Frauen, die lesen und schreiben können: Über glückliche Umstände einer umfassenden Ausbildung

Das Buch, das empfohlen wird, liegt vor vielen Buchseiten einer historischen Ausgabe von "Hyakunin isshu"

P. F. Kornicki, Mara Patessio, G. G. Rowley (Hg.) (2010): The Female as Subject. Reading and Writing in Early Modern Japan. Ann Arbor: The University of Michigan, Center for Japanese Studies.

Als in der Edo-Zeit (1600-1868) immer mehr Kinder auch der unteren Gesellschaftsschichten Lesen und Schreiben lernten, stieg die Zahl der Druckerzeugnisse und der Buchmarkt blühte auf. Autoren, Zeichner, Schnitzer von Holzblockdrucken und Verleger hatten alle Hände voll zu tun. Auflagenzahlen von Bestsellern explodierten, Starautoren pflegten ihre Allüren und betrieben Werbung, die der heutigen in den sozialen Netzwerken in nichts nachstand. Dies ist alles ausführlich erforscht, die Akteure sind in fast allen Fällen Männer.

Wie aber sah es mit den Lese- und Schreibgewohnheiten von Frauen aus? Sicherlich führten Frauen auch die Geschäfte ihrer Männer, der Verleger und Buchhändler, aber waren Frauen auch Autorinnen und Holzschnitzerinnen?

Dieser Sammelband vereint Beiträge, die untersuchen, welche Rolle Frauen während der Edo- und Meiji-Zeit (von 1600 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts) in der Welt der Bücher spielten, und legt noch nicht Erforschtes offen.

Über das Buch

Die Beiträge entstammen einem Workshop, der im September 2006 abgehalten wurde. Er besteht aus einer Einführung der Herausgeber/innen, insgesamt elf Aufsätzen von je etwa 20 Seiten, einer Bibliografie, den kurzen Lebensläufen der Beitragenden und einem Index. Insgesamt gibt es 30, in Schwarzweiß abgedruckte Abbildungen und 4 Tabellen.

Ausgangspunkt

Peter Kornicki, Mara Patessio und Gaye Rowley hatten sich schon länger mit der Rolle der Frau in der Welt der Bücher beschäftigt. Für die Planung des Workshops knüpften sie an Gender Studies an, wie zum Beispiel an die Studien von Tiziana Plebani über schreibende Frauen in Europa, Sharon Sievers („Flowers in Salt. The Beginnings of Feminist Consciousness in Modern Japan“) oder Gail Lee Bernstein („Recreating Japanese Women“) (S. 1, 3).

Es ist unumstritten, dass in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts viele Frauen in Japan lesen konnten, aber mit den Beiträgen sollten Einzelfragen genauer geklärt werden: Wer waren diese Frauen? Wie erlernten sie das Lesen und Schreiben, wofür nutzten sie es, welchen Lesestoff hatten sie?

Die Lese- und Schreibkompetenz von Frauen in der Edo-Zeit

In seinem Eröffnungskapitel „Women, Education, and Literacy“ gibt P. F. Kornicki einen Überblick über heutige Erkenntnisse zur Lese- und Schreibkompetenz von Frauen in der Edo-Zeit. Er eröffnet mit einem bemerkenswerten Vorfall von 1638, als eine Dorfbewohnerin nach dem Tod ihres Mannes als seine Nachfolgerin zur Dorfvorsteherin gewählt wurde, des Lesens und Schreibens also mächtig gewesen sein musste.

Während der Edo-Zeit folgte die Ausbildung weder für Jungen noch für Mädchen einem fest vorgegebenen System. Dies verhindert allgemeingültige Aussagen: Die Bildungsmöglichkeiten für damalige Frauen müssen je nach Region, in der zeitlichen Entwicklung und nach dem gesellschaftlichen Stand untersucht werden.

Eine Frau im Vordergrund schreibt einen Brief, eine Frau im Hintergrund liest einen Brief.
Eine sitzende Frau liest einen Brief.
Eine Frau sitzt auf einem Hocker vor einer Anrichte und ist in einen Text vertieft.

