Deutschlandreise – Vier japanische Studenten auf Forschungstour durch das Land ihrer Sehnsüchte

Takizawa Keizō (2021): 1964. Vier japanische Studenten erkunden Westdeutschland. Tagebuch einer Forschungs-Rundreise. Übersetzt von Kai Bohnert und Lisa Eidt mit Unterstützung von Satō Katsuhiko. München: Iudicium; broschiert; 252 Seiten.
Im Frühjahr 1964, etwas mehr als ein halbes Jahr, bevor die Olympischen Spiele in Tōkyō stattfanden, machten sich vier japanische Studenten der Waseda-Universität auf den Weg nach Deutschland. Ihr Hauptfach war zwar nicht Germanistik, trotzdem aber einte sie ein großes Interesse an deutscher Sprache und Kultur. Aus diesem Grund waren sie dem Deutschen Studienverein ihrer Universität beigetreten und hatten gemeinsam den Wunsch entwickelt, das Land jenseits des Klischees von Märchenschlössern und Romantischer Straße kennenzulernen.
Die Reise sollte weit mehr als eine touristische Tour werden. Eine aufwendige Planung von über eineinhalb Jahren lag hinter ihnen. Im Gepäck hatten sie eine Vielzahl von Genehmigungen und eine ausgeklügelte Teilfinanzierung. Außerdem hatten sie einen Vortrag mit dem Titel „Japan heute“ vorbereitet, dazu Dias und Filme besorgt, anhand derer sie ihre Heimat in Deutschland präsentieren wollten.
Über das Buch
Das Buch ist der zweite Band der vierbändigen Originalausgabe mit dem Titel „Saihō kenbunroku“ („Aufzeichnung persönlicher Erlebnisse im Westen“). Die anderen drei Bände enthalten ergänzend zu dem für die Waseda-Universität erstellten Reisebericht noch Darlegungen zur Vorbereitung, Anreise und Rückkehr nach Japan.
Das Buch enthält
- ein Vorwort von Satō Katsuhiko;
- 12 Abschnitte des Reisetagebuchs in chronologischer Abfolge von Takizawa Keizō;
- damalige Zeitungsberichte;
- ein Nachwort von Takizawa Keizō;
- Kurzbiografien der vier Reisenden.
Vor jedem der 12 Abschnitte wird auf einem Ausschnitt der Deutschland-Karte die anstehende Reiseetappe mit den zugehörigen Reisedaten gezeigt. Norden zeigt auf diesen Kartenausschnitten nicht in der üblichen Weise nach oben, sondern nach links, was etwas gewöhnungsbedürftig ist.
– Auf der Landkarte im inneren Buchumschlag zeigt Norden dagegen nach rechts, auf dem äußeren Buchumschlag wird die Deutschlandkarte (un/gewollt?) spiegelverkehrt wiedergegeben. –
Das Buch enthält außerdem zahlreiche Erinnerungsfotos der vier Studenten mit Freunden, Bekannten und Angehörigen von Gastfamilien. Einige Seiten zeigen Werbebroschüren und Prospekte der Städte und Regionen, Programme, persönliche Aufzeichnungen, Eintrittskarten, sogar eine „Gebührenpflichtige Verwarnung“ über 3 DM.
Über die Reisenden, über den Autor
Die Gruppe bestand aus Satō Katsuhiko (Studium der Elektrotechnik), Takizawa Keizō (Studium der japanischen Geschichte), Nonaka Noriyoshi (Studium der Wirtschaftswissenschaften) und Itō Fumio (Studium der Politikwissenschaften). Alle vier waren 1942 geboren worden, zum Zeitpunkt der Reise also 21 bzw. 22 Jahre alt.
Während der Reisevorbereitung hatten sie Aufgaben untereinander aufgeteilt (darunter: Gesamtorganisation, Technik, Budget; S. 245). Takizawa hatte die Aufgabe der Dokumentation. Von ihm stammt das Tagebuch der Forschungsreise und auch das aktuelle Nachwort, in dem er unter anderem über persönliche Vorbilder der vier Studenten schreibt: Wissenschaftler, die eine wichtige Rolle in den japanisch-deutschen Beziehungen spielten, als sie während der Meiji-Zeit (1868-1912) maßgeblich zur Entwicklung des modernen Japan beitrugen. Tatsächlich trafen die vier Studenten in Berlin den Enkel des deutschen Mediziners Erwin von Bälz (1849-1913), der seinerzeit zum Leibarzt des japanischen Tennō berufen worden war (S. 76).
Aus den Biografien der vier geht hervor, dass sie in ihrem späteren Arbeitsleben entweder in Auslandsabteilungen beschäftigt bzw. in internationale Projekte eingebunden waren oder mehrere Jahre im Ausland lebten. Satō Katsuhiko war von 1980 bis 1984 Leiter der Geschäftsabteilung bei Mitsubishi International Deutschland in Düsseldorf.
Itō Fumio verstarb 1993 mit nur 51 Jahren, die anderen drei sind auch nach ihrer Pensionierung sehr aktiv. Satō Katsuhiko promoviert (inzwischen mit über achtzig Jahren) zum Thema Fachhochschulen in Deutschland, Takizawa Keizō arbeitet als freier Redakteur und Herausgeber, Nonaka Noriyoshi ließ sich zum Spezialisten für Reiswein ausbilden.
Eine organisatorische Meisterleitung
Auch ohne die modernen Kommunikationsmittel hatten die vier Studenten ihre Tour perfekt vorbereitet: für die Finanzierung gesorgt, die Route festgelegt, mit unzähligen Personen in zig Städten und Gemeinden Kontakt aufgenommen.
Allerdings hatten sie bei ihrer Planung die Distanzen unterschätzt. Vor Ort mussten sie schnell feststellen, dass sie ihr ambitioniertes Programm nicht mit Fahrrädern bewältigen würden können. Nach zwei Wochen erstanden sie einen gebrauchten VW Käfer und setzten ihre Fahrt im Auto fort. Insgesamt legten sie mehr als 10.000 Kilometer zurück (S. 225).
Zwischen dem 1. April und dem 14. August 1964 besuchten sie unglaubliche 64 Städte und zahlreiche Hochschulen: Von München fuhren sie in Richtung Norden bis zu den deutschen Hansestädten mit einem Abstecher nach West- und Ost-Berlin, zurück über das Ruhrgebiet, entlang von Rhein und Mosel, mit einem Ausflug in die Schweiz bis zum Anfangs- und zugleich Endpunkt ihrer Reise in München.

