Beim Essen japanischer Speisen alles richtig machen – Ein bunter Leitfaden
Betty Reynolds (2020): Japan Eats! An Explorer’s Guide to Japanese Food. Tōkyō, Rutland (Vermont), Singapur: Tuttle; 72 Seiten.
Die japanische Küche ist kein Buch mit sieben Siegeln mehr, heutzutage sind japanische Speisen in vielen Ländern der Welt bekannt. Die Zutaten kann man nicht mehr nur in speziellen Asia-Läden kaufen, sondern auch im Supermarkt um die Ecke. Im Internet gibt es unzählige Seiten mit Anleitungen für die Zubereitung der Speisen. Und der Boom im Ausland brachte mit sich, dass ursprünglich japanische Speisen mit fremden Zutaten weiterentwickelt wurden: zu ganz Neuem, das man in Japan so nicht findet, wie frittierte Sushi-Rollen mit Avocado- oder Mozzarella-Füllung (siehe Empfehlung „Auch Speisen müssen übersetzt werden“).
Und doch ist es interessant, die Speisen an ihrem Ursprungsort, im japanischen Kontext, zu betrachten: Wann nimmt man was auf welche Weise zu sich? In „Japan Eats!“ zeigt Betty Reynolds, dass zu besonderen Anlässen und Gelegenheiten ganz bestimmte Speisen und eine spezielle Etikette gehören.
Das Buch ist für Leserinnen und Leser konzipiert, die Japan (noch) nicht kennen und über keine japanischen Sprachkenntnisse verfügen. Aber auch für Vertraute der Esskultur dürfte es eine Freude sein, die Bilder und die zugehörigen Kommentare zu genießen.
01.-02. Shokudō (wörtl.: „Speisesaal“, „Restaurant“, „Kantine“, „Mensa“) der Freien Universität Berlin. Zitat der Homepage: „Shokudō ist eine Mensa mit japanisch inspiriertem Fusion-Konzept auf dem Campus der Freien Universität Berlin.“ (Fusionsküche: Speisen, die Zutaten vereinen, die für verschiedene Regionen typisch sind).
Im Tatami-Bereich findet man die Verbotsschilder.
– Auch das Cover-Bild dieser Empfehlung wurde in der Mensa Shokudō aufgenommen.
Über die Autorin
Betty Reynolds ist keine Japanologin, gemeinsam mit ihrem Mann kam sie ohne Vorkenntnisse 1994 nach Japan. Sie beschreibt, dass die beiden sich aufgrund der Sprachbarriere und mangelnder Kenntnisse über das Land, wegen der unverständlichen Schilder und Speisekarten zunächst nicht gut zurechtfanden.
Ihre kulinarischen Streifzüge betrachteten sie als Abenteuer. Mit der Zeit gewannen sie japanische Freundinnen und Freunde, die ihnen den Weg durch die heimische Küche wiesen. Die Bilder machen deutlich, welche Hürden sie zu überwinden hatten – und wie sehr sie die Speisen in Japan genossen.
Betty Reynolds hat mehrere Skizzenbücher über Japan veröffentlicht, darunter „Clueless in Tokyo: An Explorer’s Sketchbook of Weird and Wonderful Things in Japan“. Für Kinder gestaltete sie die Bände „Tokyo Friends: Tokyo no Tomodachi“ und „Japanese Celebrations for Children: Festivals, Holidays and Traditions“.
Über das Buch und über den Verlag Tuttle
E. Tuttle (1915–1993) stammte aus einer Verleger-Familie, schon sein Vater hatte Bücher über ferne Länder veröffentlicht. Tuttle reiste am Ende des Zweiten Weltkriegs in militärischer Funktion nach Japan und gründete 1948 den Verlag Charles E. Tuttle Company (heute: Tuttle Publishing). Er hatte von Anfang an die Mission, das englischsprachige Publikum über Asien zu informieren, mit dem Slogan: „Books to Span the East and West“, als Symbol wählte er eine Brücke.
Heute gilt Tuttle Publishing als einer der führenden Verlage für Bücher zu Geschichte, Kulturen, Künsten, Sprachen und Literaturen Asiens. Laut Wikipedia veröffentlichte Tuttle seit seiner Gründung mehr als 6000 Bücher und unterhält heute eine aktive Backlist von rund 2000 Titeln (Wikipedia: Eintrag Tuttle Verlag).
