkarte von Nishikawa Joken, angefertigt nach dem Studium europäischer Bücher.

Drei chinesische Schriftzeichen für den Namen der Schule.

12. Andere Kaufleute gründeten eigene Schulen. Die Kaitokudō war eine Handelsakademie in Ōsaka, die aus einer kleinen Gruppe von Kaufleuten hervorging, die sich trafen, um über Tugend oder moralische Erziehung durch das Lesen und Studieren klassischer Texte zu diskutieren. Seit ihrer offiziellen Gründung 1726 ermöglichte die Schule Kaufleuten eine Hochschulbildung, als dies noch selten oder gar nicht denkbar war. Der Schwerpunkt lag auf ihrer moralischen Erziehung (S. 89 und Wikipedia: Eintrag Kaitokudō).

Aus dieser Schule ging ein sehr kritischer Philosoph hervor: Tominaga Nakamoto (1715-1746), der die etablierten Wege Konfuzianismus, Shintoismus und Buddhismus als reine Ideologien betrachtete und sich kritisch über sie äußerte. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Katō Shūichi (1919-2008) verglich die Haltung Tominagas deshalb mit dem kritischen Geist, mit dem der französische Philosoph der Aufklärung Voltaire (1694-1778) den Klerikern seiner Zeit entgegentrat (S. 93). Tominagas Devise war, sich in allen Facetten auf das Heute zu konzentrieren und nicht in Dogmen früherer Epochen zu versinken. Oftmals würden Intellektuelle den Bezug zur Vergangenheit nur deshalb herstellen, um andere Ideen zurückzusetzen und Autorität für die eigene Denkweise zu erheischen (S. 93-95).

Zeitgenössische Gelehrte suchten nun Antworten auf die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung. Vor allem für Anhänger des Konfuzianismus war es nicht leicht, Handel und Industrie moralisch und ethisch zu akzeptieren. Inwieweit waren Profit und Rechtschaffenheit miteinander vereinbar?

Einige prangerten zunehmende Habgier, Prahlerei und Unzufriedenheit an, sprachen sich gegen den Handel aus und sahen die Antwort im Agrarismus, in dem die Landwirtschaft die entscheidende Produktionssphäre und die Dorfgemeinschaft, nicht die Stadt, die Grundeinheit der gesellschaftlichen und staatlichen Struktur darstellen sollte (S. 102).

13. Der neokonfuzianische Gelehrte Ogyū Sorai (1666-1728) vertrat als Wirtschaftstheoretiker die Ansicht, dass durch die gesetzlich vorgegebene Reisetätigkeit der Daimyō zwischen ihrem Heimatort und der Hauptstadt Edo die wirtschaftlichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt worden waren. Zur Abhilfe sollten durch einen konsequenten Anti-Kommerzialismus die alten (idealen) Zustände wiederhergestellt werden (S. 109-110).

Schwarzweiß-Grafik des Portraits eines Mannes in Kimono.

Andere traten für ethische Grundlagen im Handel ein, rieten Daimyō, spezielle Produkte ihrer Region herstellen zu lassen. Sie sahen Gewinn als legitim zum Erhalt des Familienunternehmens, das von einer Generation an die nächste weitergegeben werden sollte. Die Anhäufung von Gewinn um seiner selbst willen galt dagegen als unmoralisch.

 – Es ist kaum anzunehmen, dass Kaufleute in Zeiten zunehmender Prosperität wirklich hinter diesen Ideen standen (S. 104). Trotzdem mussten sie ihr Handeln im Rahmen konfuzianistischen Denkens legitimieren. Der Wirtschaftsgelehrte Kaiho Seiryō (1755-1817) setzte sich deshalb für ein praktisches Studium ein, das sich vom Idealdenken lösen und zur Bewältigung gegenwärtiger, realer Probleme nützen solle (S. 124-125).

14. Der Vertreter der Nationalen Schule Motoori Norinaga (1730-1801) war der Überzeugung, dass Phasen von wirtschaftlichem Wachstum durch Phasen wirtschaftlichen Niedergangs abgelöst würden. Obwohl er der Meinung war, dass der Handel die Sehnsucht nach Luxus schüre, war er nicht für eine prinzipielle Verdammung aller Handelsaktivitäten. Oberstes Gebot für die Herrschenden ist in seinen Augen Selbstbeschränkung: Zurückhaltung als Vorbild (S. 136-139).

Gemälde eines Mannes in Kimono, der vor einem knietiefen Schreibpult sitzt.

Vom Lauf der Dinge

Eine wichtige Frage, die die Gelehrten umtrieb, war die Frage nach der geeigneten Organisationsform des Staates: entweder als dezentrales Feudalsystem (hōken), mit dem die Shōgune von 1600 bis 1868 das Land beherrscht hatten, oder als Präfektursystem unter zentraler kaiserlicher Herrschaft (gunken). Auch hier spielte der Blick in die Vergangenheit eine wichtige Rolle.

Ein zentraler Begriff war dabei „ikioi“, der als „Kraft“, „Macht“, „Energie“, „Impuls“ oder „Antrieb“ und im übertragenen Sinne „Lauf der Dinge“ oder „Gang der Entwicklung“ übersetzt werden kann. Das Wort beschreibt eine vitale Energie, durch die der Gang der Geschichte von Anbeginn des Kosmos an angetrieben wird. Auf dem Prinzip basieren Entstehung und Zerfall des Reiches, politische (Un)Ordnung und (Un)Sicherheit des Staates. Wie ein Bootsmann, der mit seinem Kahn einen Fluss hinunterfährt, kann der Gang der Dinge durch den Menschen nicht kontrolliert werden, ein dynamischer Prozess kann durch den wachsamen Menschen höchstens beeinflusst werden (S. 170-172).