01.-02. 1964 mit dem VW Käfer auf der Autobahn unterwegs.

Das offizielle Programm
Takizawa zeichnete in seinem Tagebuch alle offiziellen Begegnungen akribisch auf. So gewinnt man einen Eindruck vom Rhythmus der Reise: Ankunft an einem neuen Ort; Kontakt mit dem Bürgermeister, mit Gemeindevertretern oder Mitgliedern des AStA (Allgemeinen Studierendenausschusses) der Hochschule vor Ort; Interviews für Presseleute; Austausch von Geschenken; Einträge in das Goldene Buch der Stadt; Besichtigungsprogramm; Einladungen zu typischen Speisen der Region; Organisation der Unterbringung in Jugendherbergen, Wohnheimen oder in Gastfamilien; Treffen mit Kontaktpersonen; Präsentation der eigenen Vorträge und Filme.
Da sie vor allem Gleichaltrige kennenlernen wollten, suchten die vier den Kontakt zu Schulen, Universitäten, Ausbildungsstätten und Jugendorganisationen, Volkshochschulen, Abendgymnasien, Berufs- und Fachhochschulen. Ihre Vorträge hielten sie in Bildungseinrichtungen oder in Versammlungsräumen von Gemeinden. Manchmal sprachen sie vor einigen Dutzend, manchmal vor vielen Hundert (!) Zuhörerinnen und Zuhörer.


