Auch Speisen müssen übersetzt werden

Jahrbuch für Kulinaristik, Cola-Flasche, Flasche Soja-Sauce, Tablett mit zwei Sushi, Stäbchen auf Ablage

Der globalisierte Gaumen – Ostasiens Küchen auf Reisen. In: Jahrbuch für Kulinaristik, Band 2 (2018) München: iudicium 2018. Herausgegeben von Irmela Hijiya-Kirschnereit.

Im 17. und 18. Jahrhundert weigerten sich viele Bauern in Europa, Kartoffeln anzubauen. Reisende hatten die noch unbekannte Knolle über verschiedene Wege aus Südamerika mitgebracht. Heute ist die Kartoffel als Grundnahrungsmittel aus heimischen Gerichten nicht mehr wegzudenken.

– Oder ein weiteres Beispiel: Schwarzweiß-Aufnahmen der 1950er Jahre zeigen, wie sich die ersten deutschen Urlauberinnen und Urlauber in Italien beim Spaghetti-Essen in gespielter Verzweiflung noch mit der Schere behalfen.

Nur wenige Jahrzehnte später versammelte eine Mutter in der Werbung mit dem Ruf „Mirácoli ist fertig!“ die begeisterte Familie zu Spaghetti mit Tomatensauce um den Esstisch. Die mediterrane Küche war Teil des deutschen Alltags geworden.

Vollkommen abwegig war es damals allerdings noch, rohen Fisch auf essiggesäuertem Reis mit getrocknetem Seetang zu essen. Inzwischen liegen Sushi-Pakete in den Kühlregalen deutscher Supermärkte. Und immer noch gibt es vieles, das uns fremd ist: Frittierte Heuschrecken, Desserts mit Mehlwürmern oder Insektenburger sind nur einige Beispiele.

Geöffnetes Päckchen Mirácoli, die vier getrennt abgepackten Bestandteile gut sichtbar nebeneinander gelegt: Gewürzmischung, Hartkäse, Spaghetti, Tomatensauce.

01. Italienische Küche als Fertiggericht in Deutschland: Spaghetti mit Tomatensauce, Gewürzmischung und Hartkäse.

Lebensmittel auf globaler Wanderschaft

Schon immer sind mit den Menschen auch ihre Speisen auf Wanderschaft, Kulinarisches zieht seit Jahrtausenden, verstärkt seit Jahrhunderten über den Globus. Zucker, Kaffee oder Tee sind beispielweise schon lange Teil eines großen Netzwerks (Maren Möhring, S. 33).

Betriebslabor der Zuckerindustrie, um 1950: ehemaliger Labortisch mit allerlei Glasgefäßen und elektrischen Geräten

02. Jahrhunderte basierte der globale Transfer von Lebensmittel vor allem auf dem Kolonialismus.

Museumsausstellungen in den Herkunfts- und den Zielländern präsentieren das seit langem. So wurde 1904 das Zuckermuseum in Berlin gegründet, heute ist es Teil des Deutschen Technikmuseums. Die Präsentation konzentrierte sich auf die technische Verarbeitung (hier: ein Betriebslabor der Zuckerindustrie um 1950). 

Einen ganz anderen Stellenwert hat der Zucker in den Herkunftsländern: Museen über Zuckerrohr, zum Beispiel auf Mauritius (L’Aventure du sucre) oder auf La Réunion (Le musée de la canne à sucre) zeigen die Arbeitswelt in der Sklaverei und leiten die heutige Identität der Inselbewohner aus diesen über Generationen tradierten Arbeitserfahrungen ab.

Das Jahrbuch für Kulinaristik

Das Jahrbuch für Kulinaristik mit knapp 560 Seiten ist in vier Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel, „Der globalisierte Gaumen. Ostasiens Küche auf Reisen“, macht mit 380 Seiten zwei Drittel und damit den Schwerpunkt des Bandes aus – von ihm soll hier die Rede sein. Die meisten Aufsätze sind aus einer Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin im WS 2017/18 hervorgegangen.

