Momentaufnahmen eines fernen Landes – Der Blick auf Japan in Reisemagazinen früherer Jahrzehnte
„Merian“-Hefte zu den Themen Tōkyō und Japan. Reisemagazin seit 1948 aus den Verlagen Hoffmann und Campe (bis 2000), danach Jahreszeiten Verlag (beide Hamburg).
Welch ein wunderbares Konzept: In Form einer Zeitschrift wird ein Land, eine Stadt oder eine Region aus der Sicht unterschiedlichster Autorinnen und Autoren vorgestellt und mit großformatigen, außergewöhnlichen Fotografien versehen. Ein spezielles, für „Merian“ typisches Eintauchen in die Fremde.
Um aktuell zu bleiben, erfahren die „Merian“-Hefte über die Jahrzehnte regelmäßige Neubearbeitungen, so auch das über Japan: Das Land wandelte sich, vor allem aber änderte sich der Blick auf das Inselreich. Daraus ergeben sich spannende Fragen: Ab wann wurde über bestimmte Themen wie berichtet? Welche Inhalte wurden immer wieder aufgegriffen? Bei der Lektüre zurückliegender Ausgaben begibt man sich nicht nur in ein fernes Land, sondern reist auch in eine andere Zeit.
Über das Reisemagazin „Merian“
Das Reisemagazin „Merian“ erscheint seit Juli 1948 und ist damit die älteste noch existierende deutschsprachige Reisezeitschrift. Der Titel der Zeitschrift bezieht sich auf den Basler Kupferstecher Matthäus Merian, der im 17. Jahrhundert illustrierte Städtebeschreibungen veröffentlichte.
Die Magazine stellen anhand von Texten und Fotos ein Land, eine Gruppe von Ländern oder eine Stadt vor: Informationen zur Landeskunde, vor allem zur Geschichte und Gesellschaft, Kunst und Kultur, dazu Hinweise zur Gastronomie und Museumslandschaft (vgl. den Übersichtsartikel bei Wikipedia).
Auf den Heftrücken werden die Jahrgänge durchnummeriert, anfänglich mit römischen, später mit arabischen Ziffern. Die Magazine haben mindestens hundert Seiten, etwa 20 Beiträge unterschiedlicher Autorinnen und Autoren und sind reich bebildert.
Auf den letzten Seiten wird weiterführende Literatur aufgelistet, ein Service-Teil und eine ausklappbare Karte stellen kurze Hinweise zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten bereit.
Die Hefte, die ich hier vorstelle, reichen weit zurück und erschienen im Abstand von etwa zehn Jahren:
- „Tokio“ (2/XXV; 1972);
- „Japan“ (11/33; 1980);
- „Tokio und Japan“ (12/45; 1992);
- „Japan“ (02/54; 2001).
Vergleich der vier Magazine
Ich vergleiche die vier Ausgaben vor allem in Hinblick auf
- das Titelbild,
- die Aufmachung und das Design,
- die allgemeine Einführung,
- die Autorinnen und Autoren,
- die inhaltlichen Schwerpunkte und thematischen Gewichtungen,
- die Fotografien,
- die begleitende Werbung.
Mein besonderes Augenmerk gilt den früheren Reisemagazinen, da sie für die Bereitstellung von Informationen über das damals noch vergleichsweise fremde Land Japan von großer Bedeutung waren. – Eine Zeitreise.
1972 – Japan ist noch weitgehend unbekannt
Der Titel lautet „Tokio“ und dies allein ist schon ein Hinweis darauf, dass Japan damals noch nicht als Reiseland gesehen wurde. In mehreren Beiträgen wird darauf hingewiesen, dass man einen „orts- und sprachkundigen Begleiter“ brauche (z.B. um Kunstausstellungen in Kaufhäusern zu besuchen, S. 51). Die Leserschaft bestand vor allem aus Geschäftsreisenden, wohl fast ausschließlich aus Männern, die für einige Tage nach Tōkyō kamen. Mehrmals werden die hohen Bewirtungskosten am Abend erwähnt, die in japanischen Firmen als Spesen ausgegeben werden (z.B. von Kita Morio: „Was vom Geist des Asobi blieb“, S. 82). Reiseanzeigen lenken den Blick vor allem auf interessante Möglichkeiten des Stopovers während der Anreise. Generell richtet sich die Werbung an Wohlhabende: für Wein und Sekt mit Fotos gut situierter Paare, die sich offenbar angeregt unterhalten; eine Anzeige eines internationalen Töchterinstituts in Neuchâtel zur Ausbildung in Englisch, Französisch, Allgemeinbildung, Sport, Musik und Handelsfächern.