03.-04. Fotos vom Jugend-Europahaus in Hamburg, Mitte der 1960er Jahre. Hier hielten die vier japanischen Studenten am 25. Mai 1964 ihren Vortrag.
03. „Texas-Party“ 1964. Der Dress-Code war – Originalzitat – „Cowboy oder Squaw“
04. Gruppe im Fotolabor des Jugend-Europahauses
Mehrmals erwähnt Takizawa finanzielle Zuwendungen, die sie unterwegs erhielten. In Bonn besuchten sie Ministerialrat Dr. Hanns Ott, der sich für Jugendbewegungen einsetzte (1964 hielt er z.B. den Vortrag „Die Chancen für ein europäisches Jugendwerk“), um sich bei ihm für seine Unterstützung, vor allem beim Herstellen von Kontakten, zu bedanken. Er gewährte den vier Studenten einen zusätzlichen finanziellen Zuschuss für die Heimreise (S. 140, 145).
Auch Fabrik- und Werksbesichtigungen waren Teil des Programms. In seiner Gesamtheit erinnert das Vorhaben an die Iwakura-Mission, einer Forschungsreise unter der Leitung von Iwakura Tomomi von 1871 bis 1873 durch Europa und die USA. Die Teilnehmer waren damals hochrangige japanische Politiker, Wissenschaftler und Studenten. Das Ziel bestand darin, für eine Revision der so genannten „Ungleichen Verträge“ den noch nicht näher bekannten „Westen“ kennenzulernen, alle Aspekte der fremden Welt aufzunehmen, zugleich auch Japan angemessen zu repräsentieren (siehe den Beitrag über Tsuda Umeko).
Mitte der 1960er Jahre war die internationale Situation selbstverständlich eine ganz andere. Für beide Staaten war der Zweite Weltkrieg mit einer Kapitulation zu Ende gegangen, beide Länder wurden nach dem Krieg besetzt und befanden sich 1964 in einer Phase starken Wirtschaftswachstums. Bei ihren Betrachtungen verglichen die vier Studenten vor allem die wirtschaftliche und soziale Lage von Deutschland und Japan miteinander.
Beeindruckend: Industrie und Wiederaufbau in der Bundesrepublik
Bleibenden Eindruck machten der Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Städte, die gute Infrastruktur und die Kraft des wirtschaftlichen Aufstiegs.

05. Wiederaufbau ganzer Straßenzüge in den Großstädten, hier in Hannover.

06. Kaufhaus Schocken in Stuttgart.

07. Der Bahnhofsvorplatz in Heidelberg in den 1960er Jahren.


08.-09. Keine Straße ohne einen VW Käfer, hier in Dortmund.

10. In einer Werkshalle von Volkswagen in Wolfsburg. – Die vier besichtigten die Fabrik am 5.5.1964.
Erschütternd: Die Teilung Deutschlands
Das Bild einer jeden Region wurde sehr von privaten Gesprächen mit anderen Studierenden und Angehörigen der Gastfamilien geprägt. Sie waren für die vier Reisenden die bei weitem wichtigste Informationsquelle zum Alltag und zum Empfinden der Leute vor Ort. Tief berührt waren die vier Studenten von der politischen Situation Deutschlands: von der Teilung des Staates und der Stadt Berlin, „der einsamen deutschen Insel“ (S. 79).
Der Schock des Mauerbaus war nach zweieinhalb Jahren noch frisch, und ganz besonders spürbar wird dies beim Besuch eines Brieffreundes und seiner Familie in Ost-Berlin. Takizawa berichtet ungewohnt ausführlich über diese Treffen und die Aussagen der Familie, die ihre Trauer und ihr Gefühl der Ausweglosigkeit angesichts des Mauerbaus offen äußerten (S. 82-83, 86-87).