03. Das frühere Symbol des Tuttle-Verlags zeigte eine Brücke. Die Buchstaben unter dem Brücken-Symbol standen für verschiedene Bereiche, wie „H“ für History, „L“ für „Literature“, „A“ für „Arts“, „S“ für „Society“. Das aktuelle Logo ist dagegen sehr reduziert: „TUTTLE“ in weißer Schrift auf rotem Grund.
Und in der Tat – viele Bücher, die von Tuttle seit den 1950er Jahren veröffentlicht wurden, sind Klassiker und bis heute lieferbar: Ich las sie während meiner Studienzeit, und sie stehen nach Jahrzehnten immer noch in den Verkaufsregalen englischsprachiger Bücher in Tōkyōter Buchhandlungen.
Der Band „Japan Eats!“ ist ein Vertreter der neuen Generation: Tuttle bringt inzwischen viele Veröffentlichungen in Text-Bild-Format auf den Markt. Die Bildbände widmen sich mit Fotos, Grafiken, Zeichnungen oder Gemälden den Aspekten der japanischen Kultur.
Betty Reynolds selbst bezeichnet „Japan Eats!“ als Skizzenbuch. Das Buch ist im Querformat angelegt und die Seiten bestehen nicht aus einem durchgehenden Erklärungstext, sondern aus Abbildungen mit Beschriftungen.
Der Einstieg in das Buch
Die erste Doppelseite zeigt in drei Reihen 24 Außenansichten von japanischen Kneipen, Cafés und Restaurants. Die verschiedenen Ladenschilder, die beschrifteten Vordächer, die Vorhänge (Noren), Lampions und Flaggen zeigen die Charakteristik der japanischen Lokale – und deuten die Esskultur des Landes in ihrer vollen Vielfalt an. Dazwischen reihen sich Redewendungen, die beim Essengehen nützlich sind, wie: „Eigo no menyū wa arimasuka? – „Is there an English menu?“ oder „Naifu to fōku o-negai shimasu. – „Knife and fork please.“
Der Aufbau des Buches
„Japan Eats!“ ist nicht in Kapitel untergliedert, besteht inhaltlich aber aus zwei Hauptteilen.
Die Einleitung eröffnet mit „Itadakimasu!“
Im ersten Teil des Buches vermittelt Betty Reynolds Basiswissen, den „Grundwortschatz“ der japanischen Küche:
- Bedeutung der Restaurant-Schilder und Auslagen
- Verhaltensweisen: das richtige Sitzen, das Essen mit Stäbchen, der Gebrauch von Slippern, der Gang auf die Toilette
- Vorstellung verschiedener Speisen, von Sushi und Sashimi über Nudel- und Eintopfgerichte zu Spießen und Gebratenem
Im zweiten Teil des Buches erklärt Betty Reynolds Speisen im Kontext ihres gesellschaftlichen Umfelds:
- in bestimmten Situationen: welches Essen gibt es in einer Kneipe (Izakaya), welche Fertiggerichte in einem 24-Stunden-Laden (Konbini), welche Lunchboxen an Bahnhöfen, wie verhält man sich in einem Ryokan, in einem O-furo, welche Mitbringsel (O-miyage) sind geeignet
- zu besonderen Anlässen: was gibt es an Neujahr (O-shōgatsu), beim Kirschblütenfest (Hanami), und bei traditionellen Sommerfesten (Matsuri)
- im Blick auf japanische Süßigkeiten (Wagashi) und Reis-Cracker (Senbei)
Am Schluss endet das Buch mit „Gochisō-sama deshita!“
Die Gestaltung
Im Zentrum jeder Doppelseite gibt es ein oder mehrere gezeichnete Bilder zum Thema, beispielsweise die Schalen, Platten und Schüsseln eines gedeckten Tisches. Jedem gezeigten Objekt ist die japanische Bezeichnung in Umschrift (leider mit einem Schreibfehler in der Überschrift: fälschlicherweise „Itedakimasu“, S. 3) und Hiragana-Silbenschrift sowie meist auch die englische Übersetzung zugeordnet.
04. Frühstück in einem Ryokan in Kyōto.
Neben den Objekten stehen oft auch Hinweise zum korrekten Verhalten: vor dem Betreten von Tatami-Matten die Schuhe ausziehen und geordnet hinstellen (S. 8); beim Essen das feuchte Tuch (O-shibori) nach dem Gebrauch mit der benutzten Seite nach innen wieder zusammenfalten und ablegen (S. 5); auf der Toilette nach dem Abreißen des Toilettenpapiers die Ecken des Papiers im Dreieck falten, um der nächsten Besucherin der Toilette Respekt zu erweisen (S. 9); nach dem Essen die gebrauchten Stäbchen wieder schön nebeneinander auf der Stäbchen-Ablage platzieren oder in die Papierhülle zurückstecken (S. 70).
