Der Atem beraubende Lebensweg von Tsuneno – Wirrnisse in den letzten Jahrzehnten der Edo-Zeit

Buch vor einem dunkelblauen Stoff mit weißer Silhouette einer Frau aus der Edo-Zeit

Amy Stanley (2020): Stranger in the Shogun’s City. A Woman’s Life in Nineteenth-Century Japan. London: Penguin, XXVIII + 324 Seiten. / deutsche Übersetzung: Tsunenos Reise. Eine moderne Frau im Japan des 19. Jahrhunderts. Hamburg: Rowohlt, übersetzt von Elisabeth Liebl. / Alle Angaben in dieser Besprechung beziehen sich auf das englische Original.

Die vorherrschende Philosophie der Edo-Zeit, der Neokonfuzianismus, betrachtete Frauen als minderwertig und gesellschaftlich unter dem Mann stehend. Der erste Satz der wegweisenden Schrift „Hohe Schule der Frauen“ („Onna daigaku“) erklärt, dass die Lebensaufgabe der Frau darin bestehe, heranzuwachsen und in einen anderen Haushalt einzuheiraten, um dort den Schwiegereltern und dem neuen Ehemann zu dienen.

Das Buch von Amy Stanley veranschaulicht, was dies für eine Frau namens Tsuneno bedeutete, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts wenig angepasst nach eigenen Vorstellungen leben wollte.

Über die Autorin

Amy Stanley promovierte an der Harvard University in East Asian Languages and Civilizations. Sie ist Assistenzprofessorin für Geschichte Japans an der Northwestern University in Evanston, Illinois.

Über das Buch

Das Buch besteht aus drei Teilen:

Ein einführender Teil vermittelt grundlegende Informationen:

  • mit einer Übersicht über die Personen aus Tsunenos Umfeld;
  • mit Landkarten;
  • mit Anmerkungen zur Übersetzung;
  • mit einem Prolog mit Informationen zu Entdeckung der Quelle.

Die neun Kapitel des Hauptteils sind jeweils etwa 30 Seiten lang und folgen inhaltlich chronologisch dem Lebenslauf von Tsuneno.

Der Anhang besteht aus einem Epilog, einer Danksagung, den Anmerkungen, der Bibliografie und dem Index.

Der Einstieg

Über dreieinhalb Seiten erstreckt sich die Liste der Familienmitglieder, Bekannten und Arbeitskollegen, die Amy Stanley aus den Briefen von Tsuneno herausgearbeitet hat. Neun Geschwister hatte Tsuneno, besonders neugierig macht allerdings der Absatz „Tsuneno’s Husbands“: Vier werden aufgezählt, mit dem letzten war sie laut Übersicht zweimal verheiratet.

Tsunenos Leben in neun Kapiteln

1. Faraway Places: Tsunenos Kindheit in der Provinz Echigo Anfang des 19. Jahrhunderts

Sehr detaillierte Karte der Provinz in Schwarz-weiß.

01. Karte der Provinz Echigo aus dem Jahr 1842, Norden ist auf der Karte unten links.

Tsuneno wurde Anfang des 19. Jahrhunderts als Tochter einer Priesterfamilie in der Provinz Echigo im Nordosten Edos geboren (heute: Präfektur Niigata). Die Familie verwaltete seit Generationen den örtlichen buddhistischen Tempel der Jōdo shinshū-Schule („Wahre Schule des Reinen Landes“). Im Zentrum dieser Lehre steht das Vertrauen in Amida- Buddha: Die Gläubigen hoffen, durch Rezitieren seines Namens nach ihrem Tod im Reinen Land im Westen wiedergeboren zu werden.

Blick auf eine verschneite Ebene mit einer Stadt.

02. Echigo-Ebene im Winter. Die Provinz gehört zum so genannten „Schneeland“ (yukiguni), einem Landstrich an der Küste des Japanischen Meeres, der für seine langen Winter mit heftigem Schneefall bekannt ist.

Doppelseite mit der Skizze von 35 verschiedenen Kristallmustern, dazu ein Erklärungstext.

03. Doppelseite aus dem Nachschlagewerk „Schneegeschichten aus der Provinz Nord-Etsu“ („Hokuetsu seppu“): Formen von Schneekristallen.