01.-04. 1970/71 in Tōkyō
Grundlegendes wird erklärt, so zum Beispiel die Aussprache des Wortes „Tōkyō“: nicht in den drei Silben „To – ki – o“, wie die Schreibung im Deutschen es nahelegen würde. Es gibt Hinweise auf die „Andersartigkeit, die alles durchdringt“, und darauf, dass nichts „mit unseren Anschauungen zu beurteilen ist“ (S. 3). Der Begriff „Bonsai“ und die Aussprache des Wortes „Pachinko“ werden erklärt (S. 76, 82).
Das Heft enthält 18 Beiträge, die sich einer der drei Kategorien zuordnen lassen:
- Auffällig viele Beiträge stammen von japanischen Autorinnen und Autoren, die zum Teil über Auslandserfahrung verfügten und die Situation in Tōkyō für Außenstehende anschaulich beschreiben: Inoue Yasushi über die Geschichte von Tōkyō, Kaikō Takeshi über die Zuwanderung aus ländlichen Gebieten, Kawabata Yasunari über den Wiederaufbau nach dem Großen Erdbeben, Hasegawa Akiko über die Stellung der Frauen in der Gesellschaft, Kashiwabara Hyōzō über die Parks von Tōkyō, Kita Morio über die Unterhaltungsindustrie.
- Andere Artikel stammen von Ausländerinnen und Ausländern, zum Teil mit außergewöhnlichen Lebensläufen, die aufgrund ihres Berufes in Tōkyō bzw. Asien lebten und damit zur damaligen Zeit noch eine Ausnahme darstellten. Sie liefern Insider-Blicke, vor allem in die Geschäftswelt und zum Teil sehr fundierte Beiträge und gute Beobachtungen, z.B. William Lange über das Leben im Stadtteil Ginza (S. 14-21), Klaus W. Bender über Konzern- bzw. Wirtschaftsstrukturen (S. 29-33), Joseph Roggendorf über Studentenunruhen („Konservativ und rebellisch“, S. 40-41), Irmtraud Schaarschmidt-Richter über die Pläne der Präfekturregierung von Tōkyō zur Stadtentwicklung (S. 72-75).
- Dazwischen finden sich einzelne exotisierende (Reise)Berichte voller Klischees (z. B. Peter W. Crome: „Höflichkeit und was dahintersteckt“, Heinz Eb. Mueller: „Gesottene Affen und Schlangenblut. Kulinarisches Tokio“, Anaïs Nin: „Ein Blatt aus meinem Reisetagebuch“).
Bei den Beiträgen handelt es sich vor allem um Beschreibungen der Situation, in der sich Tōkyō damals befand. Die Berichte gehen kaum in die Tiefe, auch nicht geschichtlich. Es fehlt eine Tabelle der historischen Epochen. Andere Landesteile Japans sind noch kein Thema.
05. Der berühmte Schriftsteller Mishima Yukio marschierte am 25. November 1970 mit Gleichgesinnten zum Gebäude der Selbstverteidigungs-Streitkräfte in Tōkyō, hielt auf dem Balkon des Gebäudes eine Ansprache und beging kurz danach rituellen Selbstmord. Der Vorfall wird in zwei Beiträgen des Heftes kurz gestreift.
06.-07. 1971 in Tōkyō
1980 – Japankundige erklären verschiedene Aspekte des Landes
1980 erschien ein fast wissenschaftliches Heft: Die Themen sind vielfältiger, die einzelnen Artikel länger, das Heft ist umfangreicher (140 Seiten), hat aber auch mehr Werbung. Kurzdarstellungen und Übersichtsartikel wechseln sich mit ausführlichen Beiträgen ab, alles in allem fundierte Abhandlungen zu Themen, die heute noch relevant und aktuell sind. Es geht in diesem Heft nicht darum, die Andersartigkeit Japans als Eindruck von außen zu beschreiben, sondern die Situation und vor allem die Verhaltensweisen urteils- und wertfrei einzuordnen und zu erklären. Die Beiträge stammen vor allem von Japanologinnen und Japanologen, das Heft ist mit einer vergleichsweise ausführlichen Liste weiterführender Literatur ausgestattet.