Sie erzählen von den Bedingungen, unter denen bestimmte kulinarische Transfers stattfanden, umfassen theoretische Überlegungen genauso wie konkrete Beispiele aus verschiedenen ostasiatischen Ländern. Stilistisch bieten die Aufsätze eine bunte Mischung: Neben wissenschaftlichen Aufsätzen mit bibliografischen Angaben reihen sich Berichte über die berufliche Praxis und Essays zu persönlichen Erfahrungen – mit hohem Wiedererkennungswert für Zeitzeugen. Einige Beiträge sind mit informativen Abbildungen unterlegt.

Im Momofuku Ando Instant Ramen Museum: eine über 2 Meter großer Becher Instant-Nudelsuppe. Der Deckel ist halb geöffnet, ein Teil des Bechers ist durchsichtig, so dass man darin riesige Nudeln und Beilagen in der Suppe schwimmen sieht.

03. Speisen sind ständig auf Reisen. Nudeln kamen ursprünglich aus China nach Japan. Der taiwanesisch-japanische Erfinder Andō Momofuku brachte 1958 mit seiner Firma Nissin die ersten modernen Instantnudeln auf den japanischen Markt. Inzwischen eroberte das Fertiggericht die Welt.

Hier eine Foto vom Instant Ramen Museum in Ōsaka.

Die Instantnudeln sind vorgekocht und getrocknet und werden mit Aromapulver und anderen Zutaten in einem Becher verkauft. Zum Verzehr müssen sie nur mit kochendem Wasser übergossen werden.

Eine annotierte Auswahlbibliografie neuerer kulinaristischer Studien zu Ost- und Südostasien und eine Übersicht über aktuelle Forschungsvorhaben an den Universitäten erschließen den momentanen Forschungsstand.

Das letzte Drittel des Bandes teilen sich Beiträge zu den Themen „Kulinaristik und Ökologie“, „Das Gericht“ und „Varia“.

Über diesen Link geht es zum Inhaltsverzeichnis mit allen Beiträgen des Jahrbuchs für Kulinaristik.

Kulinaristik: Theoretische Grundlagen

In den Kulturwissenschaften sind Forschungsfragen zu Esskulturen schon länger präsent, an der Zahl der Tagungen und Veröffentlichungen ist abzulesen: besonders stark seit den 2000er Jahren. Es ist ein Forschungsfeld, auf dem mehrere Disziplinen zusammenkommen und das auch die Nähe zur Praxis sucht.

Wie im Titel angekündigt, haben die Beiträge des Jahrbuchs die gegenseitige Einflussnahme der Esskulturen zum Thema. Dazu gehören mehrere Themenfelder, die sich immer wieder gegenseitig berühren – und weil sie alles andere als klar voneinander abgrenzbar sind, müssen die folgenden Begriffe in Anführungsstrichen gedacht werden: das Eigene; das Fremde, das zum Eigenen wird; der Re-Import des in der Fremde umgeformten, ursprünglich Eigenen.

Tisch mit verschiedenen Tellern voller Wachsmodelle von Speisen: Sushi, gebratenes und rohes Fleisch, Salate, Eintopf.

04. Da Speisen sehr anschaulich sind, wird die Lebenswelt einer Region in Ausstellungen häufig über deren Mahlzeiten dargestellt. So erläutert das Auswanderermuseum (Japanese Overseas Migration Museum) in Yokohama die Lebensgewohnheiten von Japanerinnen und Japanern, die nach Südamerika emigrierten, anhand eines Tischs mit Wachsmodellen von Speisen. Die Mahlzeit ist ein Gemisch von Gerichten aus der neuen und der alten Heimat (Foto von 2009).

Neben Soziologinnen und Soziologen sind viele Literaturwissenschaftler/innen in den Food Studies aktiv, und das ist nicht überraschend. Zum einen stoßen sie in der japanischen Literatur oft auf Speisen, denn in Erzählungen steht das Essen häufig für die Stimmungslage oder das Verhältnis der Figuren untereinander. Außerdem veröffentlichen japanische Autorinnen und Autoren, die oft selbst begeisterte Gourmets sind, nicht selten Bücher zum Thema Essen. Es herrscht also eine enge Verbindung zwischen dem Schreiben und dem Essen.

