Die Schönheit der Alltagsobjekte – Yanagi Sōetsus Theorien zur Volkskunst

Buch vor sechs Stoffen mit verschiedenen Mustern

Yanagi Sōetsu (2017): Selected Essays on Japanese Folk Crafts. Tokyo: Japan Publishing Industry Foundation for Culture, in Zusammenarbeit mit dem Japan Folk Crafts Museum, übersetzt von Michael Brase, 318 Seiten.

Es ist ein besonderes Erlebnis, das Mingeikan, das Museum für japanische Volkskunst in Tōkyō, zu besuchen:

Das Gebäude im japanischen Baustil hat eine beeindruckende Eingangshalle mit einem wunderschönen Treppenhaus. In den Räumen, die davon abzweigen, werden in alten Glasvitrinen Objekte gezeigt, und zwar sortiert nach dem Material, aus dem sie bestehen: Stoffe, Keramiken, Holz- und Metallarbeiten aus bestimmten Regionen.

Die Erklärungstexte, die die Objekte begleiten, sind mit Hand geschrieben und auf das Allernötigste reduziert: Nichts soll zwischen den Objekten und dem Publikum stehen, die Besucherinnen und Besucher sollen stattdessen die Gegenstände direkt auf sich wirken lassen können.

Begründer dieses Museums war Yanagi Sōetsu.

01. Das japanische Volkskunstmuseum zeigt handgefertigte Alltagsobjekte.

Mit einer Steinmauer eingefasstes Grundstück, geöffnete Tür, dahinter ein traditionelles japanisches Haus mit weißen Mauern und grauen Dachziegeln.

Der Autor

Yanagi Sōetsu (auch: Yanagi Muneyoshi, 1889-1961) war der Begründer und bedeutende Theoretiker der Volkskunst-Bewegung in Japan. Er prägte das japanische Wort „mingei“ für „Volkskunst“ bzw. „Volkskunsthandwerk“.

Sein Leben lang suchte er nach einfachen, ästhetisch wertvollen Alltagsgegenständen. Für das Museum sammelte er etwa 17.000 Objekte, die zu der Zeit, als er sie erwarb, spottbillig waren (S. 213). Zugleich entwickelte er über die Jahrzehnte eine eigene Ästhetik zur Volkskunst.

Der Übersetzer Michael Brase (1942-2021) war von 1976 bis 2003 Redakteur bei Kodansha International. Danach arbeitete er als unabhängiger Redakteur, Verleger, Autor und Übersetzer.

Portrait in Schwarzweiß. Yanagi im Kimono, eine Schale in den Händen.

02. Yanagi Sōetsu in den 1950er Jahren.

Hintergrund: „Die Volkskunst bezeichnet das bildnerische und kreative Schaffen jenseits der klassischen bzw. modernen Künste, meist eingebunden in traditionelle handwerkliche oder häusliche Produktion. Die Werke der Volkskunst sind zumeist anonymen Ursprungs, ihre Produzenten haben keine im engeren Sinne ästhetische bzw. künstlerische Ausbildung absolviert. Den Begriff „Volkskunst“ prägte 1894 der österreichische Kunsthistoriker Alois Riegl. Die Entdeckung der Volkskunst durch die Kunstwissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert als historisch wie ästhetisch wertvoller Teil der Kultur ging einher mit dem zunehmenden Verschwinden dieser Erscheinung in den sich industrialisierenden europäischen Gesellschaften. Der zunehmende Verlust handwerklicher Traditionen zum Ende des 19. Jahrhunderts in Mittel- und Westeuropa entzog der Volkskunst hier die Basis ihres Schaffens.“ (Wikipedia: Eintrag „Volkskunst“)

 

Im Scherenschnitt Mutter und Kind, die Ostereier bemalen, im Vordergrund drei Ostereier mit bunten Mustern.