Der erste Hauptartikel behandelt die Haltung europäischer Staaten gegenüber Japan und Japans Position in der Staatengemeinschaft: „Meisterschüler des Westens, heute Lehrmeister der Welt“ von Gerhard Dambmann (S. 11, 18, 26). In dem Artikel erwähnt der Autor nicht nur die in Europa gängigen Klischees über Japan, sondern auch die in Japan damals äußerst verbreiteten und beliebten Nationalcharakterstudien (Nihonjinron): die Suche des Besonderen Japans und der Japaner/innen, sei es körperlich, seelisch, geistig, kulturell, sozial – damals gefüttert und angestachelt von dem atemberaubenden wirtschaftlichen Aufstieg.
Klaus W. Bender richtet in seinem Beitrag „Die Effizienz des Wohlwollens“ (S. 35-39) den Blick auf die Bedingungen der Zusammenarbeit in japanischen Großfirmen: Verbundenheit durch lebenslange Beschäftigung, Familienstrukturen in Unternehmen, Loyalität und Verbesserungswesen.
Zugleich öffnen sich Themen in einer zuvor nicht gebotenen Bandbreite:
- zur Geologie: sehr ausführlich von einem Geophysiker über Vulkanismus (Horst Rademacher, S. 68-76);
- zur kulturellen Tradition: über die Religionen (Ernst Lokowandt: „Undogmatisch und diesseitsbezogen: Religionen in Japan“, S. 47-50); zu Schulen und Stilrichtungen im Farbholzschnitt (Franz Winzinger, S. 52-57); zu klassischen Theaterformen (Oscar Benl, S. 105 und 108);
- zur Sprache und Kultur: über Sprache (Bruno Lewin, S. 100-102); zu Ästhetik in Kunst und Alltag (Irmtraud Schaarschmidt-Richter, S. 60-61 und 67); kurz über den japanischen Film, der damals in seiner Bandbreite in Europa noch weitgehend unbekannt war (Luise Crome, S. 112 und 114) – Manga sind noch kein Thema;
- zu Politik und Gesellschaft: über Burakumin (Hubertus Kanus: „Unter dem Joch der Tradition“, S. 41-42); über Ainu (Horst M. Bronny, S: 120-123); kurz über Politik (Manfred Pohl); über die Rolle und Funktion des Tennō (Peter Crome); über die Rolle der Frauen in der Gesellschaft (Renate Herold, S. 116-117);
Beeindruckend ist der Erinnerungsbericht von Helmut Erlinghagen, der den Atombombenabwurf in der Nähe von Hiroshima überlebte („Hiroshima: Die Bombe, der Friede, das Problem“, S. 78 und 82).
08.-09. Der alles beherrschende Eindruck von 1980, mit dem das Heft auch eröffnet wurde, war die überraschend starke wirtschaftliche Entwicklung Japans.
08. Ein Desktop-Computer für die Textverarbeitung aus den 1970er bis 1980er Jahren
09. Schweißroboter
1992 – Das distanzierte Abenteuer der Erstaunten
Das Magazin von 1992 eröffnet mit „Zwölf Regeln für Japan“, streng formulierten, überraschend klaren Anweisungen zum guten Umgang. Das lässt darauf schließen, dass man bei der Konzeption dieses Heftes von einer neuen Situation ausging: Nach Japan reisten inzwischen deutlich mehr europäische Gäste als zuvor. Zugleich nimmt der Ton der „Regeln“ die Grundstimmung vieler Beiträge der Ausgabe vorweg. Ein Teil hat universelle Gültigkeit für jeden Ort der Welt: „Phonstarke Auseinandersetzungen bringen nichts, das Pochen auf sein gutes Recht noch weniger.“ Ein anderer Teil soll offensichtlich auf einen versteckten, tieferliegenden Charakter der Gastgeber vorbereiten: „Mitmenschlichkeit und Generosität finden sich selbstverständlich auch hier, dem Fremden gegenüber aber eher als Mittel zum Zweck.“ Oder: „Sie werden sich wundern, wie rüpelhaft, egoistisch und kalt die Japaner sein können, die man sonst ausgesuchter Höflichkeit rühmt. Höflichkeit dient dazu, den enormen Druck der Gruppe abzufedern. Erst wenn man als Kunde oder Gast ein ‚Gesicht‘ gewonnen hat und ‚dazu‘gehört, darf man Umgangsformen erwarten.“ (S. 7, alle Zitate von Helmut Becker, der damals schon fast 20 Jahre lang als Korrespondent in Tōkyō lebte).