Aufwendig zubereitetes Bentō in der Form zweier Panda-Bären.

05. Essen als Zeichen der Beziehung: Bentō sind oft ein Ausdruck der Verbundenheit zwischen der Köchin und dem Bekochten. Yoko Hiramatsu weist auf die Problematik der meist von Frauen geleisteten, unbezahlten Arbeit beim Herstellen der sehr aufwendigen kyaraben hin (S. 87).

Aufwendig zubereitetes Bentō in Form eines Eisbären.

06. Der Begriff „kyaraben“ setzt sich aus den ersten Silben der beiden Wörter „character“ und „bentō“ zusammen und bezeichnet ein Bentō, mit dessen Zutaten Figuren, wie ein Panda oder ein Bär dargestellt werden.

Zum anderen beschäftigt sich die Übersetzungswissenschaft schon lange mit Fragen des Transfers von Texten aus einer Ausgangs- in eine Zielkultur. Die Problematik beispielsweise, wie stark ein Ausgangstext geändert werden muss, um in der Zielkultur verständlich zu sein, welche Begriffe beibehalten werden können, wie viele Anmerkungen oder Erklärungen er benötigt, um die Leser/innen weder zu über- noch zu unterfordern, sind Kernfragen, die genauso auf die Übertragung von anderen Kulturprodukten zu bedenken sind, seien es Manga, Filme oder eben Speisen.

Es ist ein dynamischer Prozess, und dies ist einer der Gründe, warum Romane immer wieder neu übersetzt werden: Begriffe wie „Sushi“, „Kimono“ oder „Tatami“ müssen heute nicht mehr erklärend umschrieben werden, das deutsche Publikum hat in den letzten Jahrzehnten die japanische Kultur besser kennenlernt.

Zur Beschreibung von Globalisierungsprozessen nutzen die meisten Autorinnen und Autoren des Jahrbuchs den Ansatz des Anthropologen und Kulturtheoretikers Arjun Appadurai. Er unterscheidet mehrere Dimensionen, die bei Kulturtransfers zusammenwirken (Anm. 01):

  • die Migration der Menschen (ethnoscapes);
  • die Medienlandschaften, die das Bild über die Welt prägen (mediascapes);
  • die weltweiten Technologien (technoscapes);
  • die Finanzlandschaften (finanscapes);
  • die weltweite Verbreitung von Ideen/ Ideologien (ideoscapes).
Front des FamilyMart at 339 E. 1st Street in Little Tokyo, Los Angeles.

07. Ein Laden der japanischen Handelskette FamilyMart in Little Tokyo, Los Angeles. Little Tokyo ist das kulturelle Zentrum der japanischstämmigen Bevölkerung im südlichen Kalifornien.

Diese Ebenen lassen sich bei der Untersuchung der Transfers von Geschmackskulturen anwenden, wie Maren Möhring an Beispielen ausführt (S. 32): Reise und Migration (ethnoscapes), massenmediale Verbreitung kulinarischen Wissens (media- und ideoscapes), Transport- und Gefriertechniken (technoscapes), große Lebensmittelkonzerne und kleine Gastronomiebetriebe (finanscapes).

Eine riesige Neonreklame in Ōsaka mit dem so genannten Glico Running Man: oben der Schriftzug oishisa to kenkō („Wohlgeschmack und Gesundheit“) – Glico; darunter der Athlet in weiß vor einem großen roten Punkt im blauen Hintergrund.

08. Konzerne wie Glico bringen Zutaten und Fertiggerichte, Süßigkeiten und Knabbereien inzwischen auch nach Übersee – wie die Schokostäbchen „Mikado“. Glico hat seinen Hauptsitz in Ōsaka. Seit über 80 Jahren pulsiert die Werbetafel mit dem Athleten in Ōsakas Einkaufs- und Unterhaltungsmeile Dōtonbori.