03. Ein Beispiel für Volkskunst in Europa: kunstvoll verzierte Ostereier; Briefmarke, DDR, 1982

Über das Buch

Das Buch umfasst:

  • eine Einführung von Fukasawa Naoto, eines international erfolgreichen Designers, der zugleich Direktor des japanischen Volkskundemuseums ist (1 Seite);
  • ein erstes großes Kapitel mit 76 Farbabbildungen (66 Seiten). Die Anordnung ist wegweisend: Wie im Museum können / sollen die Leserinnen und Leser des Buches vor der Lektüre der Essays erst einmal die Objekte betrachten. Die Fotos zeigen die Gegenstände nach Materialien geordnet: Textilien, Keramiken, Holz- und Lackwaren, Metallobjekte, Skulpturen und Gemälde bzw. Drucke.
  • ein zweites Kapitel mit 16 Essays von Yanagi Sōetsu (150 Seiten). Die einzelnen Essays sind 3 bis 13 Seiten lang. Sie sind den beiden Textsammlungen „Yanagi Sōetsu Collection“ („Yanagi Sōetsu korekushon“) und „Vierzig Jahre Volkskunst“ („Mingei yonjūnen“) entnommen.
  • Erst daran schließen sich 20 Seiten mit Erklärungen zu den eingangs dargestellten Objekten an. Sie enthalten eine kleine Abbildung des Objekts in Schwarzweiß, die Bezeichnung, eine Beschreibung, Informationen zu Herkunft, Herstellung, Funktion und Nutzung.
  • eine Kurzbiografie des Autors.

Die Essays

Die Aufsätze stammen aus der Zeit von 1920 bis 1959, erstrecken sich somit über eine Entstehungszeit von vierzig Jahren. Bei der Anordnung in dem Buch wurde auf eine chronologische Aufreihung verzichtet. Sie sind stattdessen inhaltlich sortiert.

Diese Anordnung führt die Leser/innen zunächst in die Thematik ein (I-IV).

Darach schließen sich Essays an, die sich mit konkreten Objekten beschäftigen. Sie können als Anwendung der zuvor entworfenen Ästhetik auf Einzelbeispiele gelesen werden (V-VII).

Es folgt ein Aufsatz, in dem Yanagi eine alternative Kunstkritik entwickelt (VIII), danach ein sehr persönlicher Forschungsbericht (IX).

In den weiteren Beiträgen geht es um Fragen der Abgrenzung von Volkskunst zu „hoher“ Kunst (X-XIII).

Den Band schließen Aufsätze zu Yanagis Grundüberzeugungen ab, gewissermaßen eine Quintessenz seines Lebenswerks (XIV-XVI).

In den Beiträgen wird auf die Farbtafeln verwiesen, einige Texte enthalten zusätzliche Abbildungen in Schwarz-weiß zur Veranschaulichung der Objekte, die Yanagi bespricht.

I. What is Folk Craft? (1933) Die Prägung des Begriffs „mingei“ mit den beiden Schriftzeichen für „Volk“ und „Kunst(handwerk)“ durch Yanagi Sōetsu und die beiden Töpfer Hamada Shōji (1894–1978) und Kawai Kanjirō (1890–1966). # II. The Beauty of Miscellaneous Things (1926) Grundlegende Überlegungen zur Ästhetik gewöhnlicher Alltagsobjekte (zakki, „verschiedene Dinge“) in 11 Abschnitten # III. A Painted Karatsu as Food for Thought (1926) Beobachtungen zur Ästhetik des Nicht-Perfekten # IV. What is Pattern? (1932) Eine Ästhetik der Muster, die in ihrer Abstraktion die Symmetrien der Natur aufzeigen # V. Okinawa’s Bashōfu (1939) Stoffe aus Fasern der Bananenstaude, hergestellt in Okinawa # VI. The Beauty of Kasuri (1959) Besonderheiten der Färbe- und Webtechnik # VII. The Characteristics of Kogin (1932) Stickereien nach bestimmten Mustern # VIII. The Japanese Perspective (1957) Eine Kritik an der Überbewertung von allen aus Europa und den USA importierten Ideen und Waren („modern = westlich“), Konzept für eine eigene japanische Ästhetik # IX. The Story behind the Discovery of Mokujiki (1925) Ein Bericht zur Entdeckung und Erforschung der Werke des Wanderpriesters Mokujiki Shōnin # X. Woodblock Prints (1939) Eine Einschätzung, warum Holzblockdrucke als Teil der Volkskunst betrachtet werden sollten # XI. Ōtsu-e (1960) Eine Einordnung der Ōtsue als Volksmalerei # XII. Handicrafts and Sesshū (1950) Eine Erklärung, warum Yanagi ein Werk des bekannten Künstlers Sesshū – also ein Werk der „hohen“ Kunst – für das Volkskundemuseum erwarb # XIII. Washi (1943) Besonderheiten des Herstellungsprozesses von japanischem Papier # XIV. Seeing and Knowing (1940) Ein Plädoyer zum Begreifen von Schönheit nicht über Theorien, sondern über die direkte Wirkung eines Objekts # XV. A Letter to My Korean Friends (1920) Eine Solidaritätsbekundung gegenüber dem koreanischen Volk # XVI. The Japanese Folk Crafts Museum (1947) Eine Darstellung zu Vorüberlegungen, zur Entstehung und zur Arbeit des 1936 gegründeten Volkskunstmuseums

Was ist „mingei“?