01.-03. Frauen, die lesen und schreiben; von Kitagawa Utamaro (1753-1806) und Utagawa Kunisada (1786-1865).

Die Frage, welche Bildung für Mädchen und Frauen angemessen sei, beschäftigte Intellektuelle über die Jahrhunderte hinweg, und viele betrachteten sie als generell wünschenswert, in erster Linie für Mädchen aus Samurai-Familien. Sie sollte moralische Erziehung beinhalten, aber auch die Fähigkeit, chinesische Texte zu lesen. Für eine gute Bildung von Frauen adliger Herkunft sprach, dass sie, falls sie ihren Mann verlieren würden, ihre Kinder selbst unterrichten könnten.

Aber es gab nicht nur Befürworter. Für viele schien Bildung besonders für Frauen aus Bauern- und Handwerkerfamilien überflüssig zu sein, einer ehelichen Verbindung gar im Wege zu stehen. – Ein in der Geschichte oftmals und fast überall wiederholter Gedankengang, so auch des durchaus reformfreudigen Daimyō Matsudaira Sadanobu (1759-1829): Für arbeitende Frauen seien Lesen und Schreiben im Alltag nicht verwertbar. Frauen mit Intellekt und Bildung verursachten großes Leid, die Kenntnis einfacher Silbenschriftzeichen sei ausreichend. Wichtig sei vor allem die moralische Erziehung nach konfuzianischem Vorbild (Kornicki, S. 11-12).

Aber, wie überall: Je mehr Frauen in Führungspositionen – in der Edo-Zeit vor allem bei Kaufmanns- und Handwerkerfamilien in der Geschäftsleitung – gebraucht wurden, umso besser mussten sie ausgebildet werden. Spätestens um 1800 gab es Lehrbücher zur Geschäftsführung extra für Frauen („Onna shōbai ōrai“, 1806, S. 13).

Eine ganz eigene Rolle spielten Kurtisanen, die oftmals über eine gute Ausbildung verfügten und traditionelle Werke wie das „Ise monogatari“ („Geschichten aus Ise“) kannten und manchmal gerade für ihre Dichtkunst berühmt waren. Es gab eine Sparte an Büchern, die sich speziell an sie richteten, und der deutsche Arzt und Wissenschaftler Engelbert Kaempfer (siehe Empfehlung) erwähnt, dass angehende Kurtisanen im Briefeschreiben unterrichtet wurden und generell gut gebildet waren (Kornicki, S. 14, 27).

Zusammenfassend kann man sagen, dass es ab dem frühen 19. Jahrhundert in ganz Japan, sowohl in der Stadt wie auf dem Land, verschiedene Schulen gab. Sie variierten in Bildungsinhalten enorm, und auf dem Land wurde je nach der Arbeitsleistung, die Kinder erbringen mussten, nur saisonal unterrichtet. Trotz aller Einschränkungen erhielten viele Mädchen eine gewisse, im damaligen internationalen Vergleich sogar ganz gute Grundausbildung.

Es gibt einige wenige Beispiele äußerst gebildeter Frauen, zu ihnen zählt auch die Ärztin Nonaka En (1660-1725). Aber dies waren Einzelfälle: Nur sehr eingeschränkte, glückliche Umstände, meist gebildete Männer in ihrem Umfeld, gewährten diesen Frauen Unterstützung.

Lesende Frauen

Zu Beginn der Edo-Zeit waren es, wie schon in den Jahrhunderten zuvor, vor allem die aristokratischen Frauen am Hofe und der Samurai-Klasse, die lasen. Insbesondere das „Genji monogatari“ („Die Geschichte des Prinzen Genji“) war seit Jahrhunderten kulturelles Kapital für einen Erfolg als zukünftige Ehefrau, Hofdame oder Konkubine. Bis ins frühe 17. Jahrhundert waren es allein die Angehörigen der Oberschicht, die die einzelnen Kapitel der Erzählung in Abschriften als Manuskripte untereinander weiterreichten. Von Frauen adliger Herkunft wurde erwartet, dass sie den Handlungsfaden kannten und die einzelnen Kapitel ohne Interpretationshilfe lesen und verstehen konnten. Vor allem um selbst zu dichten, war die Kenntnis der „Geschichte des Prinzen Genji“ unabdingbar.