11. Grenzübergang nach dem Passierscheinabkommen im Oktober 1964.

12. Straßenzug mit Altbauten in Ost-Berlin.

13. Neu errichtete Großplattenbauten in der Karl-Marx-Allee.
Besuch von deutschen „meisho“ – Sehenswürdigkeiten mit Geschichte
„Wir hatten ein romantisch-verklärtes Deutschlandbild“ schreibt Takizawa im Nachwort (S. 245). Tatsache ist, dass die vier Studenten sehr gute Kenntnisse zur Geschichte und Kultur Deutschlands mitbrachten.
Und so waren sie gespannt darauf, die Landschaften kennenzulernen, die sie aus dem Deutschunterricht kannten: Orte, die von Dichtern besungen, von Literaten in Romane gegossen, von Komponisten in Musikstücke umgesetzt worden waren. Diese wollten sie nun mit eigenen Augen sehen, und ihre zahlreichen Besichtigungen fanden ihren Niederschlag im Reisetagebuch.
Die Reaktionen der vier Studenten auf die tatsächlichen Begegnungen mit den romantisierten Orten waren sehr unterschiedlich: Während sie beim Betrachten der Originalhandschrift der „Loreley“ im Heine-Archiv in Düsseldorf ergriffen waren (S. 138), erwies sich der Rhein als ziemliche Enttäuschung. Wie in Japan brachte der kräftige Anstieg der Industrieproduktion auch in Deutschland starke Umweltverschmutzung mit sich. Der Rhein war nicht klar und sauber, und „mit der trüben und verschmutzten Realität ist ein Traum geplatzt“ (S. 133-135); zudem entpuppte sich die Loreley als eine einfache Felsklippe (S. 154).
14.-15. Am Rhein entlang; am Zusammenfluss von Mosel und Rhein: das Deutsche Eck.


Trotzdem empfanden sie vor allem die Städte faszinierend, die noch einen mittelalterlichen Kern bewahren konnten, da die Gebäude erhalten und zugleich Teil des Alltagslebens waren (S. 26). Diese Bilder wurden zu Sehnsuchtsorten, die viele japanische Touristengruppen zwanzig Jahre später, in den 1980er Jahren, besuchen sollten.