Die Hauptbeiträge des Heftes liegen sowohl in der Qualität wie auch in ihrem Charakter weit auseinander. Sie stammen alle – auch der Beitrag über die Rolle der Frau in der Gesellschaft – von ausschließlich (!) männlichen Journalisten und Reiseschriftstellern, von denen einige keinen oder kaum einen Bezug zu Japan hatten. Manche Formulierungen legen außerdem nahe, dass die Autoren eine eher distanzierte Grundhaltung zu Japan hatten.
Sie lasen zur Vorbereitung Bücher und reisten im Auftrag von „Merian“ nach Japan. Die konkreten Vorbereitungen vor Ort wurden von Sendern, Verlagen oder Pressehäusern getroffen: Begleitpersonen und Dolmetscher/innen gebucht, Interviews arrangiert, Zugang zu Persönlichkeiten aus den verschiedenen Lebensbereichen gewährt. Die Autoren bauten das Gelesene in ihre Texte ein. Ihre Beobachtungen vor Ort sind zum Teil durchaus genau, die meisten Beiträge sind aber trotzdem Beschreibungen, die an der Oberfläche hängen bleiben, vergleichbar mit dem Abtasten einer Kulisse (z.B. Klaus Harpprecht über Tōkyō, S. 41 und 45-50).
10. Tōkyō: Eine Kulisse zum Staunen.
Immer wieder gibt es Fehler in der Umschrift japanischer Begriffe (allein auf S. 69: „mikudarinan“ statt mikudarihan für den Scheidungsbrief der Edo-Zeit; „keizai doykai“ statt keizai dōyūkai für einen Verband von Führungskräften in der Wirtschaft). Zu den vielen erstaunten bis ratlosen Eindrücken gehört immer die elementare Erfahrung, sich nicht verständigen zu können und – noch schlimmer – Analphabet zu sein. Besonders befremdlich wirkt das in einem Beitrag von Gert Heidenreich über die Insel Kyūshū, in dem er mehr als einmal erwähnt, wie schwierig es sei, einen Zielort zu finden, wenn man die Schriftzeichen nicht lesen könne, zugleich aber seinen Beitrag mit japanischen Sprichwörtern in Hepburn-Umschrift und in deutscher Übersetzung schmückt (S. 124-130).
Es gibt im Heft drei hervorragende Beiträge, die herausstechen. Im direkten Vergleich mit den anderen Beiträgen wird deutlich, was ihre Qualität ausmacht. Ich beschreibe sie unten im letzten Abschnitt.
Einige Themen, die damals in Japan von zentraler Bedeutung waren, wurden im Heft nicht aufgegriffen: das Bestreben nach „Internationalisierung“ (kokusaika), das in Japan damals alle Lebensbereiche durchdrang; das Verhältnis zu den im Land lebenden Koreanerinnen und Koreanern; der bis dato enorme, allerdings bedrohte Wohlstand der Angestellten und ihrer Familien. Die Abhandlung über Mitsubishi von Helmut Becker („Im Zeichen der Diamanten“, 84-87) erwähnt den Kurssturz an den Börsen nicht. Auch der futuristische Entwurf „Nippon-topia“ von Meinolf Ellers (S. 108-110) erzählt noch von gigantischen Zukunftsprojekten, obwohl damals schon vieles ins Stocken geraten war. Nur ein Artikel, fast am Ende des Magazins, weist in einem Abschnitt darauf hin, dass die Börsenkurse und Grundstückspreise enorm gefallen waren (S. 150).
2001 – Lifestyle im Urlaubsland
Während der 1990er Jahre stieg das Wissen über Japan in Europa enorm an. Es gab zunehmend Veröffentlichungen auch zum modernen Japan, durch Übersetzungen von Werken japanischer Autorinnen und Autoren wurde die Literatur des Landes für das europäische Lesepublikum Schritt für Schritt erschlossen. Reiseliteratur führte – nicht mehr nur auf Englisch, inzwischen auch auf Deutsch – in die entlegensten Gebiete, Japan war als Urlaubsland zunehmend angesagt.