Zentrale Fragestellungen

Bei der Untersuchung von Globalisierungsprozessen stellen sich mehrere Fragen, die bei genauerem Blick gar nicht einfach zu beantworten sind. Dazu gehören:

  • die Festlegung, was das „Eigene“ definiert bzw. was eine Nationalküche ausmacht;
  • wann und wie neue Speisen in einer Zielkultur ankommen, ob sie als „authentisch“ gelten;
  • welche Bilder von Speisen entstehen, die im Ausland begeistert aufgenommen werden.
Blick auf eine Schale voll Suppe mit Nudeln, Fischfrikadellen, Frühlingszwiebeln, scharfem Senf und weiteren Zutaten

09. Manchmal ist die Herkunft einer Speise umstritten, wie bei Saimin, einer Nudelsuppe, die in Hawaii gegessen wird. Saimin entstand in den 1850er Jahren, als Feldarbeiter/innen aus verschiedenen Ländern, darunter China, Japan und Korea, auf die hawaiianische Inselkette einwanderten.

Die Definition des „Eigenen“

Speisen, die man seit der Kindheit kennt, die man sehr mag, von denen man weiß, wie und wann sie gegessen werden, machen einen wichtigen Teil der eigenen Identität aus. Dies ist sehr individuell, denn Esskulturen sind nicht nur regional unterschiedlich, sondern sie wandeln sich auch über die Zeit durch immer neue Zutaten.

Die gegenseitigen Einflüsse reichen vermutlich bis in die Anfänge der Menschheit zurück. So legten Archäologen bei Grabungen Jahrtausende alte Handelswege offen und zeigten mittels Materialen, Werkzeugen und Essensresten, dass die frühen Kulturen auch über weitere Distanzen in Kontakt standen (Peter Kupfer, S. 263).

Links die Verpackung eines Kasutera-Kuchens von Daigokuden, Kyōto, rechts zwei Kuchenstücke auf einem Teller.

10. Castella (Kasutera) ist eine beliebte Spezialität aus Nagasaki. Den „Kuchen aus Kastilien“ brachten die Portugiesen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach Japan. Hier ein Kuchen aus einem Geschäft in Kyōto.

Einen Blick in die neuere Geschichte präsentiert Jennifer Robertson (S. 240), die in ihrem Beitrag die Anfänge der in Japan heutzutage allgegenwärtigen Gesundheitskost und Energiedrinks aufspürt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts plante die japanische Regierung, das Land zur selbstbewussten Nation umzubauen, bevölkert von gesunden und starken Staatsbürger/innen.

Experten kritisierten den japanischen „Appetit auf ästhetische Details“ bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Nährwerte, z.B. den geringen Anteil an Vitaminen und Proteinen im japanischen Essen. Besonders problematisch war die Mode, weißen, polierten Reis zu essen, der den Vitaminmangel noch verschärfte.

Über Bewegung und gesunde Ernährung sollte Abhilfe geschaffen werden. Die Regierung setzte kulinarische Neuerungen unter anderem über die Versorgung der Soldaten durch, zum Beispiel bei Milch und Milchprodukten: Nach der Entlassung aus dem Wehrdienst blieben die Soldaten ihren Essgewohnheiten treu und trugen sie in die breite Bevölkerung.

Weiße Flaschen mit blauen Punkten und roter Aufschrift: Calpis Soda.

11. Calpis ist ein Softdrink auf Milchbasis. Firmen wie Calpis oder Yakult produzieren so genannte funktionelle Lebensmittel: Lebensmittel, die über die Ernährung hinaus physiologische Parameter positiv beeinflussen sollen. Der Werbespruch auf der Calpis-Flasche lautet: shiraku hajikeru oishisa – „weiß berstender Wohlgeschmack“.

Eine Filiale von Curry Ichiban’ya: schwarzer Schriftzug auf gelbem Grund, darüber große Abbildungen zweier Curry-Gerichte; der Eingang eine gläserne Schiebetür voller Poster und Schilder.