Das Werk beschreibt das Leben in der alten japanischen Provinz Echigo. Es stammte aus der Feder von Suzuki Bokushi (1770–1842), dem großen Schriftsteller der Region, und wurde erstmals 1837 in Edo veröffentlicht.

Tsuneno wuchs als Tochter des Priesters Emon heran, „and over the next five decades she would cause as much trouble as all of his other nine children combined.“ (S. XXV). – Eine spannende Ankündigung für ihren weiteren Lebensweg.

2. Half a Lifetime in the Countryside: Tsunenos erste drei Ehen in den Provinzen Echigo und Dewa

Mit 12 Jahren wurde Tsuneno zum ersten Mal verheiratet. Dies bedeutete, dass sie als Schwiegertochter in einen anderen Haushalt weitab vom Wohnort ihrer Familie zog. Die Eltern hatten für sie eine andere Priester-Familie ausgewählt. Amy Stanley erklärt den Vorgang des nach außen hin demonstrierten Übergangs ins Erwachsenenleben in all seinen Aspekten.

Tsuneno führte wie vorgesehen das Leben der Frau eines Priesters. Nach 15 Jahren Ehe, die kinderlos blieb, fiel der Tempel der Familie des Ehemanns einer Brandkatastrophe zum Opfer. Tsuneno kehrte zu ihrer Familie zurück, und nur wenig später sandte ihr Mann ein Scheidungsschreiben an die Familie.

Vergoldete Holzstatue, von Kranz umgeben.

04. Amida Buddha

Kurz darauf, mit 28 Jahren, heiratete Tsuneno in eine Bauernfamilie ein. 1833, im selben Jahr, in dem sie zur neuen Familie zog, verursachten Überschwemmungen und Kälteeinbrüche schlechte Ernten. Die ungünstige Witterung hielt für Jahre an, viele Bauernfamilien verhungerten. Im letzten Jahr der Hungersnot, 1837, reichte Tsunenos Mann die Scheidung ein.

05. Beim Reispflanzen, Foto aus den 1890er Jahren.

Koloriertes Schwarzweiß-Foto: Bäuerinnen und Bauern auf einem gefluteten Reisfeld.
Abgemagerte Menschen liegen auf Tatamis, einige Menschen versorgen sie.

06. Die Große Tenpō-Hungersnot (1833-1837; der Name stammt von der damaligen Regierungsdevise): Opfer in einer Notunterkunft. – Amy Stanley beschreibt anhand konkreter Beispiele, wie sich die Katastrophe von Jahr zu Jahr immer weiter zuspitzte (S. 47-50).

Kurz darauf heiratete Tsuneno ein drittes Mal, mit 33 Jahren. Doch in dieser Familie blieb sie nur für wenige Monate. Körperlich und seelisch krank kehrte sie zu ihrer Ursprungsfamilie zurück. Jetzt blieb ihr nur noch die Möglichkeit, an einen alten Witwer verheiratet zu werden. Tsuneno weigerte sich und plante ihre Flucht nach Edo.

3. To Edo: Tsunenos Flucht nach Edo

1839 machte sich Tsuneno heimlich auf nach Edo. „Edo“ war ein Sehnsuchtsort, beschrieben von Wanderarbeiter/innen, Fluchtziel für viele junge Frauen vom Land, die sich in ihr vorherbestimmtes Schicksal nicht fügen wollten (S. 26, 28-29).

Holzblockdruck: Steilküste am Meer.

07. „Echigo, Fels Oyashirazu“, aus der Reihe „Berühmte Gegenden der mehr als 60 Provinzen“ („Rokujūyoshū meisho zue“) von Utagawa Hiroshige, 1853–55

Ausblick auf mehrere, hintereinander liegende, steile Gebirgsketten.

08. Der Berg Echigo-Komagatake.

Um nach Edo zu kommen, musste Tsuneno hinüber zur anderen Küste, auf der Pazifik-Seite.