Yanagi prägte den Begriff in Kontrast zu – wie er sie nennt – aristokratischer Kunst. Mit den beiden Schriftzeichen für „Volk“ (min) und „Kunst“ oder „Kunsthandwerk“ (gei) bezeichnete er grob gefertigte, einfache Dinge, die eine ganz besondere Schönheit ausstrahlen: „Objekte der Volkskunst sind der Höhepunkt aller handgemachter Objekte.“ (S. 78). Um sie deutlich von der „hohen“ Kunst zu unterscheiden, meint Yanagi im strengen Sinne also „Volkskunsthandwerk“. Im folgenden benutze ich allerdings den Begriff „Volkskunst“.

Stickerei mit weißem Faden in Form von Sternen auf dunkelblauem Stoff.

04. Sashiko-Stickerei

Den Ausgangspunkt sieht Yanagi in den Kunsthandwerkstraditionen der Provinzen (S. 81). Sie haben folgende Eigenschaften:

  • Menschen, die Volkskunst schaffen, sind keine Berühmtheiten, sondern anonyme Handwerker/innen, sie signieren ihre Arbeit nicht.
  • Die Kunsthandwerker/innen arbeiten nicht isoliert, sondern in Gruppen, und zwar in einem Bewusstsein, in dem sie nicht sich selbst zum Mittelpunkt machen („unself-consciousness“, „unself-awareness“, S. 82, 83).
  • Sie produzieren einfache, raue Alltagsgegenstände für den praktischen Gebrauch. Diese Objekte müssen robust sein, Hitze, Kälte, dem täglichem Gebrauch Stand halten (S. 89).
  • Im Gegensatz zu Kunstobjekten sind Objekte der Volkskunst nicht teuer und werden in großen Stückzahlen hergestellt, sie sind keine Einzelstücke.
  • Die Prämisse der Nützlichkeit der Objekte bringt ihre Schönheit hervor: Die Form der Objekte ist einfach, die Gegenstände sind mit nur ein oder zwei Mustern dekoriert, die Objekte wollen nicht stilistisch „überraschen“, sondern bestechen durch ihre Einfachheit (S. 90).
  • Die Gegenstände werden im Alltag genutzt. Je länger sie in Gebrauch sind, desto schöner werden sie (S. 90).

Der Entstehungsprozess, basierend auf der Natur

Natürliche Ressourcen sind die Ausgangsbasis für jede Art von Volkskunst: bestimmte Erde, Pflanzenfasern, Hölzer, Pflanzenpigmente. Umgekehrt gesagt: Volkskunst ist das Produkt einer bestimmten Region: deren Klima, Temperaturen, Bodenqualität und anderer physikalischer Bedingungen. Wenn in einem Landstrich ein bestimmtes Ausgangsmaterial vorkommt, wird sich eine bestimmte Kunst daraus entwickeln. „Rather than the craft object finding the most suitable material, it can be said that the material finds the right object.“ (S. 92).

Die Kunsthanderker/innen haben keine theoretische Ausbildung, sondern haben den Prozess von ihren Vorfahren erlernt, er ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, und sie arbeiten mit einer unglaublichen Geschwindigkeit (S. 93). Durch die Wiederholung von immer denselben Vorgängen über Generationen hinweg entstehen die Objekte wie „von selbst“.

Zwei junge Bananenstauden.
Drei Frauen arbeiten im Sitzen am Boden: Sie ziehen Pflanzenfasern, die zum Trocknen aufgehängt werden.

05.-06. Die Japanische Faserbanane (bashō) ist Ausgangsmaterial für die Herstellung von Kimonos auf Okinawa. Die Stoffe sind für das heiße Klima besonders gut geeignet, denn sie kleben bei hohen Temperaturen nicht an der Haut. –Traditionelle Gewinnung von Pflanzenfasern der Bananenstaude.