12. Eine weitere Speise, die den japanischen Alltag über Soldatenkost erreichte, ist Curryreis, heutzutage die Lieblingsspeise vieler japanischer Kinder. Der Curryreis schmeckt in allen Familien ein bisschen anders, da er mit unterschiedlichsten Zutaten nach eigenem Familienrezept zubereitet wird. Daneben gibt es Restaurant-Ketten, die in poppig aufgemachten Filialen Currygerichte anbieten.

Was macht eine „Nationalküche“ aus?

Wenn es nun schon immer neue Speisen aus der Fremde gab, zum Teil sogar Lebensmittel, die auf Wunsch der Regierung Teil des Alltags wurden – was macht eine Nationalküche dann überhaupt aus? Mehrere Beiträge gehen dieser Frage nach, denn das Formen einer Nationalküche hat mehrere Seiten: Zum einen gehen familiäre und regionale Traditionen in einem solchen Standardisierungsprozess verloren (Eun-Jeung Lee, S. 112), zugleich dient eine vereinheitlichte Küche der nationalen Identität und wird Teil von Diskursen zur Selbstbehauptung.

Dies kann so weit gehen, dass in vielen Ländern schon ein „kulinarischer Nationalismus“ zu beobachten ist (Irmela Hijiya-Kirschnereit, S. 160). Dieser äußert sich darin, dass für Nationalspeisen Gründungslegenden erfunden werden und ihnen besondere Heilkraft zugesprochen wird, wie dem koreanischen Bibimbap, das gegen Krebs helfen soll (Eun-Jeung Lee, S. 128).

In der Oberen Hälfte der Seite ein traditionelles Bild eines Banketts, in das ein heutiger Tourist hineingezeichnet ist. Darunter ein Foto von Bibimbap. „Communal dinig. The more the merrier“

13. Werbung der Korean Tourism Organization mit der Nationalspeise Bibimbap

Washoku

Damit stellt sich die Frage, wie japanisch die von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärte japanische Küche, washoku, eigentlich ist. Das Gericht besteht aus einem leichten Menu aus mehreren Gängen (kaiseki ryōri): eine Schale Reis mit verschiedenen Beilagen wie einer Brühe, eingelegtem Gemüse, Fisch, Meeresfrüchten oder Fleisch.

Wie Eric C. Rath (S. 90) feststellt, ist dies aber keine traditionelle Esskultur des Volkes, sondern ein eher durch Zufall aus der Geschichte herausgegriffenes Gericht, einstmals die Vorliebe der städtischen Elite, die von der Allgemeinheit im Alltag übernommen wurde.

Zudem macht er darauf aufmerksam, dass Japan nur beim Reis Selbstversorger ist, zwei Drittel der Ausgangsmaterialien dagegen entweder importiert sind, wie Sojabohnen aus den USA und Australien, oder, wie der Thunfisch, nicht küstennah gefischt werden.

Schwarzes Tablett mit rotem Löffel, Herbstblätter als Dekoration, Fleisch und Gemüse in einer schmalen, ovalen, weißen Schale, in einem geflochtenen Körbchen weitere Zutaten, in einem Glas eine Brühe mit Einlagen.

14. Eine traditionelle Speise präsentiert von einem japanischen Gasthof im Thermalquellenort Ōwani in Aomori

Die Übertragung in andere Kulturen

Ausländische Küchen erreichen ein Land oft über Gaststätten von Migrantenfamilien. Das Image von Nationalküchen im Ausland entspricht deshalb meist dem sozialen Status der Migrantengruppe, die die Speisen mitbringt. Die fremde Küche findet ihren Platz innerhalb der schon bestehenden kulinarischen Hierarchie und wird zum Knotenpunkt kulinarischer Transfers (Maren Möhring, S. 46).