Unter dem Vorwand eines Verwandtenbesuchs machte sich Tsuneno auf, verkaufte wertvolle Stücke und vertraute das Geld ihrem Onkel an, der es ihr später allerdings nicht zurückzahlte. Alleine zu reisen, wäre zu gefährlich gewesen. Daher setzte sie auf einen Reisegefährten aus einem Nachbardorf, von dem sie ausgenutzt und später sitzengelassen wurde (S. 65-67). Nach zwei Wochen erreichten die beiden Edo.

Nachgestellte Szene mit Puppen, die in einem Abfertigungsraum Dokumente überprüfen.

9.-10. Als Teil eines umfassenden Überwachungssystems sollten Kontrollpunkte an den Überlandstraßen sicherstellen, dass nur Befugte unterwegs waren. Bezahlte Schleuser zeigten den Saisonarbeiter/innen, die keine Papiere hatten, wie sie auf Trampelpfaden die Kontrollpunkte umgehen konnten. – Hier Beamte und ein Wachmann auf einem Turm am rekonstruierten Kontrollpunkt bei Hakone.

Puppe in einem rekonstruierten Wachturm.

4. A View from a Tenement: Tsunenos erste Zeit in Edo, in Armut und voller Verzweiflung

Tsunenos Reisebegleiter hatte ihr versprochen, einen Unterschlupf in Edo bei einem Verwandten zu haben, doch dies stellte sich als Lüge heraus, die beiden waren nicht willkommen (S. 83). Tsuneno war vollkommen mittellos, ohne Perspektive auf sich allein gestellt. Verzweifelt sandte sie Bittbriefe nach Hause, man möge ihr Sachen nachschicken, doch ihr ältester Bruder reagierte nicht. Über Monate besaß sie nichts als den Kimono, den sie am Leib trug.

Die Familie von Tsuneno verfügte aus beruflichen Gründen über ein weites Netz an bekannten Familien von anderen Tempeln, auch zum Tempel Tsukiji Honganji in Edo. Hier suchte Tsuneno in ihrer Verzweiflung Schutz, blieb aber schließlich nicht dort, sondern entschied sich erneut dafür, ihr Leben allein zu gestalten (S. 101).

Meeresbucht, Insel, ganz im Hintergrund das hohe Dach des Tempels.
Vogelperspektive auf den Tempel mit allen seinen Nebengebäuden

11.-12.  Der Tempel Tsukiji Honganji auf einem Blatt der Serie „Einhundert berühmten Ansichten von Edo“ und der Serie „Berühmte Orte der östlichen Hauptstadt“ von Utagawa Hiroshige.

5. Samurai Winter: Tsunenos Anstellung in einem Samurai-Haushalt im Winter 1839

9 Männer als Passanten auf einer Straße in Edo. Vier Männer sind in eine Schlägerei verwickelt. Händler, Samurai gehen vorbei und schauen auf die Streitenden.

13. Angehörige verschiedener Gesellschaftsschichten in Edo. Die Personen mit den Schwertern sind Samurai.

Tsuneno fand Arbeit im Haus eines Samurai und zog in ein Stadtviertel, in dem Angehörige des Samurai-Standes wohnten (S. 123, 127).

14. Angehörige des Samurai-Standes lebten von jährlichen Reiszuteilungen durch die Regierung. In Reisspeichern wie diesen wurde der Reis gelagert, der für die Zuteilungen vorgesehen war.

– Aus der Reihe „36 Ansichten des Fuji“ von Katsushika Hokusai.

Zwei Reihen von Reisspeichern an den beiden Seiten des Kanals.

6. Costumes for Urban Life: Tsunenos Umzug in das Viertel der Theater und Kleidermacher

Doppelseite mit zwei Bildern: Umriss von Kimono mit Muster, zwei Frauen mit prachtvollen Kimonos.
Doppelseite mit zwei Bildern: zwei Umrisse von Kimonos mit speziellen Mustern.

15.-16. Aus einem Vorlagenbuch für Kimono-Muster, von Hishikawa Moronobu, 1677. Die Lese-Bild-Hefte dienten Näherinnen als Vorlagen. Sie waren auch in den ländlichen, abgelegenen Regionen verbreitet. Sehnsüchtig bestaunten die Frauen die Mode aus der Hauptstadt, aus einer anderen Welt.