Eine besondere Ästhetik, Teil 1: Das Verhältnis zwischen Natur und Muster

Sechs Muster mit der Reihenfolge, in der sie gestickt werden, dazu kurze schriftliche Erklärungen.

07. Seiten aus einem Vorlagenbuch für Stoffmuster, 1897.

Muster verdeutlichen Symmetrien der Natur: Sie begreifen die Essenz zum Beispiel einer Pflanze (das „Wesen des Bambus“, die „Bambus-heit“, S. 104-106) und stellen sie vereinfacht, übertrieben deutlich und damit stilisiert als Symbol dar. So bringen sie die Charakteristika der Pflanze auf den Punkt.

Muster sind Übermittler („conveyor“, „transmitter“) der Schönheit (S. 108). Gute Muster zum Beispiel von Teppichen oder Stoffen wurzeln in dem robusten Material, aus dem sie bestehen: Sie sind nicht vollkommen frei gestaltbar, denn das Ausgangsmaterial (Pflanzenfasern oder Wolle) verlangt eine bestimmte Technik der Bearbeitung. Das Material bzw. die mit dem Material verbundene Technik lässt also nur eine bestimmte Art von Muster zu. Diese Limitierung, der Rahmen, den die Natur vorgibt, verleiht den Objekten „ästhetische Stabilität“ (S. 112-113, 127).

Kimono mit Wellenmuster in Weiß, Dunkelblau und Rot.

08. Ein Gewand mit dem für Ainu-Kunst typischen Muster, 19. Jahrhundert.

Eine besondere Ästhetik, Teil 2: Das Nicht-Perfekte

Beim Herstellungsprozess sind viele Schritte zumindest teilweise jenseits der menschlichen Kontrolle, hier werden die Kräfte der Natur sichtbar. Besonders schön empfindet Yanagi beispielsweise Risse in Schalen, die beim Brennen entstanden und so die Kraft der Natur zeigen (S. 100).

Gerade in diesem Nicht-Perfekten liegt in seinen Augen die von der Natur geschaffene Schönheit (S. 125). Den Zauber sieht Yanagi allerdings gebrochen, wenn einem Objekt absichtlich Deformationen zugefügt werden (S. 139).

Nahaufnahme der glasierten Oberfläche einer Teeschale, kleine Risse sind zu erkennen.

09. Die Kraft des Ausgangsmaterials zeigt sich in Form von Rissen auf der Schale.

Beispiele für Volkskunst

In einigen Aufsätzen wendet sich Yanagi bestimmten Objekten zu und überprüft, ob die oben genannten Charakteristika auf sie zutreffen.

Er führt die gängige(n) Bezeichnung(en) der Objekte an und erläutert die Verfügbarkeit der Ausgangsmaterialien (wie beispielsweise Pflanzenfasern für Stoffe oder Pflanzensäfte als Färbemittel). Er zeigt auf, wie der Herstellungsprozess auf dem Klima und den Ausgangsmaterialien basiert. Neben einer Einordnung, wann die Produktion zum ersten Mal nachgewiesen wurde und aus welcher Zeit besonders schöne Stücke stammen, gibt er Erläuterungen zur Entwicklung von Aussehen, Form, Bildmotiven.

Grau Striche in einem dunkelblauen Stoff, die in ihrer Anordnung unscharfe Konturen aufweisen.

10.-11. Gewebte Kasuri-Stoffe aus Okinawa: Der Stoff wird aus gefärbten Fasern der Bananenstaude gewebt, die ganz besondere, verschwommen wirkende Muster und Bilder im Stoff erzeugen.

Vogelmuster mit hellen Fäden in dunkelblauem Stoff.
Geldbörsen und Tücher mit Stickereien in einem streng angeordneten Muster.

12. Stoffe im Kogin zashi-Muster. Kogin zashi ist eine traditionelle Technik der dekorativen Verstärkungsnaht. Sie hat ihren Ursprung in Aomori. Yanagi vermittelt ein wunderbares Bild des Winters im Norden Japans, von den riesigen Schneelasten, von den Monaten, in denen „life itself is buried“ (S. 129). Die Textilien, die dort entstehen, beschreibt er als Produkt aus den Lebensbedingungen: Schnee und Arbeit (S. 130). 