Die Bezeichnungen und Anleitungen
Nicht nur die Speisen, sondern auch die zugehörigen Teller und Schalen, die Kannen und Platten, die Gewürze und Saucen sind detailliert gezeichnet und bezeichnet, wie zum Beispiel shichimi (eine Gewürzmischung, wörtl. „sieben Gewürze“), gomadare (Sesamsauce), ponzu (Zitrusessig) oder sanshō (japanischer Pfeffer).
05. Die pikante Gewürzmischung shichimi, Hauptzutat sind rote Chilischoten.
Die Anleitungen sind keineswegs oberflächlich. So beschreibt Betty Reynolds zum Beispiel, wie kalte Soba-Nudeln im Sommer gegessen werden: Neben den Nudeln steht ein Schälchen (choko) mit der Sauce für das Eintauchen der Nudeln (tare). Aus einem hölzernen, lackierten Kännchen mit einem Schnabel und einem Stielgriff (yutō) soll abschließend die heiße Brühe, in der die Soba-Nudeln gekocht wurden, in das Schälchen mit der Sauce gekippt und als Suppe getrunken werden.
06. Yutō mit Soba-Brühe.
Ein Einblick in den Alltag, über das Essen hinaus
Die meisten Japanerinnen und Japaner, die in Großstädten leben, verbringen einen bedeutenden Teil ihres Privatlebens außerhalb der eigenen vier Wände: vor allem in Cafés, Kneipen und Restaurants. Daher ist „Japan Eats!“ nicht nur eine Auflistung der Speisen, die die japanische Küche zu bieten hat, sondern vermittelt auch einen Einblick in den Lebensalltag über das Essen hinaus. Betty Reynolds beschreibt zum Beispiel das Zusammenkommen in Kneipen (Izakaya, S. 38-39), die bedeutende Rolle, die 24-Stunden-Läden (Konbini) spielen (S. 40-41), oder eine Bahnreise, die unbedingt mit dem Genuss einer Lunchbox (Ekiben) eingeläutet werden sollte (S. 46-47).
07. Verkaufsstand am Bahnhof Ōsaka mit einer riesigen Auswahl an Ekiben. Die Bahnhöfe verkaufen Lunchboxen mit für die Region typischen Spezialitäten. Manche Ekiben sind so berühmt, dass sie im Fahrplan aufgeführt werden.
Über 10 Seiten hinweg schildert Betty Reynolds das korrekte Verhalten bei einem Besuch in einem Hotel japanischen Stils (Ryokan), immer mit einem Augenzwinkern und nie mit erhobenen Zeigefinger: den Empfang, die Ausstattung, das Bad, das Abendessen, das Frühstück und geeignete Mitbringsel für Zuhause (S. 48-57).
Feiern zu verschiedenen Jahreszeiten
08.-09. Essensstände bei Sommerfesten.
Auch bei den Feiern und Festlichkeiten, die traditionell begangen werden, spielt das Essen eine große Rolle.
10. Den Besuch eines Sumō-Turniers beschreibt Betty Reynolds genauso wie die Kirschblüten-Feiern als große Picknick-Ereignisse (S. 58-59). Hier selbstgemachte Leckereien bei einem Kirschblüten-Fest (Hanami).
11. Kakigōri: geraspeltes Eis, mit Sirup übergossen.
12. Zum Neujahrsfest (o-sechi ryōri) werden ineinander gestapelte Kisten (jūbako) präsentiert. Betty Reynolds erklärt die Symbolik der einzelnen Speisen.
13. Auch bei den japanischen Süßigkeiten (Wagashi) wird deutlich, wie sehr sich die Spezialitäten an den Jahreszeiten orientieren.
Exkurs: Die japanische Tradition bebilderter Lexika
In der Edo-Zeit (1600-1868) bestand der Großteil der gedruckten Bücher aus illustrierten Leseheften, Lexika, Haus- und Anleitungsbüchern zur Etikette. Viele von ihnen sind reich bebildert, wobei die Abbildungen und Textteile oft ineinander fließen. „Japan Eats!“ steht natürlich nicht in dieser Tradition, erinnert aber an sie.
14.-16. „Kinmo zui“ ist eine illustrierte Enzyklopädie, die 1666 von Nakamura Tekisai (1629-1703) verfasst wurde.
Insgesamt besteht sie aus 20 Bänden und zeigt eine breite Palette von Objekten, Werkzeugen und Kleidung, von Tieren, Pflanzen und Details des menschlichen Körpers.