Nach einigen Monaten in dem Samurai-Haushalt fand Tsuneno eine Arbeitsstelle, die ihr mehr zusagte. Sie zog nach Sumiyoshi-chō, in das Theater-Viertel, in dem auch die Kostüm- und Puppenmacher zu Hause waren (S. 137). Tsuneno konnte sehr gut nähen, nun arbeitete sie als Dienstmädchen und Näherin im Haushalt eines Schauspielers (S. 143).

Hier lebte sie am Puls der Zeit: Beliebte Schauspieler – die sowohl Männer- wie Frauenrollen spielten – waren damals die Trendsetter in allen Fragen der Mode (S. 147).

Aus Tsunenos Briefen geht hervor, dass die Familienmitglieder wünschten, sie möge nach Hause kommen. Doch sie blieb in Edo, und obwohl sie es schaffte, ihren Lebensunterhalt selbstständig zu bestreiten, heiratete sie erneut (S. 154). Sie gab sich selbst den neuen Vornamen „Kin“ (S. 160).

Bankett mit reich aufgetischtem Buffet. Im Hintergrund Kisten mit wertvollen Stoffen.

17. Backstage in einem Kabuki-Theater.

7. Troubles at Home: Tsunenos Verarmung zur Zeit der Tenpō-Reformen, ihre Rückkehr zur Familie aufs Land

Als Reaktion auf die wirtschaftlich angespannte Lage verordnete die Regierung im Rahmen der so genannten Tenpō-Reformen (1841-1843) Anti-Luxus-Gesetze: Verbote von bestimmten Kleiderstoffen, von hellen Laternen, von Ornamenten, Verzierungen und dem Brauch des Geschenke-Tauschens, Friseure durften ihre Arbeit nicht mehr ausüben. – Die Reformen ließen weite Wirtschaftszweige der Stadt zusammenbrechen und trieben arbeitslos gewordene Angestellte in Armut. Tsuneno bat ihren Mann immer wieder, lange Zeit vergeblich, um ihre Scheidung (S. 177). Wieder schmiedete sie Fluchtpläne. Sie war gesellschaftlich gestrandet und psychisch am Ende, als sie von ihrem Mann endlich das gewünschte Scheidungsschreiben erhielt. Ihre Brüder ermöglichten ihr die Heimreise (S. 189-193).

Portrait eines sitzenden Samurai in schwarzem Kimono.

18. Mizuno Tadakuni (1794-1851), Daimyō, der als Oberrat (Rōjū) im Dienst des Tokugawa-Shogunats diente. Er war verantwortlich für die Tenpō-Reformen.

8. In the Office of the City Magistrate: Tsunenos zweite Reise nach Edo 1846, ihre erneute Ehe mit ihrem letzten Ehemann

Nach kurzer Zeit entschied sich Tsuneno, doch wieder nach Edo zurückzukehren. Ihr letzter Ehemann hatte eine Anstellung beim Magistrat bekommen und sie aufgefordert zurückzukommen (S. 200).

Imposantes Eingangstor.

19. Rekonstruktion des Eingangs des nördlichen Magistrats in Edo (Kitamachi bugyōsho).

Portrait eines älteren Samurai mit starken Falten im Gesicht, in buntem Kimono.

20. Tōyama Kagemoto, Stadtkommissar von Edo, war der neue Arbeitgeber von Tsunenos Ehemann. Ein Samurai mit einer wilden Vergangenheit; er hatte die Anti-Luxus-Gesetze der Tenpō-Reformen stets abgelehnt.

9. Endings and Afterlives: Tsunenos Tod, die Öffnung Japans, Edo wird Tōkyō

1853, in dem Jahr, in dem der US-amerikanische Commodore Matthew Perry (1794-1858) mit seinem Schiff zum ersten Mal in die Bucht von Edo einfuhr, um die Öffnung Japans zu erzwingen, starb Tsuneno. Unsichere Zeiten lagen vor der Bevölkerung Edos. Bald würde die Stadt den neuen Namen Tōkyō tragen.

Die Quelle: die Briefe von Tsuneno

Während der Edo-Zeit (1600-1868) konnten in Japan vergleichsweise viele Menschen lesen und schreiben, und zwar auch aus den unteren Gesellschaftsschichten. Aus diesem Grund lagert heute eine enorme Zahl an Schriftstücken aus dieser Zeit in japanischen Archiven (S. XXIV).