James Farrer weist darauf hin, dass viele chinesische Familien in den 1980er Jahren ihre Heimat verließen, zu einer Zeit, als China noch ein vergleichsweise armes Land war. Im Ausland eröffneten sie preiswerte Gaststätten, und obwohl einige chinesische Restaurants in Tōkyō inzwischen mit Michelin-Sternen ausgezeichnet wurden, haben chinesische Speisen bis heute generell den Ruf, preiswerter und ungesünder zu sein (S. 197). Auch in Europa gelten chinesische Restaurants als Anbieter preiswerter Speisen von umfangreichen Buffets.

Blick auf Metallbehälter eines Buffets, darin: Pommes frites, Sauce, Fleischspieße, gebratenes Gemüse mit Kellen zur Selbstbedienung.

15. Blick auf das Buffet eines chinesischen Restaurants

Ganz im Gegensatz dazu betrat man in den 1980er Jahren eine exklusive Welt, wenn man in Deutschland in ein japanisches Restaurant eingeladen wurde. Die Speisen waren teuer, oft sehr teuer. Die in ihrer eigenen Ästhetik gestalteten Restaurants waren die Treffpunkte der Manager und Angestellten japanischer Konzerne und Banken, die sich in Europa niedergelassen hatten.

Im Vordergrund Holzplatte mit Sushi-Variationen, daneben eine weiße Kanne, vermutlich mit Shōyu. An der schwarzen Wand im Hintergrund ein weißer Schriftzug: „Feinkost Böhm Sushi-Ya“

16. Restaurant Feinkost Böhm Sushi-Ya in Stuttgart

Authentizität

You Kyung Byun stellt fest, dass „Authentizität“ eines der meistverwendeten Wörter ist, mit dem die Nationalküche eines Landes beschrieben oder beworben wird: eine Zusammenschau von Werten wie Aufrichtigkeit, Wesenheit, Natürlichkeit, Originalität und Echtheit (S. 183-184). Dies setzt Norm voraus, was und wie eine Speise sein sollte (Maren Möhring, S. 34). Anpassungen an den jeweiligen lokalen Kontext werden oft als Verfälschungen der Originalküche gesehen. Im Gegensatz dazu weisen einige Autorinnen und Autoren des Jahrbuchs darauf hin, dass Anpassungen an den lokalen Geschmack – genau wie beim Import anderer Kulturprodukte auch – manchmal durchaus notwendige Übersetzungsleistungen darstellen. 

Inside out-Sushi der Rainbow Roll in hellem Grün, Gelb und Zartrosa lassen die Anordnung auf dem Holztablett wie einen Regenbogen erscheinen. Die verwendeten Zutaten sind andere als im Ursprungsland Japan.

17. Im Ausland werden Speisen kreativ weiterentwickelt. Ein Beispiel ist die in Kalifornien aus Sushi entwickelte „Rainbow Roll“: Uramaki (Inside out) Sushi mit unterschiedlichen Füllungen und Belägen wie beispielsweise Shrimps, Tempura, Lachs, Avocado oder Mango.

Zu den Übersetzungsleistungen bei Speisen zählen beispielsweise: die Wahl anderer Gewürze zur Milderung der Schärfe; das Ausweichen auf Zutaten, die im Ausland günstiger zu erwerben sind; geänderte Zubereitungsweisen, um sich an den vorherrschenden Geschmack einzustellen; neue Präsentationsformen wie Besteck oder die Abfolge von Vor-, Haupt- und Nachspeise zur Angleichung an übliche Essgewohnheiten.

Auf ausgebreitetem gesäuertem Reis liegen mit Käse überbackener Fisch und Gemüse.

18. Sushi-Pizza aus Hawaii

In Deutschland spezialisierten sich viele japanische Restaurants zunächst auf Fleischgerichte, um dem hiesigen Geschmack zu entsprechen (Maren Möhring, S. 44). Daneben boten sie andere Speisen aus dem japanischen Alltag an. Ein 1985 von JTB (Japan Travel Bureau, dem größten Reisebüro Japans) herausgegebenes Büchlein im Format eines japanischen Taschenbuchs leistete damals noch nicht Eingeweihten Hilfestellung: Illustrated Eating in Japan mit Skizzen von Zutaten und Erklärungen zum Verzehr der unterschiedlichsten japanischen Gerichte.