Die Beiträge des „Merian“-Hefts sind nun keine großen Überblicksartikel mehr, sondern konzentrieren sich auf speziellere Themen, und die Zeitschrift erinnert eher an ein Lifestyle-Magazin (zum Beispiel: „Shopping: Die Lust am Luxus“, „Zeit für Tee“ oder „Im Comic-Kosmos“). Die einzelnen Artikel haben im Anhang spezielle Tipps, sei es zum Essengehen, zum Einkauf von Kunsthandwerk oder zur Teilnahme an einer Teezeremonie.
Die Beiträge stammen von Essayisten, (Reise)Schriftstellern und Journalisten, die längere Zeit in Japan lebten. Inhaltlich nähern sie sich dem japanischen Alltag. Sie zeigen neue Landstriche, wie den Norden Japans (André Kunz: „Wo die Geister wohnen“, S. 85-90), berichten zum ersten Mal über Manga (Ruedi Leuthold: „Im Comic-Kosmos“, S. 94-95 und 99-101) oder über Roboter-Haustiere (Reto U. Schneider: „Roboter zum Liebhaben“; S. 102 und 105-108)
11. Im 8. Stockwerk des Tokyu Plaza Ginza
Durchgängige Themen
Interessant ist zu beobachten, zu welchem Zeitpunkt Themen zum ersten Mal aufgegriffen wurden und wie konstant die meisten von ihnen behandelt werden. Zu ihnen zählen:
Die rasante Entwicklung Tōkyōs
Immer wieder wird auf das Wachstum von Tōkyō verwiesen, entweder mit positivem oder negativem Beigeschmack.
Schon das Magazin von 1972 weist auf die stete tiefgreifende Veränderung hin: „Tokio, das bedeutet Spannung und Entspannung zugleich.“ (S. 3). Bewundert wird der Mut, den man in Tōkyō hat, immer wieder neu zu beginnen: „Dynamik und Tempo gehören zu seinem Temperament. Das sind Leidenschaften, die auch häßliche Züge schön machen.“ (S. 7)
1980 bezeichnet Peter Krebs Tōkyō als „Moloch mit menschlichen Zügen“ (S. 28-32), Chaos, Ausmaß, Schnelllebigkeit im Wandel der Stadt. Er zeigt die Kraft der Bewohner/innen: „Ihre Menschen sind entschlossen, das Stadtungeheuer zu zähmen, sich im Chaos wohnlich einzurichten, miteinander und nicht gegeneinander zu leben“ (S. 32) und kommt zu einem positiven Fazit: das einzig Gefährliche für Tōkyō sei ein großes Erdbeben.
Kawabata Yasunari beschreibt den schnellen Stadtumbau nach dem Großen Erdbeben von 1923: Er gibt einen Eindruck davon, wie sich die Stadt vom Wasser abwandte, indem Flussufer bebaut und Kanäle unterirdisch verlegt wurden: nur der Geruch der Flut und das Gekreische der Möwen sei noch da (S. 56).
Auch 1992 und 2001 geht es um die atemberaubende Schnelllebigkeit und den Veränderungswillen der Stadt (1992: Klaus Harpprecht: „Oh Tokio“; 2001: Uwe Schmitt: „Tokio – Stadt ohne Plan“).
12. Panorama von Tōkyō
Die Umweltverschmutzung
Eng verbunden mit der industriellen Entwicklung und der Ausdehnung der Ballungsgebiete war die Problematik der Umweltverschmutzung.
1972 thematisieren Fotos die Umwelt. Luft- und Wasserverschmutzung, Lärm und Vibration in den Städten wurden in einem Beitrag von Irmtraud Schaarschmidt-Richter behandelt (S. 75).
In der Ausgabe von 1980 ist das Inhaltsverzeichnis über vier nach rechts und links hin aufklappbare Seiten angelegt. Das Hintergrundmotiv ist ein Panorama von Tōkyō im Smog (S. 5-8). Mehrmals wird die Messgröße der Verschmutzung erwähnt: an wie vielen Tagen der Berg Fuji von der Stadt aus zu sehen ist (1976: an 40 Tagen; 1980, nach Verbesserungen der Luftqualität: an 140 Tagen, S. 31).
1992 schreibt Tina Stadlmayer über Müllflut und Walfang (S. 156-157).