Doppelseite mit dem Abbild eines Gebäudes und zugehörigem Erklärungstext.

21. Doppelseite aus einem Leseheft der Edo-Zeit: „Bilderheft berühmter Orte des Tōkaidō“ („Tōkaidō meisho zue“, von 1797).

Dass Tsuneno als Mädchen, das in der Provinz geboren wurde, im Lesen und Schreiben unterrichtet wurde, war der Initiative ihrer Familie zu verdanken. Sie wuchs in dem Haushalt einer Priesterfamilie auf und sollte später als Ehefrau eines Priesters gemeinsam mit ihrem Mann einen Tempel leiten. Dazu musste sie über grundlegende Kenntnisse im Lesen und Schreiben verfügen (> Empfehlung zur Lese- und Schreibkompetenz der Frauen in der Edo-Zeit).

Amy Stanley fand Tsunenos Korrespondenz im Archiv der Stadt Niigata. Sie recherchierte acht Jahre lang, entzifferte und übersetzte die Briefe mit Unterstützung von japanischen Kolleg/innen. Mit einer unglaublichen Akribie wertete sie die Dokumente aus. Es ist eine Meisterleistung, die Entwicklung von Tsuneno und den Personen ihres Umfelds anhand der Briefe so umfassend und anschaulich zu rekonstruieren.

Ein großes Puzzle – stimmig zusammengesetzt

Das Ergebnis ist ein Werk, das Tsunenos wechselvolle Lebensgeschichte stimmig mit den Schwierigkeiten der Shogunats-Regierung, also mit der „großen“ Geschichte verwebt und so einen Eindruck von den letzten Jahrzehnten der Edo-Zeit vermittelt.

Die Schwierigkeiten waren vielfältig. Naturkatastrophen verstärkten Missstände, die aufgrund einer falschen Politik verursacht waren. Dazu kam die Bedrohung von außen: Japan war über die vorangegangenen zwei Jahrhunderte ein „sheltered place, inaccessible to most foreigners and at a remove from global markets.“ (S. 21). Aber die Zwischenfälle mit ausländischen Schiffen verdeutlichten, wie zunehmend schwierig die Politik der schützenden Abschließung geworden war (S. 24).

Landkarte von der Bucht von Edo mit eingezeichneten Verteidigungsanlagen und im Zentrum den Schiffen von Perry.

22. Die „Schwarzen Schiffe“ des Commodore Perry in der Bucht von Edo.

Das Buch ist etwas ganz Besonderes.

Das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet. So gewann es 2020 in den USA den National Book Critics Circle Award for Biography und wurde in Großbritannien auf die Shortlist des Baillie Gifford Prize aufgenommen, einem Buchpreis für die besten Sachbücher in englischer Sprache.

Mich begeisterten mehrere Aspekte:

– das große Panoptikum an Personen in ihrem Alltag

Amy Stanley schreibt nicht über die Edo-Zeit, sondern vermittelt die Lebensumstände der Zeit durch Personen, deren Lebenswege sie den Briefen entnahm und die sie in ihrem konkreten Handeln zeigt. So verfolgt sie deren Werdegang: wie sie sich in die ihnen zugedachte Rolle hineinfanden oder an ihr scheiterten.

Was lernten Mädchen, was wurde Jungen beigebracht? (S. 10-11). Amy Stanley verwebt die Unterrichtsstoffe mit einer Darstellung zum Wissen der Zeit und zeigt, dass die Lerninhalte für Mädchen und Jungen von Anfang an unterschiedlich waren, als Vorbereitung für ihre jeweils spätere Rolle.

Was bedeutete es für eine Frau geschieden zu werden und zu ihrer Familie zurückkehren zu müssen? Jede Frau konnte dies Schicksal ereilen, denn der Mann musste nur ein Schreiben von dreieinhalb Zeilen (mikudarihan) aufsetzen und konnte sich damit von seiner Frau trennen. Die Frau hatte dieses Recht nicht (S. 42-43).