16. Nürnberg, zwischen Dürerhaus und Kaiserburg

17. Rothenburg ob der Tauber, Röderbogen
Landsleute und Japan-Interessierte
Touristische Auslandsreisen wurden für Japanerinnen und Japaner erst im April 1964 vereinfacht. Aus diesem Grund war es etwas ganz Besonderes, Landsleute in Deutschland zu treffen: Professoren während ihres Forschungsaufenthalts, Austauschstudierende, ins Ausland entsandte Firmenangehörige, mit Deutschen verheiratete Japanerinnen, junge Japaner mit einfachen Jobs im Gastronomiebereich und vereinzelte Globetrotter, die zu den ersten Weltreisenden gehörten, die sich von Japan aus auf Entdeckungstour machten. Von allen holten die vier Studenten deren Meinung über Deutschland ein.
Sie kontaktierten Professoren und Studierende des Fachs Japanologie an verschiedenen Hochschulen, trafen zum Beispiel Hartmut Rotermund in Hamburg (S. 99; siehe den Beitrag über Hausbücher der Edo-Zeit). Außerdem begegneten sie sehr interessierten Privatpersonen wie einer Gastfamilie in Nürnberg, die überraschenderweise einen Koffer voller japanischer Farbholzschnitte hervorholte und nach den Namen der ukiyoe-Künstler fragte (S. 34).
Am Ende ihrer Reise lernten sie bei Familie Gössmann in München Takamiya Kiyoko kennen (S. 225, 247). Sie arbeitete später gemeinsam mit ihrem Ehemann Peter Kapitza in dem von ihm gegründeten Iudicium Verlag – in dem nun dieser Reisebericht nach 60 Jahren auf Deutsch erschien.
Konfrontation mit Bildern über das Heimatland: Klischees über Japan
Die vier freuten sich über die Beliebtheit japanischer Motorräder und Unterhaltungselektronik in Deutschland (S. 106), zeigten sich allerdings befremdet von „pseudo-japanischen Produkten“: Objekte, die in Japan nie für den einheimischen Markt, sondern extra für das Ausland produziert wurden, um exotische Fantasien zu bedienen (S. 113, 124).
Sie stellten fest, wie unzureichend Japan in den Medien dargestellt wurde – wahrscheinlich besserte sich dies mit der Eröffnung der Olympiade in Tōkyō im Oktober desselben Jahres – und mussten feststellen, dass das Japanbild von Klischees beherrscht wurde, verbreitet über Schlager wie „Mitsou, Mitsou, Mitsou“ von Jacqueline Boyer (1963, „Es war am Fuji-yama im Kirschenparadies“) und durch Filme mit exotisierender oder sexueller Thematik (S. 60).
Versuch einer Nationalcharakterstudie
Immer wieder unternahm Takizawa Versuche, allgemeine Aussagen über „die Deutschen“ zu finden. Von Süden nach Norden durch die Bundesrepublik gereist, fragte er sich, „ob aus der jeweiligen Landschaft eine Sensibilität erwächst, die Volkscharakter und Religiosität mitformt.“ (S. 101). Andere Fragen waren: Kann man vom unterschiedlichen Fernsehkonsum auf nationale Eigenheiten schließen? (S. 123) – Haben Klima und Wetter Einfluss auf die Kunst? (S. 133).
Beim Besuch des VW-Werks in Wolfsburg beobachtete er „deutsche Eigenschaften wie Rationalität und Konzentration“ als „latente Kraft hinter der Industrieleistung Deutschlands“ (S. 73).
Ein Beamter des japanischen Bauministeriums behauptete, „der Charakter der Deutschen offenbare sich am deutlichsten auf der Autobahn“ (S. 182).
Sehr stark bewegte Takizawa die Frage nach dem Einfluss des christlichen Glaubens. Viele Jugendeinrichtungen, die die vier Studenten besuchten, standen unter christlicher Leitung. Ein Gesprächspartner äußerte allerdings die Einschätzung, dass unter Intellektuellen immer mehr Atheisten seien, was zu einem Zustand emotionaler Haltlosigkeit führe (S. 110). Zudem lebten in der Bundesrepublik immer mehr Migrantinnen und Migranten mit muslimischem Hintergrund (S. 146).
Das Buch ist lesenswert, denn …
… es zeigt die Infrastruktur einer vergangenen Zeit.
Die Reise von Japan nach Deutschland war damals noch eine Weltreise, die Tage bis Wochen dauerte. Es gab keine Direktflüge. Die vier Studenten verbrachten den größten Teil ihrer Hinfahrt – also mehrere Wochen – auf einem Schiff, die Rückfahrt ging mit der Transsibirischen Eisenbahn schneller. Sie erreichten Tōkyō am 9. Oktober, einem Tag vor der Eröffnung der Olympischen Spiele.
Heute würde jeder Schritt eines solchen Vorhabens in den sozialen Medien begleitet. Damals verfasste Takizawa das Tagebuch, das später veröffentlicht wurde. Briefe wurden ihnen an verabredete Orte geschickt. So erfuhren sie verzögert von Ereignissen in Japan. Für Takizawa war es bewegend, Post von seinem Vater zu bekommen, der wahrscheinlich zum ersten Mal einen Brief ins Ausland sandte (S. 42).

18. Ausgangs- und Endpunkt der Reise war München.
… es zeichnet ein spannendes Bild der damaligen Bundesrepublik.
Zahlreiche Beobachtungen von Takizawa verdeutlichen, dass vieles, was heute als selbstverständlich gilt, erst durch die Bewegung der 1968er-Generation bzw. durch politische Neuerungen der SPD-Regierung ab 1966 herbeigeführt wurde: von einfachen Kleiderfragen bis hin zur Einführung des BAföG (1971) und damit der Möglichkeit des Gymnasiums- und Hochschulbesuchs für Kinder auch aus ärmeren Familien.
Die vier Studenten bemerkten große Unterschiede zwischen der Stadt- und Landbevölkerung in Deutschland (S. 31). Die jungen Männer auf den Erinnerungsfotos tragen fast alle noch Anzug und Krawatte. Während es in Japan schon damals viele Universitäten und Hochschulen gab, gehörten Studierende in der Bundesrepublik 1964 noch einer „absoluten Elite“ an, viele von ihnen waren in Studentenverbindungen organisiert (S. 127, 160).
Die Spuren aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges waren noch spürbar: Takizawa erwähnt immer wieder die Familien ohne Väter (S. 61, 67, 166, 246), er beschreibt die in Mannheim stationierten US-amerikanische Soldaten (S. 164), außerdem einen Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau (S. 172).
… es zeigt eindringlich, was der Kontakt mit einer anderen Kultur bewirkt.
Neben den offiziellen Daten enthält das Tagebuch Takizawas persönliche Aufzeichnungen, auch Empfindungen. Dazu gehören emotionale Höhepunkte wie Teil einer Gruppe zu sein, bei der „fremdes Aussehen keine Rolle spielt“ (S. 17).
Aber auch der Schreck schon nach der ersten Präsentation des Vortrags: „Deutsche sind debattierfreudig“, sie „äußern erst ihre Meinung, um dann nach logischen Erklärungen zu suchen“ (S. 20). Schülerinnen und Schüler werden zu eigenständigem Denken angeregt (S. 135). Sie stellen Fragen, die den vier Studenten nie in den Sinn gekommen wären (S. 121). „Unsere Unkenntnis der Geschichte und Kultur des eigenen Landes wird uns hier in der Fremde wieder einmal voll bewusst.“ (S. 161) – bis hin zur „Blamage“ (S. 198).
Und natürlich: „Mit Abstand auf Japan blickend, wird mir erst jetzt richtig bewusst, welche Eigenheiten mein Heimatland aufweist.“ (S. 177)