13. Die Muster folgen strengen Regeln. Hier Vorlagen für Kogin zashi-Muster von 1788.

Skizze von drei Kimonos mit unterschiedlichen Mustern, dazu handgeschriebene Erklärungstexte.
Ausgeschnitzte Holzplatte. An den Konturen ist zu erkennen, welches Bild beim Druck entstehen soll.

14. In Holzblockdrucken sieht Yanagi Volkskunst, denn viele von den oben genannten  Eigenschaften treffen auf die Produktion von Holzblockdrucken zu: Sie werden gemeinschaftlich von Malern, Holzschnitzern und Druckern in Handarbeit hergestellt, und zwar in Massen. – Hier eine durch einen Holzschnitzer angefertigte Druckplatte für ein Bild von Kitagawa Utamaro.

Abbild des Teufels mit roter Haut, schwarzen Haaren und Hörnern.

15. In Ōtsu-e, einfachen Farbholzschnitten und Malereien mit buddhistischen oder humoristischen Motiven, sieht Yanagi perfekte Beispiele für Volksmalerei. Ihr Name stammt von ihrem Ursprungsort, der Stadt Ōtsu. Die Bilder wurden für Reisende angefertigt, die auf der Überlandstraße Tōkaidō in Ōtsu Station machten. Hier ein Ōtsu-e „Teufel als Buddha“.

Holzrahmen, auf dem geschöpftes Papier aufliegt.

16. Geschöpftes Papier (washi) hat eine ganz besondere Tönung und strahlt eine spezielle Wärme aus. – Papierherstellung im Museum für Kunsthandwerk in der Stadt Echizen, Präfektur Fukui.

Schönheit soll zum Alltagsleben gehören

Yanagis Überlegungen sind geprägt von dem Bewusstsein, dass etwas bis dahin Selbstverständliches verloren ging: „The age of shared beauty is dead.“ (S. 91), und erst im Rückblick die Dinge, die die Vorfahren geschaffen hatten, zu wertvollen Objekten wurden (S. 89, 94).

Seine Texte sind Antworten auf den schnellen Modernisierungsprozess in Japan, der einher ging mit dem Einzug der industriellen Fertigung von Gegenständen und der Hochachtung aller Ideen und Gegenstände, die aus Europa und den USA importiert wurden.

Aus Yanagis Sicht soll der Alltag von Schönheit geprägt sein. Dies ist aber mit einigen wenigen hervorragenden Kunstobjekten, mit ansonsten aber lieblos hergestellten Dingen nicht zu erreichen. Allein über Alltagsgegenstände können Menschen immer wieder in direkten Kontakt, in Berührung mit Schönheit kommen. (S. 79-80).

Früher wurde den Objekten ein gewisser Respekt entgegengebracht, die Dinge wurden mit Bedacht behandelt; wie zu Freunden spürte man eine gewisse Intimität, fast Zuneigung zu ihnen. Die Dinge wurden innerhalb der Familie in die nächste Generation weitergereicht, und man war stolz auf einen Gegenstand, der schon den Großeltern gehörte (S. 78-79). Je länger in Gebrauch, desto mehr wird er ein Teil von den Benutzer/innen selbst.

Heute werden Dinge in großen Mengen industriell hergestellt. Mechanisierung und Kommerzialisierung führten zu fabrikmäßig hergestellter Ware in schlechter Qualität. Maschinen produzieren eine kalte, standardisierte Schönheit (S. 94). Diese Ware legt nur auf das Äußere Wert, zieht kaum Überlegungen zum Gebrauch in Betracht: Die Dinge haben schwache Formen und zu viele Farben, sind instabil und zerbrechlich. Yanagi bezeichnet diese Gegenstände als „amoralisch und unethisch“ (S. 76).

Stapel von Schalen in unterschiedlichen, schreiend bunten Farben.

17. Industriell gefertigte Schalen.

Parallelen zwischen Volkskunst und Religion

Die Besonderheit von Yanagis Überlegungen ist die enge Verbindung, die er zwischen Kunst und Religion sieht, immer wieder zieht er Parallelen (S. 148).

Alle Schritte bei der Herstellung von Objekten tragen die Natur in sich, vieles liegt außerhalb der menschlichen Kontrolle: Die Natur gibt die Ausgangsmaterialien vor. Diese bestimmten die Bearbeitungstechnik. Und diese wiederum bestimmt die möglichen Muster. Über Jahrzehnte entsteht so eine „solide Zuverlässigkeit“ (S. 113).