Was bedeutet es ein Priester in einem Provinztempel zu sein? Was waren die Aufgaben des Priesters, seiner Ehefrau? (S. XXII)

Seite eines Lesehefts mit Abbildung eines Samurai und dem dazugehörigen Erklärungstext.

23. Eine Seite aus dem Lesebuch „Hundert Dichter aus dem Schwertadel“ („Buke hyakunin isshu“) von Imagawa Sadayo.

Was bedeutete es, als Saisonarbeiter/in in die Hauptstadt zu kommen? Amy Stanley zoomt wie mit einer Kamera in die verschiedenen Zimmer der voll gepackten Miethäuser, zeigt das Leben in den Hinterhäusern der Gassen der ärmlichen Viertel (S. 83-85, 90, 93-94).

Ganz konkret werden die Schicksale bei der Beschreibung der nicht alltäglichen Vorfälle innerhalb der Familie (wie die Bestrafung der Schwester, S. 35; die Vergewaltigung der Schwiegertochter, S. 36-38).

– die Verbindung von Tsunenos Leben mit der „großen Geschichte“

Mit jeder neuen Umgebung, die Tsuneno betritt, öffnet Amy Stanley den Blick auf ihr neues Umfeld. Dadurch, dass Tsuneno Anteil an ungewöhnlich vielen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen hatte, entsteht ein umfassendes Bild der Gesellschaft der Edo-Zeit. Die vielen Wechsel von Mikro- zu Makro-Ebene sind kaum spürbar: Immer wieder leitet Amy Stanley von der Biografie zu allgemeinen Lebensbedingungen über, um dann wieder zu Tsunenos Leben zurückzukehren.

So schildert sie die Umwelt, in der das Kleinkind aufwächst, gemeinsam mit einer Beschreibung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Priesterfamilie und der sie umgebenden Bauernfamilien.

Die Armut Tsunenos macht das Schicksal der Migrantinnen und Migranten vom Land greifbar: In ihrer Masse anonym, mittellos und unterernährt, waren sie alles andere als willkommen in der Stadt, sie bedeuteten eine Gefahr für die soziale Stabilität, da die wachsende Zahl der Hungernden Aufstände immer wahrscheinlicher machte (S. 79, 81). Sie übernahmen die Arbeiten, die sonst keine/r machen wollte: „Theirs was the common fate of the migrant: to make the city work without ever quite belonging.“ (S. 76). Von dieser Lebenssituation leitet sich der Titel des Buches ab: „Stranger in the Shogun’s City“.

In Edo herrschte der Shōgun unsichtbar für die Bevölkerung, ohne öffentlich aufzutreten, aber Amy Stanley nimmt uns mit hinein in die Burg, von der von außen nur die Wälle und Gräben zu sehen sind. Sie beschreibt die formale Etikette und die komplizierten Prozeduren (S. 124-126). Aber trotz ihres gesellschaftlichen Standes verarmten viele Samurai und suchten nach Auswegen (S. 113, 115-116).

Mit Tsunenos Umzug ins Theaterviertel beschreibt Amy Stanley die Bühnen, die Populärkultur, die Stadt des schönen Scheins (S. 138). Kleider waren Ausdruck des Standes, des Reichtums, und Edo war die Stadt der Fassaden, mit realen Vorfällen, die so grotesk waren, dass sie direkt von den Bühnen der Schauspielhäuser hätten stammen können (S. 121-122). Alle erfanden sich stets neu, mit ihren Beschäftigungen, sogar mit wechselnden Eigennamen (S. 159).

Es ist beeindruckend zu sehen, wie stark und wie direkt die „großen Ereignisse“ Einfluss auf das Leben von Tsuneno nahmen, wie beispielsweise die Tenpō-Reformen, deren Auswirkungen sie zur Entscheidung zwangen, wieder zu ihrer Familie aufs Land zurückzukehren.

– die fast filmische Darstellung

Amy Stanley beschreibt die Situationen nicht nur, vielmehr skizziert sie diese regelrecht auf dem Papier. Die Lesehefte für Frauen scheinen vor einem auf dem Tisch zu liegen, bereit zum gemeinsamen Durchblättern (S. 13), genauso die Stoffe und Muster der Kimonos (S. 18).