19.-20. Büro mit der damals üblichen Ausstattung, hier in Frankfurt
… Idealismus und Abenteurertum der vier Reisenden wirken ansteckend.
Den vier Studenten wurde ein ausgesucht herzlicher Empfang bereitet, in vielen ländlichen Gegenden waren sie wohl der erste japanische Besuch überhaupt (S. 245). Aus den Zeitungsausschnitten geht hervor, wie sympathisch die vier wirkten, welch plastisches, anschauliches, lebensnahes Bild von Japan sie über ihre Vorträge, ihre Filme und Dias vermitteln konnten.
Heute scheinen alle Länder durch (Massen)Tourismus, TV-Dokumentationen, Bilder und Berichte im Internet bekannt zu sein. Das Buch ist ein eindrückliches Zeugnis davon, dass die Leidenschaft, Fremdes selbst zu erleben, persönliche Brücken zu schlagen und Freundschaften aufzubauen, mehr wert ist als jede Dokumentation.
20.03.2025 (Ausgabe 18)
Susanne Phillipps
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Bildnachweis
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Buch-Arrangement Deutschlandreise: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk
01: Von Harry Pot / Anefo – http://proxy.handle.net/10648/aa7cbd4a-d0b4-102d-bcf8-003048976d84, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65510696
02: Von Harry Pot / Anefo – http://proxy.handle.net/10648/aa7cbf70-d0b4-102d-bcf8-003048976d84, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65510726
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04: Von Gerd Rasquin – Gerd Rasquin, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=83509361
05: By Dierk Schaefer – https://www.flickr.com/photos/dierkschaefer/3700054521/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24407516
06: By Manfred Niermann – own archive, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=56215124
07: By Anna87 – overview – direct – dataset, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=131417124
08: By Gustav Hilbert – Own scan from family archive/Familienarchiv Hilbert, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36674213
09: By Gustav Hilbert – Own scan from family archive/Familienarchiv Hilbert, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36674259
10: By Roger Wollstadt – Flickr: Wolfsburg – Volkswagen Assembly Line, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12974064
11: By Bundesarchiv, Bild 183-C1031-0044-007 / Hesse, Rudolf / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5432929
12: By Sigurd Hilkenbach – Sammlung Hilkenbach, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=120787147
13: By Bundesarchiv, Bild 183-C0422-0005-002 / Brüggmann, Eva / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5432734
14: By Willem van de Poll – http://proxy.handle.net/10648/aec63b24-d0b4-102d-bcf8-003048976d84, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=66663477
15: Von Bundesarchiv, B 145 Bild-F011327-0025 / Ilgner, Gerhard Dr. / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5450810
16: By Deutsche Fotothek, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7943965
17: By Roger Wollstadt from Sarasota, Florida, U.S.A. – Rothenburg – Rôderbogen, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28238082
18: Von Karlunun – Eigenes Werk, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=154791860
19: By Rifra (talk) 08:41, 18 October 2014 (UTC) – Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36224466
20: By Rifra (talk) 08:41, 18 October 2014 (UTC) – Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36224468