Heute ist die Lage ganz anders: Es existieren internationale Vertriebsnetze für die Zutaten, die weltweit in Supermärkten zu erwerben sind, und es zirkulieren unüberschaubar viele Rezeptanleitungen im Internet. Christoph Peters vergegenwärtigt diese Entwicklung der letzten Jahrzehnte aus eigener Beobachtung in „Satori im panierten Schnitzel“ und erinnert an wichtige Details, die der Beliebtheit japanischer Speisen in Europa Vorschub leisteten.

19. Im Ausland neu erfundene Sushi, wie mit Hühnchen, Avocado oder Mozzarella bestückte Versionen, lösten in Japan zunächst einmal keine Begeisterung aus. Um die originalen Zutaten und Zubereitungsformen zu bewahren, sollte ein Zertifikat auf die Authentizität der Speise hinweisen, wie hier bei einem Restaurant in München.

Essen als Ausdruck für einen Lebensstil oder: das Eigenleben der Symbole

Essen steht immer für einen bestimmten Lebensstil, Konsumenten definieren sich über das, was sie essen. So ist es auch nicht überraschend, dass jede Fluglinie ihr gewünschtes Image pflegt, indem sie viel Geld in die Auswahl an Speisen investiert, die an Bord angeboten werden (Sunbul Dubuni, S. 230).

Irmela Hijiya-Kirschnereit zeigt in ihrem Beitrag am Beispiel von Sushi, wie bestimmte Ideen, die an eine fremde Speise gekoppelt sind, die Vorstellungswelt einer fremden Kultur durchdringen können. Als Inbegriff gesunder Ernährung verselbstständigten sich die Vorstellungen, die mit ihnen verbunden wurden, zunehmend (S. 139): Sushi wurden zur Ikone für modische Ernährungstrends und – als „Beraterpommes“ (S. 152) – zum Symbol eines exklusiven Lebensstils. Der Trend trieb vor allem in der Werbewelt herrliche Blüten, wie zahlreiche Abbildungen zeigen, die den Zeitgeist widerspiegeln.

Demonstrierende mit dem Plakat aus Pappkarton: „Sushi Rolls NOT Gender Roles!“

20. Wortspiel auf der Demonstration in Paris zum Frauentag am 8. März 2017

Verschlungene Wege oder: Rückwirkungen auf das Ursprungsland

Kulinarische Transfers leben von Neukombinationen und Vermischungen (Maren Möhring, S. 37): Kommt eine Speise in ein neues kulturelles Umfeld, wird sie einerseits dem dortigen Geschmack angepasst und bewirkt andererseits Änderungen auf die heimische Esskultur, zum Beispiel wenn bisher unbekannte Gewürze nun auch für heimische Speisen benutzt werden.

Über die Zeit ergeben sich verschlungene Wege, denn oft erreichen die Neuerungen aus der Fremde als (Re-)Importe das Ursprungsland (Yoko Hiramatsu, S. 75). Und manch „typische“ Speise stammt gar nicht aus dem vermuteten Ursprungsland, sondern wurde in der Fremde entwickelt, wie Chop Suey oder der Glückskeks, die beide nicht in China, sondern in den USA erfunden wurden (Thomas O. Höllmann, S. 171).

McDonald’s Menu-Set mit Teriyaki Chicken Burger, Pommes und einem Getränk

21. Teriyaki Chicken Burger von McDonald’s

Rückschlüsse auf Entwicklungen in der Gesellschaft

Dies alles macht deutlich, dass es bei den Beiträgen nicht allein ums Essen geht, sondern um die Rahmenbedingungen, unter denen Zutaten und Zubereitungsarten, Utensilien und Essgewohnheiten aus ihrer Herkunftsregion in andere Teile der Welt gelangen können.