Bei Tsunenos Wanderung mit ihrem Begleiter von den nördlichen Außenbezirken hinein in die Stadt läuft man als Leser/in gemeinsam mit den beiden wie in einer langen Bildrolle mit Straßenszenen in das Zentrum von Edo (S. 68-75).

Immer wieder beschreibt Amy Stanley Geräusche, Gerüche, Oberflächen. Das Kleinkind lässt die kühlen Perlen der Gebetskette durch seine Finger gleiten (S. 6), wächst mit dem schwelenden Weihrauch in der Luft und mit dem Klang der Tempelglocke heran.

Tsunenos Lebensweg

Der Lebensweg der damaligen Frauen war in allem von männlichen Familienmitgliedern geprägt, und die Schilderung dieses Einzelschicksals führt den Grad der Rechtlosigkeit und damit der Abhängigkeit und Schwäche vor Augen. Über den Lebensweg von Frauen entschieden erst der Vater und dann der ältere Bruder. Danach waren die Frauen ihrem Ehemann und dessen Eltern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Nur als Ehefrau waren sie ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft: Erst die zweite Heirat mit ihrem vierten Ehemann, der über seine Arbeit nun eine anerkannte Funktion innehatte, machte Tsuneno zu einer angesehenen Frau (S. 215).

Sicherlich hatte Tsuneno keinen einfachen Charakter, traf mitunter falsche Entscheidungen, entwarf in verschiedenen Briefen immer wieder neue Versionen ihrer eigenen Vergangenheit (S 107). Amy Stanley zieht dies in ihre Betrachtungen mit ein und richtet ihr Augenmerk auch auf die Verzweiflung von Tsunenos ältestem Bruder, der seine Schwester einfach gut versorgt wissen wollte.

Amy Stanley führt also nicht nur die Fakten an, sondern stellt zahlreiche Überlegungen an: Was bewog Tsuneno zu ihrem Verhalten, wie dachte sie über Situationen, warum traf sie bestimmte Entscheidungen? Amy Stanley formuliert diese Gedanken zwar hypothetisch, schafft jedoch auf diese Weise eine unglaubliche Nähe zu der Briefeschreiberin Tsuneno.

Dies rückt dieses lesenswerte Buch sehr nahe an einen Roman. So nahe, wie es Geschichtsschreibung gerade noch zulässt.

Susanne Phillipps

(21.06.2023, Ausgabe 11)

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Bildnachweis

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Buch-Arrangement Tsuneno: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

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02: By 雷太 – https://www.flickr.com/photos/128275472@N07/49241756223/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=98461193

03: By Suzuki Bokushi – This image is available from the website of the National Diet Library, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=52389788

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05: By Kimbei Kusakabe (possibly) – http://digitalgallery.nypl.org/nypldigital/id?139461, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3166254

06: By Watanabe Kazan – https://kotobank.jp/image/dictionary/nipponica/media/81306024015636.jpg, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=90279571

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09: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

10: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

11: Von Utagawa Hiroshige – Online Collection of Brooklyn Museum, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3790946

12: Von Utagawa Hiroshige – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 1307041, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=110428712

13: By Artwork by Kitao Shigemasa, inscribed by Santo Kyoden. – "Shiji-no-yukikai" (Four o'clock, "四時交加"), Benricho – https://www.benricho.org/Unchiku/edo-syokunin/Shijinoyukikai/, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=128470750

14: Von Katsushika Hokusai – http://visipix.com/index.htm, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=313212

15: Von Hishikawa Moronobu – Diese Datei wurde als Teil des Partnerprojektes mit dem Metropolitan Museum of Art an Wikimedia Commons gespendet. Siehe auch die Dateiquellen und Zugriffsberechtigungen ein., CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59494069

16: Von Hishikawa Moronobu – Diese Datei wurde als Teil des Partnerprojektes mit dem Metropolitan Museum of Art an Wikimedia Commons gespendet. Siehe auch die Dateiquellen und Zugriffsberechtigungen ein., CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59494257

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18: By 椿 椿山 – http://www.lib.metro-u.ac.jp/mizuno/mizuno.files/image/org/mi000004.jpg, Caption, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8974876

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