Die Kunsthandwerker/innen sieht er als Geburtshelfer, die die Schönheit der Natur sichtbar machen. In der ihm eigenen Überhöhung schreibt er, die Schönheit, die sie hervorbringen, sei ein Geschenk des Himmels (S. 98) und entstehe dank einer überirdischen Kraft (tariki, S. 114).

Seine Theorie ist im Grunde keine Ästhetik, sondern eine Beschreibung einer geistig-spirituellen, idealen Haltung,

– in der Handwerker/innen arbeiten sollten, um Schönheit zu schaffen;

– in der Benutzer/innen den entstandenen Objekte begegnen sollten, um ihre Schönheit wahrzunehmen.

So sind einige Passagen zu idealistisch, vor allem bei den Beschreibungen der Kunsthandwerker/innen in der Vergangenheit und ihrer Haltung zu ihrer Arbeit (S. 84, 132).

Braune Vase mit zart aufgemalten Gräsern.

18. Karatsu-Keramik, Kyūshū.

Ein ganz besonderer Stil

Manche Passagen lesen sich denn auch wie Ausschnitte aus Predigten, mit Wiederholungen und parallelen Strukturen im Satzbau, wenn Yanagi zum Beispiel über die Kunsthandwerker/innen schreibt:

„They work as if this were the natural thing to do; they create as if this were the natural thing to do; they give birth to beauty as if this were the natural thing to do.“ (S. 84).

Dazu nutzt Yanagi Metaphern und Analogien, um seine Überlegungen zu veranschaulichen: „Let us say that we have injured our legs, …“ (S. 84). In seiner Übertragung sind es die Volkskünste, die früher mit zwei Beinen ganz natürlich und selbstverständlich funktionierten, jetzt aber, verletzt, nach jedem Schritt tasten. Die Frage ist, wie können sie sich gesundheitlich erholen?

Braunes Gewand mit Wellenmuster und einem Drachenmotiv.

19. Gewand (hanten) eines Fischers, etwa 1725.

Das Buch ist äußerst lesens- beziehungsweise betrachtenswert,

– denn es macht Yanagi als Person in seiner Begeisterung greifbar.

Besonders sympathisch und berührend sind die Passagen, in denen Yanagi offen über seine ganz persönlichen Eindrücke, Erfahrungen und Überzeugungen schreibt.

Holzplastik: Amüsiert lächelnder Mönch.

20. Skulptur des Wanderpriesters und Bildhauers Mokujiki, Selbstportrait

Zum Beispiel seine emotional gefärbte Erzählung zu seiner Entdeckung und systematischen Erforschung der Werke des Wanderpriesters, Dichters und Bildhauers Mokujiki Shōnin (1718-1810).

Fast ein Abenteuerbericht, erzählt der Text von Unwegsamkeiten, Zufällen, Freuden und Enttäuschungen, schließlich der Rekonstruktion und Kartografierung der Wegstrecke des Priesters Mokujiki, der 28 Jahre lang durch das ganze Land wanderte … „Rather than me having discovered Mokujiki, it was as though he had discovered me. (S. 148) … Yanagi entdeckte 350 Statuen, sammelte 500 Gedichte und brachte abschließend die schönsten Stücke in einer Ausstellung zusammen.

– Dieser Bericht enthält Überlegungen zu Leidenschaft und Entdeckerlust (S. 151) und steht in seiner Lebendigkeit in krassem Gegensatz zu möglichst objektiv formulierten Forschungsberichten.

Ausdrucksstarke Holzplastik mit der Gottheit mit einem Schwert, eingehüllt in ornamental aus dem Block herausgeschnittene Flammen.

21. Fudō Myōō von Mokujiki Shōnin, 1805.

– denn es zeigt Yanagis innere Überzeugungen.

Yanagi war nicht nur Idealist sondern auch Humanist und Pazifist, der an die verbindenden Kräfte von Religion, Philosophie und von Kunst glaubte: „I believe in the basic goodness of humanity“ (S. 199, 208).

Yanagi wurde kritisiert, da er in der Zeit des zunehmenden Militarismus in Japan (1920er-30er Jahre) auf der Suche nach einem rein japanischen Konzept von Schönheit war. Ein weiterer Vorwurf lautete, dass er Objekte (aus Korea, Okinawa, Hokkaidō) mit einem kolonialistischen Blick betrachte. Nach einer Phase unüberschaubar vieler Einflüsse aus dem Ausland suchten allerdings zahlreiche Intellektuelle eine Rückbesinnung auf eigene Traditionen, ohne dem Nationalismus Vorschub leisten zu wollen.