Über verschiedene Wege wanderte der Stoff dann schrittweise auch in die Hände reicher Handwerker- und Kaufmannsfamilien. Um wirtschaftlich zu überleben, verkauften beispielsweise viele adlige Familien ihre Manuskripte inklusive der Kommentare (G. G. Rowley, „The Tale of Genji“: Required Reading for Aristocratic Women, S. 39, 41, 42).

Eine Frau hält ein Buch in der Hand und scheint an eine beschriebene Szene zu denken.
Eine Frau hält ein Buch in den Händen, in dem sie liest.

04.-05. Frauen mit interessantem Lesestoff, von Utagawa Kuniyoshi (1798-1861) und Kitagawa Utamaro (1753-1806).

In ihrem reich bebilderten Beitrag zeigt Itasaka Noriko, wie sich die Darstellung lesender Frauen im ukiyoe-Holzdruck über die Jahrhunderte änderte. Sie unterscheidet dabei drei Phasen und stellt folgende Entwicklung fest: dargestellt wurden zunächst adlige Frauen der Vergangenheit, die Gedichte lesen, dann modisch gekleidete Kurtisanen und schließlich Städterinnen. Zeitgenössische Stile und Moden spielten eine große Rolle bei der zum Teil glamourösen Gestaltung der Frauen, die auf den Bildern tendenziell eine eher entspannte Körperhaltung einnehmen (Itasaka Noriko, The Woman Reader as Symbol: Changes in Images of the Woman Reader in Ukiyo-e, S. 88, 90).

Die Kunstwerke zeigen, dass das Lesen immer weniger der Erziehung diente, sondern zum vergnüglichen, genussvollen Zeitvertreib wurde. Neu auf dem Markt kamen nun speziell für Frauen verfasste, fiktive Erzählungen, vor allem Liebesromane, ein Anzeichen einer beginnenden Autonomie. Zeitgleich wurde Kritik daran laut, dass Frauen lesen; Bücher hatten zunehmend die Aura des Schlechten, des Verderbten (Itasaka, S. 106-107).

Eine kniende Frau beugt sich über ein Buch, in das sie vertieft ist, hat einen Finger am Mund.
Eine Frau lehnt sich entspannt zurück und liest lächelnd ein Buch.
Eine Frau liegt gemütlich und liest ein Buch.

06.-08. Frauen, die in ihre Lektüren vertieft sind; von Utagawa Kunisada (1786-1865), Utagawa Kuniyoshi (1798-1861) und Kitagawa Utamaro (1753-1806).

Lesestoffe und Lerninhalte

Der größte Anteil des Lesestoffs für Frauen während der Edo-Zeit waren handschriftlich verfasste oder kopierte Schriften, d.h. Manuskripte, die im engeren Kreis weitergegeben wurden. In dem Erziehungsbuch für Frauen „Onna Daigaku“ („Hohe Schule für Frauen“) wurde angeraten, handschriftliche Kopien von Gelesenem anzufertigen, denn trotz des aufblühenden Marktes waren gedruckte Bücher außerhalb der großen Städte noch Mangelware (Kornicki, S. 30).

Aufgeschlagenes Buch für Frauen von 1783, oben Bild und Kommentar, unten Haupttext.

09. Ein Buch für Frauen: „Onna man’yō kagami“ (wörtl.: „Spiegel der zehntausend Blätter für Frauen“, 1783).

Doch in der zweiten Hälfte der Edo-Zeit wurden Frauen als Käuferinnen kommerziell gedruckter Bücher zum ersten Mal explizit wahrgenommen (Kornicki, S. 23). Es waren vor allem Anleitungsbücher zum Briefeschreiben, Benimmbücher, klassische Literatur im Text-Bild-Format, Kaligrafie-Leitfäden und Design-Bücher. Die bekannteste Schrift war der oben erwähnte Bildungstext „Onna daigaku“ von 1729, der im Zentrum neokonfuzianische Werte vermittelt. Das Buch wurde bis in die Meiji-Zeit immer wieder nachgedruckt.