„Japan Eats!“ ist lesenswert und betrachtenswert …
… wegen der Detailfreudigkeit in der Beobachtung.
Die Bilder spiegeln das Staunen und die freudige Überraschung beim Kennenlernen der Speisen und Verhaltensweisen und führt vor Augen, wie vielfältig die Essenskultur ist, die die japanische Küche bietet.
Die Darstellungen sind nicht streng realistisch, aber trotzdem sehr genau, voller Sympathie und mit liebevoller Detailfreudigkeit gestaltet. So sieht man in dem kleinen Bild vor einem Sushi-Restaurant einen Motorroller zur Auslieferung der Gerichte. Bei einer Abbildung von Oden-Verkaufswagen erklärt Betty Reynolds, dass sie am Abend öffnen: „Their lights’ soft glow looks warm and inviting.“ (S. 21)
17. Oden: Verschiedene Zutaten wie Konnyaku, Tōfu, Rettich oder Ei werden in einer Brühe gekocht, dann mit Senf gegessen.
Und trotzdem: Auch wenn das gesamte Design leicht und der Stil unterhaltsam daherkommt, zeigt Betty Reynolds auch irritierende Erfahrungen. Unter der Überschrift „Ikezukuri: live seafood and other treats not for the faint-hearted“ präsentiert sie nicht ohne Kritik Gerichte aus rohem Fleisch, Fisch und noch lebenden Meeresfrüchten (S. 44-45). Es sind Formen von Sashimi (ikezukuri oder ikizukuri), die besonders frisch und lebendig aussehen sollen. In Deutschland gilt diese Art der Zubereitung von noch lebenden Tieren als Tierquälerei und ist deshalb verboten (Wikipedia: Eintrag Ikizukuri).
… wegen des gelungenen Arrangements.
Betty Reynolds denkt in Bildern. Fast alle Doppelseiten sind äußerst stimmig als Einheit gestaltet, sowohl thematisch als auch vom Design. So besteht Sushi zum Beispiel aus der gezeichneten Formel dreier Bilder: ein Häppchen von Essig-gesäuertem Reis + ein wenig Wasabi + ein Stück Lachs (S. 13).
Bestechend ist die Ästhetik der Bildreihen: Zahlreiche Sorten von Sushi, von Rāmen, die unterschiedlichen Zutaten, die man im Teigmantel als Tempura frittieren kann und verschiedene Yakitori-Spieße reihen sich farbenfroh aneinander – so schön gestaltet, dass eine Speise leckerer wirkt als die andere und einem das Wasser im Mund zusammenläuft.
… wegen der Offenheit und des Witzes
Die kleinen Hinweise und Warnungen sprechen von den Erfahrungen, die Betty Reynolds machte:
- sich vor Restaurants mit verstaubten Plastik-Essensmodellen im Schaufenster hüten (S. 6)
- die Shōyu-Schälchen nicht zu voll füllen, schon gar nicht, wenn man mit dem Gebrauch von Stäbchen nicht sicher ist, da das Sushi-Stück in die Sauce plumpsen und Spritzer auf der Kleidung verursachen könnte (S.16)
- beim Eintauchen der frittierten Häppchen die Miso-Suppe nicht mit der Tempura-Sauce verwechseln (S. 28).
Besonders amüsant sind die kurzen Erzählungen. So wird die Einleitung von einer Folge von sechs fast identischen Bildern begleitet: Ein japanisches und ein ausländisches Ehepaar sitzen an einem niedrigen Tisch gemeinsam beim Essen. Unter den sechs Bildern steht die Uhrzeit: 7:30pm, 7:45pm … bis 8:45pm. Das japanische Ehepaar wird in immer der selben Position gezeigt: er im Schneidersitz, sie auf ihren Knien hockend. Ganz anders das ausländische Ehepaar: Da wird einmal das linke Bein nach vorn gestreckt, dann das rechte auf die Seite. Im letzten Bild hilft das japanische Ehepaar dem ausländischen auf die Beine.
Doch trotz aller Unbequemlichkeiten – in der Izakaya scheint sich Betty Reynolds sehr willkommen zu fühlen: „The staff will always shout „welcome“ when you enter and „thanks“ when you leave. I don’t know about you – but even my Mother doesn’t seem this happy to see me!“ (S. 39).
– Dies ist ganz nah am japanischen Lebensgefühl.
Susanne Phillipps
(23.09.2023, Ausgabe 12)
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Bildnachweis
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16: Von Tekisai NAKAMURA, 1666 – 早稲田大学図書館, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45173890
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