Jenseits aller Kritik – der „Brief an seine koreanischen Freunde“, einer von mehreren Aufsätzen, die Yanagi in den Jahren 1919 und 1920 schrieb, ist beeindruckend. 1916 war Yanagi zum ersten Mal nach Korea gereist. Drei Jahre später begehrte die koreanische Unabhängigkeitsbewegung gegen die japanische Besatzung auf (Bewegung des Ersten März [1919]). Bei der Niederschlagung des Aufstandes starben Koreanerinnen und Koreaner durch die Hand der japanischen Polizei und des Militärs (die Opferzahlen unterscheiden sich je nach Quelle, zwischen einigen Hundert und einigen Tausend Menschen). Voller Emotionen bringt Yanagi in diesem Brief sein Mitgefühl für das koreanische Volk und seine Wertschätzung für die koreanische Volkskunst zum Ausdruck.

Zu Beginn von „A Letter to My Korean Friends“ (Text XV) werden in einer Fußnote die Hintergründe zur Entstehung dieses Briefes geschildert, auch dass dieser kritische Text nur in stark zensierter Form überhaupt veröffentlicht werden konnte (S. 195). Yanagi spricht in ihm das koreanische Volk („meine koreanischen Freunde, die mir bekannten, wie die mir nicht bekannten“), direkt an, im Namen des japanischen Volkes, um die Herzen der beiden Völker, die im Grunde eng verbunden seien, zusammenzubringen (S. 195).

Yanagis Beschäftigung mit koreanischer Volkskunst führte 1924 zur Gründung des Koreanischen Volkskunstmuseums. 1984 wurde Yanagi posthum der Bogwan-Orden für kulturelle Verdienste verliehen, der erste, der einem Nichtkoreaner zuerkannt wurde. (Wikipedia, Eintrag „Yanagi Sōetsu“)

– denn es zeigt zugleich einige Widersprüche auf …

… zum Beispiel in seiner Theoriefindung

Während Yanagi keine europäischen Maßstäbe ansetzen und Charakteristika der japanischen Ästhetik aufzeigen möchte, formuliert er seine eigene Position in Anlehnung an europäische Konzepte – immerhin ist „Volkskunst“ ein Begriff, der in Österreich geprägt wurde, und Parallelen zu den Überlegungen von William Morris (1834-1896, Mitbegründer der Arts and Crafts-Bewegung) sind offensichtlich.

… zum Beispiel bei der Trennung von Volkskunst und „hoher Kunst“

Die Trennung zwischen Volkskunst und „hoher“ Kunst ist besonders unscharf, wahrscheinlich einer der schwächsten Punkte der gesamten Überlegungen.

Yanagi versucht, die beiden Bereiche anhand mehrerer Kriterien zu trennen – so sei die „hohe“ Kunst geprägt von der Individualität des Künstlers/der Künstlerin – aber gerade unter den Töpfern gab es einige sehr berühmte Künstler.

Besonders offensichtlich wird die Schwierigkeit, die beiden Bereiche voneinander zu trennen, an dem Essay, in dem Yanagi den Erwerb einer Tuschzeichnung von Sesshū – also ein Werk der „hohen“ Kunst – erklärt, fast rechtfertigt. Das Bild habe zu ihm gesprochen, ohne dass er die Herkunft gekannt hätte: Wichtig sei nicht die Signatur gewesen, sondern die direkte Wirkung des Werkes auf ihn.

Fläschchen mit grüner und weißer Glasur.

22. Sake-Flasche, Seto-Keramik, Edo-Zeit.

… zum Beispiel bei der Wahrnehmung von Kunst

Yanagi beschreibt einige Eigenschaften von Schönheit, schreibt aber zugleich, dass im Grunde die Intuition entscheide, was schön sei:

„Mein Glaube an die Intuition als Grundelement, Schönheit zu beurteilen, ist unerschütterlich geworden.“ (S. 147)

Yanagi unterscheidet prinzipiell zwischen Sehen – die Wirkung eines Objekts – und Wissen – dem theoretischen Hintergrund (S. 140). Seiner Meinung nach steht das Wissen dabei dem freien Blick, dem wahren Sehen, der Intuition, im Wege (S. 188, 190). Nur aber durch das wahre Sehen sei Schönheit begreifbar, erfahrbar. Wahre Schönheit ist durch Worte nicht beschreibbar (S. 191).