13. Dicke Luft über Tōkyō
Die Rolle der Frauen – und die Geisha
In den ersten beiden Ausgaben werden der Rolle der Frauen längere Beiträge gewidmet. 1972 erklärte Hasegawa Akiko, damals als Gutachterin und Eheberaterin am Familiengericht Tōkyō tätig, die verbesserte Stellung der Frau aufgrund der Gesetzeslage seit 1947, die eine Scheidung auch seitens der Frau möglich machte (S. 69-70, „Gleiches Recht für Mann und Frau“).
Immer wieder spielte das Bild der Geisha eine Rolle:
Auf dem Titelbild des Heftes von 1972 ist das Portrait einer hübschen Geisha-Anwärterin (Maiko) zu sehen; die Frisur, der Haarschmuck und der geweißte Nacken am Kimono-Kragen kommen zur Geltung.
1980 werden auf einer der ersten Panorama-Seiten, die zur Einstimmung am Heftanfang stehen, Geisha wie Puppen in einem dunklen Raum gezeigt (S. 16-18).
1992 ziert erneut eine Geisha das Titelbild, dieses Mal tatsächlich ungewohnt, wohl in dem Versuch, die Sehgewohnheiten zu brechen: die Frau lacht – und ist auf der Intro-Seite zu sehen, wie sie neben dem Fotografen steht, ihm die Arme um die Schultern legt und einen Kuss auf die Wange drückt.
14. Sinnbild der Exotik: Maiko in Kyōto.
Die exotische Küche
Auch japanische Speisen durften in keiner Ausgabe fehlen. Wie oben schon erwähnt ist die Exotisierung 1972 mit „Gesottene Affen und Schlangenblut“ (S. 49) nicht zu überbieten, 1980 waren die Erklärungen zu den Speisen schon differenzierter, aber immer noch befremdlich. 1992 gab es drei Seiten unter der Überschrift „Sushi, Sake und Sashimi“, S. 138-140). 2001 war die japanische Küche in Übersee weitgehend bekannt, außer dem giftigen Fugu gab es kaum noch von Außergewöhnlichem zu berichten (S. 8; siehe dazu den Beitrag zur Übertragung von Speisen in fremde Kulturen).
15. Japanische Speisen
Die Reisemagazine sind auch und gerade nach Jahrzehnten noch lesenswert, denn …
… sie zeigen generelle Sehgewohnheiten auf, die sich über die Jahrzehnte verändern.
Es ist interessant: die Titelgestaltung, das Layout, der Satzspiegel, der Schrifttyp, die Gestaltung der Werbung der Hefte – alles ist einem Wandel unterworfen, der erst im Rückblick deutlich wahrnehmbar ist. Die Fotos haben eine zunehmend höhere Auflösung, werden immer spektakulärer und farbenprächtiger, so dass die Aufnahmen in Schwarzweiß aus dem Heft von 1970 für unsere Bild verwöhnten Augen schon wieder eine ganz besondere Ästhetik aufweisen.
… sie zeigen, wie beständig literarische Texte sind.
Die Ausgabe von 1970 enthält beispielsweise die Erzählung „Die Brückenprobe“ von Mishima Yukio (S. 95-98, übersetzt von Siegfried Schaarschmidt). Sie liefert nicht nur eine Beschreibung der Straßenzüge des Ginza-Viertels bei Nacht, sondern auch ein beeindruckendes Psychogramm von Freundinnen, die sich durch eine Mutprobe geheime Wünsche erfüllen möchten.
… sie sind ein Spiegel der Wahrnehmung eines anderen Landes.
Das Heft von 1972 versucht eine Annäherung an ein Land, das als „nicht-westliches“ Land in einem unbeschreiblichen wirtschaftlichen Aufstieg begriffen war: 1964 hatten die Olympischen Spiele in Tōkyō stattgefunden, die Shinkansen-Linien und neue Autobahnen waren gebaut worden, 1970 war die Expo in Ōsaka abgehalten worden, im Februar 1972 die Olympischen Winterspiele in Sapporo. Es herrschte große Neugier auf das Land in Ostasien.
1980 war Japan zum wirtschaftlichen Angstgegner geworden. Der scheinbar nicht zu bremsende Aufstieg befeuerte die Suche nach dem Geheimnis, das hinter dem Erfolg steckte. Der Titel des Eröffnungsbeitrags im „Merian“-Heft – „Zeit, von Japan zu lernen?“ – veranschaulicht diese Verunsicherung.