Gemälde eines knienden Mannes in Kimono, der in der rechten Hand einen Fächer hält.

15. Der Historiker Rai San’yō (1780-1832) beschäftigte sich mit Aufstieg und Fall der Shōgune sowie des Kaiserhauses.

Das Buch ist lesenswert, denn …

… es verdeutlicht den Facettenreichtum der damaligen Gedankenwelt.

Karube stellt ein breites Kaleidoskop der damaligen Gelehrten vor, erklärt, welchen Denkrichtungen wie Konfuzianismus, Nationale Schule (Kokugaku) oder Holländische Studien (Rangaku) sie anhingen und von welchen Lehrern innerhalb der Schulen sie maßgeblich beeinflusst wurden. 

Um ihre Denkweise zu skizzieren, zitiert er passende Passagen aus ihren Werken und erklärt im Anschluss klar und anschaulich, wie die Ausführungen zu verstehen und einzuordnen sind. So macht er die zum Teil abstrakten Themen sehr verständlich.

Außerdem führt er an, auf welche Weise sich spätere Intellektuelle mit den Edo-zeitlichen Denkern auseinandersetzten und ihre Aussagen deuteten (z.B. Yoshida Ken’ichi, S. 132-133; Maruyama Masao, S. 165-169).

Farbholzschnitt von zwei Männern in europäischen Anzügen, die mit einer Frau im Kimono sprechen. Ein Mann hat ein Fernrohr.
Farbholzschnitt von drei Männern in europäischen Anzügen im Zugangsbereich zu einem europäischen Haus.
Farbholzschnitt von Passanten, die in europäischer Kleidung zu einem Schreintor gehen.

16.-18. Drei Bilder aus der Serie „36 Ansichten des Tōkyō der Aufklärung“ („Tōkyō kaika 36 kei“) von Utagawa Hiroshige III. Sie zeigen Personen in fremder Kleidung.

… es zeigt exemplarisch den Prozess der Auseinandersetzung mit fremden Denkmodellen.

Das Buch bietet einen spannenden Einblick in die Deutungsversuche von Gelehrten, die in einer schnelllebigen Zeit voller gesellschaftlicher und politischer Umbrüche lebten. Der Kontakt mit dem Neuen eröffnete ihnen ganz neue Möglichkeiten der Sicht auf die Dinge. Dabei waren schon der Gebrauch und die Übertragung von Begriffen schwierig. So hatte das aus alten Texten bekannte Wort „jiyū“ („Freiheit“) andere, negativere Bedeutungsnuancen als der europäische Ausdruck (S. 224).

Noch viel unterschiedlicher waren die Weltbilder, die aufeinanderprallten. Da die Gelehrten ihre Modelle an einschneidenden Ereignissen der japanischen Historie ausrichteten, sind Vorkenntnisse zur Geschichte erforderlich, um die Kapitel des Buches zu verstehen, die sich mit den umfassenden Vorstellungen zur Entwicklung der Welt auseinandersetzen.

Viele Gelehrte betonten die Überlegenheit des eigenen Landes, bezogen sich auf die Sonnengöttin Amaterasu und den ersten legendären Jinmu Tennō, nicht zuletzt auch deshalb, um ein spirituelles Gegengewicht zum Christentum aufbauen zu können (S. 159-160, 200).

Andere stellten mit Erstaunen fest, dass gerade in Europa Kranken-, Waisen- und Armenhäuser existierten, Ausdruck des im Konfuzianismus herrschenden Anspruchs der gütigen Herrschaft (S. 201, 203).

Alles in allem ist Karubes Buch ein beeindruckendes Beispiel für das Aufeinandertreffen des Denkens verschiedener Kulturkreise und für den anschließenden Auf- und Zusammenbau neuer Selbst- und Weltbilder, die direkte Konsequenzen auf politische Entscheidungen haben. Es zeigt Wege, die Japan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätte nehmen können, und macht deutlich, dass bestimmte Entwicklungen weder in diesem noch in anderen, vergleichbaren Fällen vorhersagbar waren.

Susanne Phillipps

20.03.2024 (Ausgabe 14)

 

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Bildnachweis

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Buch-Arrangement Meiji Revolution: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: Von Hiroshire Utagawa – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 1305334, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=115085349

02: Von Hiroshire Utagawa – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 1305427, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=115085503

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06: 不明 – 『創立六十年』 東京文理科大学、1931年。, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37198080による

07: By 邨田丹陵, Tanryō Murata – Meiji Shrine Shotoku Memorial Picture Gallery, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5875808

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10: By Unknown author – 26. 후쿠자와 유키치「문명론 개략」, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26988304

11: Von Nishikawa Joken (1646-1724) – Katalog, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=123406149

12: By Miyake Sekian, 三宅石庵 – 大坂 江戸時代図誌 1976, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17233797

13: Von 有朋堂書店 – Japanese Book 『先哲像伝 近世畸人傳 百家琦行傳』, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3959261

14: By Motoori Norinaga – https://www.tfm.co.jp/yes/?id=128, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2711824

15: Von 帆足杏雨筆 広瀬旭荘賛 – 日本肖像画図録 (京都大学文学部博物館図録) 思文閣出版 1991年, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6662873

16: Von Hiroshire Utagawa – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 2542937, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=109184300

17: Von Hiroshire Utagawa – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 2542937, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=109184360

18: Von Hiroshire Utagawa – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 2542937, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=109184997