Der Inhalt der Klassiker, bisher Adligen vorbehalten, erreichte nun, in Bilder verpackt und mit einfachen Worten erklärt, schrittweise Städterinnen und Städter. An Inhalt, Gestaltung und Stil der Bücher sind die unterschiedlichen Zielgruppen erkennbar: für Frauen ohne viel Text, mit großen Abbildungen in eher niedlichen Formen, die Figuren in zeitgenössischen Gewändern gehüllt, die klassischen Texte mit moralisierenden Kommentaren versehen. Vor allem Ausgaben von „Hyakunin isshu“ („Hundert Gedichte von hundert Dichter/innen“) waren für Leserinnen gedacht. Sie spielten diese Gedichtsammlung auch als Kartenspiel, ähnlich einem Memory.

10. Ende des 17. Jahrhunderts wuchsen Veröffentlichungen für Frauen zahlenmäßig immer mehr an. Hier eine Seite aus einer Ausgabe von „Hyakunin isshu“ („Hundert Gedichte von hundert Dichter/innen“), siehe auch den Hintergrund der Abbildung mit dem Buch-Cover am Beginn dieser Empfehlung.

Seite aus einem Buch: unten Haupttext und Bild, oben in kleinerer Schrift der Kommentar.

„Genji monogatari“ („Die Geschichte des Prinzen Genji“) und „Ise monogatari“ („Geschichten aus Ise“) wurden dagegen eher für männliche Leser konzipiert. Die Beziehungen, die in diesen Erzählungen dargestellt werden, galten während der Edo-Zeit als moralisch zu gefährdend für Frauen – obwohl das „Genji monogatari“ Jahrhunderte zuvor von einer Hofdame geschrieben worden war. Besonders um diese Texte kreiste ein Debatte über die Angemessenheit von Leseinhalten für Frauen (Joshua S. Mostow, Illustrated Classical Texts for Women in the Edo Period, S. 72, 77, 83).

Doppelseite mit Titel rechts oben und zwei Bildern: rechts ein schreibender Höfling; links zwei Hofdamen, die in den Palastgärten flanieren, eine Hofdame, die auf der Veranda liest.

11. Titelseite einer Ausgabe von „Ise monogatari“ („Geschichten aus Ise“).

Was in den Augen eines Konfuzianers ein geeigneter Lehrplan war, zeigt Bettina Gramlich-Oka: Der Gelehrte Inooka Gisai (1717-1789) entwarf für seine Tochter Rai Shizu (1760-1843) eine Schrift mit Verhaltensanweisungen samt einer Liste wünschenswerter Literatur, als sie jung vermählt aus ihrer Heimatstadt wegzog.

Interessant ist der Hinweis des Vaters, sie solle ihrem Ehemann nicht blind folgen, sondern vielmehr ihm nacheifern und selbst Beeindruckendes leisten, um den Menschen in Erinnerung zu bleiben und damit ein gutes Licht auf ihre Eltern zu werfen.

Gramlich-Oka deutet an, dass die Tochter ihrem Vater wohl nicht in allen Punkten folgte, besonders in der Ausübung verschiedener Künste, die nach konfuzianischen Vorstellungen einer Frau nicht angemessen waren (Bettina Gramlich-Oka, A Father’s Advice: Confucian Cultivation for Women in the Late Eighteen Century, S. 127, 131).

Schreibende Frauen – entscheidend: das persönliche Umfeld

Frauen verfassten die meisten Manuskripte – oftmals Tagebücher und Reisetagebücher – ohne die Absicht auf Veröffentlichung, sie wurden in der Familie und unter Freunden weitergereicht.