In diesem „Merian“-Heft wurden zum ersten Mal auch in Japan hergestellte Produkte beworben: Kameras und Filmmaterial (Agfacolor / aus Japan: Nikon, Pentax), Automobile der Luxusklasse (BMW, Volvo / aus Japan: Toyota Crown), Unterhaltungselektronik (Blaupunkt / aus Japan: Panasonic). Daneben gab es erste Reiseangebote für Japan (Fluglinie JAL, Studiosus Studienreisen, Karawane Studien-Reisen, Hotel Okura in Tōkyō) und erste Anzeigen für japanische Kunstobjekte von Kunsthändlern und Galerien.
1992 waren japanische Unterhaltungselektronik, Autos und Motorräder weltweit bekannt. Das Land galt als Elektro-Gigant, doch die wirtschaftliche Überhitzung hatte ihr Ende gefunden. Das „Merian“-Heft aus diesem Jahr spiegelt die (an vielen Stellen naive) Überraschung über den schnellen Aufstieg eines Landes in einem Kulturraum, in dem vieles so ganz anders zu funktionieren schien als in den Ländern, die sich bis dato zu Industriestaaten entwickelt hatten.
Knapp zehn Jahre später, 2001, setzten die thematisch viel breiter angelegten Berichte ein weitaus größeres Vorwissen seitens der Leserinnen und Leser voraus. Viele Reisende hatten inzwischen das Land besucht. Am leichtesten abzulesen ist dies an den japanischen Begriffen, die zur Selbstverständlichkeit wurden.
… sie stellen damit die Frage nach einer angemessenen Berichterstattung über ein fremdes Land.
Wer sollte über ein fernes Land berichten? Einheimische oder Fachleute, Journalist/innen oder Reiseschriftsteller/innen?
Tatsächlich hat jeder Blickwinkel seine Vorzüge – unter der Voraussetzung, dass die Person fundiertes Wissen über das Land besitzt, ihrem Beschreibungsgegenstand eine gewisse Neugier entgegenbringt und sich ihrer Rolle als Vermittler/in bewusst ist.
Beeindruckende Beispiele in diesen vier Heften sind:
Als Einheimischer lieferte der Literat Kaikō Takeshi 1972 eine bildhafte Bestandsaufnahme, verglich Tōkyō mit einer „riesigen Amöbe. Wo man sie reizt, da breitet sie sich aus.“ – „Tokio hat seinen Rachen aufgesperrt“, wie „eine Pumpe mit einem unersättlichen Heißhunger“ verschlingt die Stadt die Arbeitskräfte vom Land, saugt „jeden Muskel aus den Dörfern im ganzen Land.“ (alle Zitate: S. 24). Sie alle wurden ausgespuckt am Ueno-Bahnhof, damals Endbahnhof und Ankunftsort derjenigen, die aus dem Norden zum ersten Mal in Tōkyō landeten (S. 22-24).
In seinem Beitrag „Land hinter den Spiegeln“ machte sich der langjährige Japan-Korrespondent Uwe Schmitt 1992 Gedanken über die gegenseitigen Erwartungshaltungen und Enttäuschungen von Japaner/innen und Deutschen: Japan – „im ewigen Eis der Exotik“ (S. 30-33).
Der Kunstkritiker Wolfgang Zinggl schuf ein wunderbares Portrait von Hokusai (1992, S. 99-100): von der Unruhe des genialen Künstlers, seiner Neugier, seinem Hunger auf Neues, seiner rastlosen Schöpferkraft.
Im selben Jahr beschrieb der Reiseschriftsteller Cees Nooteboom in „Endlose Kreise“ auf grandiose Weise seine Eindrücke von Kyōto (S. 53-60). Er verwob seine Beobachtungen mit seiner Lektüre der Schriften von Sei Shōnagon und Murasaki Shikibu, Hofdamen, die vor eintausend Jahren am Kaiserpalast in Kyōto lebten. Nooteboom, der schon öfters nach Japan gereist war, vermischte seine früheren Eindrücke mit seinen Reflektionen über das Unterwegssein: Er ist sich seiner Rolle und seiner Erwartungen als Reisender bewusst.
Solche beeindruckenden Beschreibungen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln sind auch nach Jahrzehnten noch unbedingt lesenswert, denn sie rütteln aus der aktuell gängigen, gewohnten Wahrnehmung eines Landes auf.
Susanne Phillipps
21.12.2024 (Ausgabe 17)
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