Brauner Ledermantel mit stilisiertem Muster.

23. Ledermantel eines Feuerwehrmannes, Ende des 19. Jahrhunderts.

– denn es schlägt den Bogen zu heutigem japanischen Design.

Yanagi schuf ein Bewusstsein für Alltagsobjekte, und gerade Produkte mit dem Label „mingei“ erfuhren in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine enorme Kommerzialisierung. Die Entstehungsbedingungen, die Yanagi als Voraussetzung beschrieb, waren gar nicht mehr anwendbar.

Doch in abgewandelter Form sind Yanagis Ideen noch immer aktuell. Ein Begriff, der in Yanagis Ästhetik eine Rolle spielte, war „muji“, den er als „Einfachheit“ (simplicity) interpretierte (S. 146).

 „MUJI“ ist heute die Kurzform für die Lifestyle-Kette „mujirushi ryōhin“ („keine Marke, gute Produkte“).

Zum Konzept: „MUJI ist geprägt von der Materialwahl, dem rationellen Herstellungsprozess und der generellen Einfachheit seiner Produkte und ihrer Verpackungen. Die Angebotspalette umfasst Schreibwaren, Büroartikel, Kosmetika, Haushaltsgeräte, Kleidung und Möbel. Namhafte Designer auf der ganzen Welt arbeiten für das japanische Unternehmen, allerdings anonym, so dass bei jedem Produkt unklar bleibt, wer es entworfen hat, da lediglich das Design und die pure Nützlichkeit der Produkte den Kunden überzeugen sollen, nicht aber bekannte Namen.“ (Wikipedia, Eintrag „MUJI“)

Auslage einer Muji-Filiale, gestaltet in Holz-Design.

24. MUJI-Filiale in Ōsaka.

– denn es enthält erstaunlich aktuelle Debatten.

Viele Punkte, die Yanagi behandelt, sind heute aktueller denn je. Sei es der vermehrte Konsum von Produkten aus der Region ohne lange Lieferwege, sei es der Umgang mit Alltagsgegenständen in einer Wegwerfgesellschaft (Frage der Nachhaltigkeit) oder grundsätzlich die Frage nach Schönheit: Bilder und Objekte, die immer weniger von Menschen, sondern zunehmend digital, durch künstliche Intelligenz, geschaffen werden.

Susanne Phillipps

(21.06.2023, Ausgabe 11)

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Bildnachweis

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Buch-Arrangement Yanagi Sōetsu: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

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04: By Auckland Museum, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65239334

05: By Materialscientist – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11802987

06: By Pre-war photographer – http://www.rekishi-archive.city.naha.okinawa.jp/archives/item3/33517, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38055571

07: By Unknown author – 綾部乙松.《伊呂波引定紋大全》. 盛花堂. 1897., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=72092998

08: By Image: http://collections.lacma.org/sites/default/files/remote_images/piction/ma-31809975-O3.jpgGallery: http://collections.lacma.org/node/238092 archive copy, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27304876

09: Von SK10DPB – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=41205623

10: By This file was donated to Wikimedia Commons as part of a project by the Metropolitan Museum of Art. See the Image and Data Resources Open Access Policy, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=58785052

11: By Chris Hazzard – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24514300

12: By Mccunicano – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=84223542

13: By Sadahiko Hibino – Ouminzui, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=84086078

14: By This file was donated to Wikimedia Commons as part of a project by the Metropolitan Museum of Art. See the Image and Data Resources Open Access Policy, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=110567207

15: Von Autor/-in unbekannt – Catalogue, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26939096

16: By TR15336300101 – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=78715432

17: Von Rameshng – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27330044

18: By Pekachu – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45707927

19: By Hiart – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=69837644

20: By ReijiYamashina – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26450428

21: By Wmpearl – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=57201454

22: Von Image: http://collections.lacma.org/sites/default/files/remote_images/piction/ma-31268611-O3.jpgGallery: http://collections.lacma.org/node/219550 Archivkopie, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27264322

23: By Unknown author – Brooklyn Museum, No restrictions, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=49646500

24: By Wing1990hk – Own work, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38783455