Anna Beerens untersucht systematisch bestimmte Personenkreise, um Informationen über den Bildungs- und Alphabetisierungsstand von Frauen zu bekommen. Dabei erläutert sie ihr Vorgehen: Bei der Prosopografie verknüpft man vergleichend die biografischen Daten einer Gruppe von (zum Beispiel über Briefwechsel oder gemeinsame Projekte) miteinander verbundener Individuen, um Gemeinsamkeiten und übereinstimmende Strukturen in ihren Lebensgeschichten zu finden. Anna Beerens veranschaulicht dies an einer Gruppe von Intellektuellen, die zwischen 1775 und 1800 aktiv war (Anna Beerens, In the Shadow of Men: Looking for Literate Women in Biography and Prosopography, S. 110-111).

Dabei zeigt sie auf, wie Künstlerinnen, Schriftstellerinnen und Dichterinnen im wahrsten Sinne des Wortes am Rand von (Auto)Biografien berühmter Intellektueller auftauchen: Sie werden als Ehefrauen, Töchter, Schwestern und Mütter von Gelehrten, Schriftstellern oder Dichtern kurz erwähnt. Sie hatten das Glück, im Netzwerk männlicher Intellektueller aufzuwachsen und an der Seite ihrer männlichen Verwandten ihre eigenen Interessen entwickeln zu können.

Frau mit Brille sitzt am Boden und schreibt mit einem Pinsel.
Eine Frau diktiert aus einem Textbuch, zwei junge Frauen sitzen an einem Tischchen und schreiben.

12.-13. Schreibende Frauen; von Nishikawa Sukenobu (1871-1750) und Kitagawa Utamaro (1753-1806).

Viele Frauen scheinen erst schriftstellerisch aktiv geworden zu sein, nachdem sie ihre Aufgaben als Ehefrau und Mutter bzw. als Geschäftspartnerin im gemeinsam Unternehmen ausgefüllt und an die nächste Generation weitergegeben hatten. Manche waren auch verwitwet oder geschieden, wenn sie sich aus dem aktiven Leben zurückzogen und sich in einer späten Selbstverwirklichung ihren literarischen Interessen widmeten (Kornicki, S. 35, Walthall, S. 225).

Entsprechend ihrem Beruf mussten Frauen über bestimmte grundlegende Kompetenzen verfügen. Dies untersucht Yabuta Yutaka an Briefen und anderen Dokumenten einer jungen Frau namens Nishitani Saku aus einer kleinen Stadt nahe Ōsaka. Sie stammte aus einer Familie von Händlern, und das Schreiben von Briefen war notwendig, um den Kontakt mit der Familie in der Ferne zu halten. Yabuta Yutaka zeigt Nishitanis Alphabetisierungsgrad anhand originaler Schriftstücke, von denen einige im Buch abgebildet sind (Yabuta Yutaka, Nishitani Saku and Her Mother: „Writing“ in the Lives of Edo Period Woman, S. 144 ff).

Schriftstellerinnen, Journalistinnen und Politikerinnen

Sakaki Atsuko stellt in ihrem Beitrag die Schriftstellerin Arakida Rei (1732-1806) vor. Arakida Reis Geschichten sind in jeder Hinsicht komplex: Ihre Verarbeitung chinesischer Quellen verdeutlicht ihren Umgang mit dem Eigenen und dem Fremden, dem Übernatürlichen und dem Alltäglichen, dem Imaginären und dem Realistischen. Arakida taucht in gängigen Literaturgeschichten nicht auf, und ein Grund dafür könnte sein, dass sie sich mit ihren Geschichten nicht in übliche Sparten einordnen lässt: Sie war in den unterschiedlichsten Genres aktiv, nicht aber in denen für Frauen typischen: Erinnerungen und Autobiografien. Stattdessen entwarf sie im Geiste stets andere Zeiten und fremde Orte (Sakaki Atsuko, The Taming of the Strange: Arakida Rei Reads and Writes Stories of the Supernatural, S. 170).

14. Matsuo Taseko (1811-1894), eine hoch gebildete Frau, war in Kreisen der Kokugaku (Nationalen Schule) politisch aktiv. Sie schrieb waka-Gedichte.