Ob die Küche in der neuen Umgebung überhaupt eine Chance auf Erfolg hat, entscheidet zum großen Teil das Image, das das Ursprungsland im Zielland hat. Außerdem bestimmten die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, welches Ansehen Speisen im Ausland haben (Irmela Hijiya-Kirschnereit, S. 25).

Ein letztes Beispiel für eine solche Analyse, das hier angeführt werden soll, ist der Beitrag von James Farrer, Soziologe und hervorragender Kenner der chinesischen Restaurantbetreiber im Tōkyōter Stadtteil Nishiogikubo (https://www.nishiogiology.org). Er erzählt die Geschichte des prototypischen Alltagsrestaurants in Japan, des „Chinesen nebenan“ (machi chūka).

Dazu sammelte James Farrer die Familiengeschichten der Restaurantbetreiber: In der Nachkriegszeit öffneten chinesische Kleinrestaurants in Japans Städten an jeder Straßenecke, geführt oft von einer japanischen Familie, die aus der Mandschurei zurückkam. An der Theke stand der Vater als Eigentümer und Koch in Personalunion, seine Frau und die Töchter bedienten die Gäste. Über die Jahrzehnte erlebten sie die Veränderungen im Viertel, und bis heute spiegeln die Abende in diesen kleinen chinesischen Restaurants die wirtschaftliche Entwicklung Japans, auch ihre Schattenseiten. Farrer richtet das Vergrößerungsglas auf diesen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft, und seine Detailbeobachtungen fügen sich in die „große Geschichte“.

Teller mit gebratenen Gyōza, bestreut mit Nori und Bonit-Flocken.

22. „chūka“ steht für ursprünglich chinesische, an den japanischen Geschmack angepasste Gerichte bzw. für die Restaurants, die sie servieren. Sie sind in Japan äußerst beliebt. Dazu gehören etwa die Nudelsuppe Rāmen und die hier dargestellten Teigtaschen Gyōza.

Speisen sind eine universelle, zentrale und sehr anschauliche „Begleiterscheinung“ des Menschen. Deshalb eignen sie sich optimal zur Analyse von Entwicklungen, egal ob man sie unter sozialen, kulturelllen, wirtschaftlichen oder politischen Aspekten betrachtet. In diesem Sinne hält das Jahrbuch noch eine Menge weiterer Überlegungen bereit, zum Beispiel auch zum Verhältnis von Globalisierung und Lokalisierung. Es leistet eine spannende Momentaufnahme aktueller Trends und ist aus diesem Grund absolut lesenswert.

Susanne Phillipps

06.12.2020 (Ausgabe 01)

Anmerkung

01

Dargestellt unter anderem in „Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy“ (1990)

http://www.arjunappadurai.org/articles/Appadurai_Disjuncture_and_Difference_in_the_Global_Cultural_Economy.pdf

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Abbildungsnachweis

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Buch-Arrangement Kulinaristik: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

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02: Von Photo: User:FA2010 – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15291632

03: Von chee.hong – Momofuku Ando Instant Ramen Museum, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37142221

04: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

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06: By luckysundae – https://www.flickr.com/photos/cuteobento/2742245611/sizes/o/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4944992

07: Von Nandaro – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=34819020

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09: By Honolulu Noodz – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=79414337

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12: Von Tokumeigakarinoaoshima – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=79650708

13: Von Korea.net / Korean Culture and Information Service (Photographer name), CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=33681537

14: Von 663highland – Eigenes Werk, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20357048

15: Von Ra Boe / Wikipedia, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27960557

16: Von VictoriaDruschel 01 – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19186070

17: By Loozrboy – originally posted to Flickr as Golden Maki, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10260824

18: By Kyle Nishioka from Kaneohe, USA – Sushi Pizza from Shokudo, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35246234

19: Von Ominae – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64037425

20: By Jeanne Menjoulet from Paris, France – Sushi Rolls not Gender Roles, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=78208800

21: Von Tokumeigakarinoaoshima – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74009620

22: By Adryan R. Villanueva – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=60961947