Portraitbild in Schwarzweiß einer älteren Dame in schwarzem Kimono.

Sugano Noriko verfolgt die Karriere der Feministin Kishida Toshiko (1863-1901). Fast zwei Jahre lang, von 1882 bis 1883, bereiste Kishida mit ihrer Mutter Japan und hielt öffentlichen Reden zum Thema Frauenrechte: gegen die allseits akzeptierte Haltung, Männer zu bevorzugen und Frauen zu benachteiligen (danson johi, Androzentrismus). Unter anderem versuchte sie, Frauen dazu zu ermutigen, Selbsthilfegruppen und Literaturzirkel zu gründen. Nach Verhaftungen und zunehmenden politischen Einschränkungen betätigte sie sich journalistisch.

Sugano analysiert Kishidas Reden und zeigt, wie sie ihren Fokus von der Forderung nach mehr Rechten für Frauen hin zur Bedeutung der Ausbildung von Frauen verschob (Sugano Noriko, Kishida Toshiko and the Career of a Public-Speaking Woman in Meiji Japan, S. 172)

Portraitbild in Schwarzweiß einer Dame in dunklem Kimono.

15. Kishida Toshiko (1863-1901).

Mit dem Beginn der Meiji-Zeit waren Frauen zunehmend im öffentlichen Leben präsent: als Studentinnen, Lehrerinnen, Schriftstellerinnen. Patessio untersucht ihre Rolle in den nach wie vor von Männern dominierten Printmedien Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, vor allem bei den Zeitschriften „Jogaku zasshi“ („Zeitschrift für die Bildung von Frauen“) und „Fujo shinbun“ („Zeitung für Frauen“).

Unter den Anliegen, die in den Artikeln immer wieder verhandelt wurden, waren unter anderem das Wahlrecht und bessere Bildungsmöglichkeiten für Frauen. Regelmäßig wurden Lesestoffe behandelt, die als mehr oder weniger geeignet für junge Frauen betrachtet wurden: Vor allem Liebesgeschichten (ren’ai shōsetsu) und romantische, melodramatische Geschichten (ninjō shōsetsu) galten als gefährlich für junge Frauen, hatten sie doch das Potenzial, Gefühle in Unordnung zu bringen oder sogar zu eigenen Vorstellungen vom Leben zu verführen (shōsetsu-byō, „Roman-Krankheit“, S. 199).

Patessio stellt fest, dass die öffentliche Äußerung weiblicher Bedürfnisse und Meinungen als mögliche Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung wahrgenommen wurde: Chaos in der Familie stand als Zeichen für Unordnung in der Gesellschaft, selbstbewusste Frauen bargen die Gefahr des gesellschaftlichen Wandels (Mara Patessio, Readers and Writers: Japanese Women and Magazines in the Late Nineteenth Century, S. 191, 202).

Ein neues Curriculum

Neun Frauen in Kimono, Hakama und westlicher Kleidung. Sie gehen verschiedenen Beschäftigungen nach: spielen ein klassisches Instrument, schreiben, lesen, tanzen, stecken Blumen.

16. Frauen verschiedener gesellschaftlicher Klassen der Meiji-Zeit bei ihren Hobbies, darunter das Koto- und Shamisen-Spiel, das Blumenstecken, die Kalligrafie, der Tanz und das Lesen. Eine Dame ist in einem europäischen Kostüm gekleidet, von Yōshū (oder: Hashimoto) Chikanobu (1838-1912).

Abschließend gibt Anne Walthall einen Überblick darüber, wie sich die Lehrinhalte von der Edo- hin zur Meiji-Zeit änderten. Während in der Edo-Zeit der Zufall und die glücklichen Umstände entschieden, ob und welche Ausbildung Frauen erhielten, wurde in der Meiji-Zeit eine grundlegend systematisierte Schulbildung eingeführt. Frauen wurden zu Bewahrerinnen der Traditionen, lernten aber nicht nur Künste, die im Privaten ausgeübt wurden, sondern eigneten sich auch Fertigkeiten an, mit denen sie für die Gesellschaft relevante Berufe ausüben konnten. Damit standen ihnen breiter angelegte Ausbildungswege, neue Erziehungs- und Arbeitsmöglichkeiten offen. Zugleich weist Walthall darauf hin, dass sie auch Posten verloren, die in der neuen Zeit Männern vorbehalten waren (Anne Walthall, Women and Literacy from Edo to Meiji, S. 234-235).

Junge Frau mit kurzem Haarschnitt lehnt über einem Schreibtisch und übt mit einem Pinsel Schriftzeichen zu schreiben.
Junge Frau mit europäischen Utensilien: einem schwarzen Schirm und einem schwarz eingebundenen Buch.
Drei junge Frauen: eine hockt am Boden und schreibt mit einem Pinsel, die beiden anderen schauen ihr zu. Im Hintergrund eine Regal mit Büchern.

17.-19. Gebildete Frauen: Eine junge Frau macht Schreibübungen mit einem Pinsel; eine andere trägt einen europäischen Schirm und ein europäisches Buch, andere beschäftigen sich mit Büchern: lesen und schreiben; von Yōshū (oder: Hashimoto) Chikanobu (1838-1912).

Empfehlenswert –

Der Sammelband ist aus mehreren Gründen empfehlenswert. Wichtige Punkte sind:

– die verschiedenen Lebensläufe

Auch wenn es glückliche Umstände waren, unter denen einzelnen Frauen in der Edo-Zeit eine umfassendere Ausbildung erlangten, es gab sie: die Frauen, die in der von Männern dominierten Kultur die verschiedensten Aufgaben übernahmen und Berufe ausübten. Die Beiträge skizzieren einige von ihnen: Sie arbeiteten als Privatlehrerinnen oder betrieben eigene private Schulen (shijuku oder terakoya). Viele betätigten sich als Schriftstellerinnen und Dichterinnen und waren Teil intellektueller Bewegungen, politisch aktiv in der Kokugaku (Nationale Schule) oder im Rahmen der Shingaku-Bewegung (Volksethik der Edo-Zeit, „Lernen mit dem Herz“).

Foto von einer Frau, die am Boden kniet und einen Brief schreibt.
Foto von drei Frauen: sie schreiben, lesen und nähen.

20.-21. Fotografien von Frauen der frühen Meiji-Zeit, darunter auch schreibende Frauen.

– die Neuerungen, die die Phase der Modernisierung mit sich brachte

Zugleich machen einige Beiträge deutlich, wie viel systematisierter die Ausbildung unter staatlicher Kontrolle während der Meiji-Zeit angelegt war. Vieles war schon durch die Shōgunats-Regierung während der Edo-Zeit angelegt, und Frauen erlebten in dem neuen System nicht nur eine Erweiterung ihrer Möglichkeiten, sondern auch Einschränkungen, da sie bisherige Funktionen nicht mehr ausüben durften (Kornicki, S. 23).

– die akribische Detektivarbeit

Die Aussagen der einzelnen Beiträge werden durch Zitate verschiedenster Quellen belegt: durch Angaben aus Tagebüchern und Autobiografien, anhand von Auflistungen zur Mitgift oder Besitzstempeln in Büchern (zōshoin), mittels Auszügen von Verlagskatalogen und Buchempfehlungen für Frauen (Kornicki, S. 25-26, S. 29).

Die genauen Interpretationen des Text- und Bildmaterials ermöglichen spannende Rückschlüsse auf das Leben von Japanerinnen der Vormoderne, und zwar nicht nur von berühmten Frauen, sondern durch glückliche Archivfunde auch von Frauen unterer Gesellschaftsschichten.

Dabei macht die Rekonstruktion ihrer Lesegewohnheiten den damaligen Alltag greifbarer: Über welche Art von Lesefähigkeit verfügten Frauen? Welche Rollen hatten sie inne: Lernten sie Texte auswendig, trugen sie Texte laut vor, dichteten sie selbst – auf Japanisch (haikai) oder Sinojapanisch (kanshi)?

Ausschnitt einer aufgerollten Bildrolle des „Genji monogatari“, Text und Bild im Wechsel.

22. Gyokuei (1526 – nach 1602) formulierte 1602 praktische, einfach verständliche Kommentare zum „Genji monogatari“ für andere Frauen, nach eigener Aussage, ohne die männliche Eigenart, ständig das eigene Wissen durch schwierig zu lesende sinojapanische Schriftzeichen zur Schau zu stellen (Rowley, S. 44, 46-48). – Bildrolle „Die Geschichte des Prinzen Genji“, Kaoku Gyokuei zugeschrieben.

Es gibt noch viel zu erforschen, es müssen noch viele Archive durchstöbert werden, um aufschlussreiche „Randnotizen“ aufzuspüren (Kornicki, S. 22). Dieser Sammelband mit seinen fundierten Beiträgen ist ein hervorragender Einstieg in die Themati und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschungsprojekte.

Susanne Phillipps

21.12.2022 (Ausgabe 09)

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Bildnachweis

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Buch-Arrangement Frauen und Bücher: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: By Kitagawa Utamaro – Info, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29988004

02: By Kitagawa Utamaro – https://clevelandart.org/art/1943.23, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=76149900

03: By Utagawa, Kunisada, 1786-1864, artist – Library of CongressCatalog: https://lccn.loc.gov/2008660588Image download: https://cdn.loc.gov/service/pnp/jpd/01900/01961v.jpgOriginal url: https://www.loc.gov/pictures/item/2008660588/, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=67966160

04: By Utagawa Kuniyoshi – CQFAkjZ9pHBAmw at Google Cultural Institute maximum zoom level, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22126685

05: By Rawpixel – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=75043918

06: By Utagawa Kunisada – https://nla.gov.au/nla.obj-151447734/, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=89014627

07: Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=316664

08: By Kitagawa Utamaro – YgGhLZsmddp5Rw at Google Cultural Institute, zoom level maximum, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29846985

09: By Daderot – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74553365

10: By UBC Library Digitization Centre – Retsujo hyakunin isshu. Kan Retsujo hyakunin isshu Retsujo hyakushu [Page 080], No restrictions, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=43900201

11: By Hishikawa Moronobu – This file was donated to Wikimedia Commons as part of a project by the Metropolitan Museum of Art. See the Image and Data Resources Open Access Policy, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=58778506

12: By 西川祐信 – https://wellcomeimages.org/indexplus/obf_images/47/b2/dc5ed4311f1d6a8cbffa338029fe.jpgGallery: https://wellcomeimages.org/indexplus/image/V0046633.htmlWellcome Collection gallery (2018-03-22): https://wellcomecollection.org/works/a32gfhxk CC-BY-4.0, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36662773

13: By Kitagawa Utamaro – Image: http://collections.lacma.org/sites/default/files/remote_images/piction/ma-34521408-O3.jpgGallery: http://collections.lacma.org/node/191149 archive copy, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27219544

14: 不明 – 『ビジュアル幕末1000人』世界文化社, パブリック・ドメイン, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=63956811による

15: Von Autor/-in unbekannt – 国史大図鑑編輯所編『国史大図鑑 第5巻』吉川弘文館、1933年10月25日。National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 1920452, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=86332134

16: By Yōshū Chikanobu (1838-1912) – https://images.squarespace-cdn.com/content/v1/597a6b3f20099e0bff650be1/1512452100034-7MOIU6AHK0MI7OJYZA84/ukiyoe+3.jpg, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=114776629

17: By Toyohara Chikanobu – Chikanobu: The Artist's Eye, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11136939

18: By Toyohara Chikanobu – Chikanobu: The Artist's Eye, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11136902

19: By Toyohara Chikanobu – National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 1309692, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=99066175

20: By A.Davey from Portland, Oregon, EE UU – Billet-Doux, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61042943

21: By Kusakabe Kimbei – http://www.ngv.vic.gov.au/climages/large/Fe1/Fe100358.jpg, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10481598

22: By Unknown author – New York Public Library, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18442742