Hundert Jahre auf dem Land

Buch "Toshio" auf einem Tuch mit rot-braunem Muster

Simon Partner (2004): Toshié. A Story of Village Life in twentieth-century Japan. Berkeley [Kalifornien] und London: University of California Press; broschiert, 196 Seiten.

In atemberaubendem Tempo veränderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Leben auf dem Land: War zuvor der harte Alltag von Handarbeit, Entbehrungen und finanziellen Abhängigkeiten geprägt, verbesserte sich in den Jahrzehnten nach dem Krieg schrittweise der Lebensstandard der Menschen auf dem Land, näherte sich sogar dem der Städter an.

Entscheidend für diese Entwicklung war nicht nur der technische Fortschritt, der den Einsatz von Landmaschinen brachte. Auch die politischen Vorgaben und die Mobilität der Menschen trugen dazu bei.

Der Historiker Simon Partner betrachtet diese allgemein bekannte Entwicklung wie unter einem Brennglas am Lebenslauf einer bestimmten Frau: der 1925 geborenen Sakaue Toshie. Dazu führte er mit ihr und anderen älteren Dorfbewohnerinnen zahlreiche Interviews und sichtete große Mengen an Archivmaterial. Unterstützt wurde er in dem Vorhaben durch den japanischen Historiker Fukuda Hitoshi.

Den Fokus seines Vorhabens setzte Partner auf drei Aspekte (S. XIII-XIV): Zum einen wollte er das Leben von Sakaue Toshie nachzeichnen, das exemplarisch für Millionen von Menschen einer ganze Generation steht. Diese Lebensgeschichte ergänzte er um die großen Ereignisse der Zeit wie die Pächter-Konflikte der 1920er und 1930er Jahre, die Krise in der Landwirtschaft in den 1930er Jahren, die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und der Landreform der späten 1940er Jahre. Schließlich legte er ein besonderes Augenmerk auf die finanziellen Aspekte des Alltags: wie beispielsweise Bargeld und Konsumdenken langsam in dörfliche Regionen vordrang.

Ausschnitt aus einer japanischen Landkarte

01. Der Geburtsort von Toshie bei Niigata liegt in der Echigo-Ebene. Die Ebene besteht aus Schwemmland und erstreckt sich auf der Höhe der Präfektur Niigata entlang der Küste des Japanmeeres. Im Zentrum der Karte liegt an der Küste die Stadt Niigata (hellgrau beschriftet), die vorgelagerte Insel ist Sado.

Über das Buch

Das Buch besteht aus einer Einleitung (5 Seiten), dem Hauptteil mit 5 chronologisch aufeinanderfolgenden Hauptkapiteln (insgesamt 158 Seiten) und einem Schluss (11 Seiten). Der Anhang umfasst die Anmerkungen (11 Seiten), das Literaturverzeichnis (5 Seiten) und einen Index (7 Seiten). 17 Abbildungen aus den 1930er Jahren bis zur Gegenwart ergänzen die lebendigen und anschaulichen Beschreibungen.

Diese Empfehlung folgt der chronologischen Anordnung der Kapitel:

Kapitel 1 – Der Alltag auf dem Land in den 1920er Jahren (On the Banks of the Agano)

Kapitel 2 – Die Krisen der Landwirtschaft in den 1930er Jahren (The Making of a Japanese Citizen)

Kapitel 3 – Die Entbehrungen und Leiden der Kriegszeit (The Village goes to War)

Kapitel 4 – Die schwierige Nachkriegszeit (Rural Life under the Occupation)

Kapitel 5 – Und endlich die rapide Verbesserung der Lebensumstände zwischen 1955 und 1970 (Red Carpets and Whisky).

Annäherung an den Ort

Sakaue Toshie wurde 1925 in Kosugi geboren. Das kleine Dorf liegt in einer Schleife des Agano-Flusses, der die Echigo-Ebene durchzieht. Der Ort gehört heute zum Stadtgebiet von Niigata und liegt 350 Kilometer nördlich von Tōkyō an der Küste des Japanmeeres. Simon Partner beschreibt die Anreise in eine ländliche Ortschaft, wie es heute viele in Japan gibt: eine fast ausgestorbene Hauptstraße mit Bauernhäusern und landwirtschaftlichem Gerät am Straßenrand, einem Schrein und einem Tempel (S. 4).

02. Die Echigo-Ebene ist das größte Reisanbaugebiet in Japan. Hier wird der berühmte koshihikari angebaut, die Reissorte mit dem besten Ansehen in Japan (S. 5).

Von einem Löffel herunter rieselnde Reiskörner
Straße, von Grün umgeben

03. Das Gebiet ist heute immer noch ländlich. Hier ein Foto von der Präfekturstraße 46, die in der Nähe von Kosugi entlang des Flusses Koagano verläuft.

Straßenhinweisschild zum Flughafen von Niigata

04. Trotzdem ist die Stadt Niigata über Schnellstraßen, den Shinkansen und Flugverbindungen mit der Hauptstadt Tōkyō verbunden.

Das Dorf in den 1920er Jahren: Ein Leben wie vor Jahrhunderten

Trotz der günstigen Ausgangslage mit einem fruchtbaren Boden und der Möglichkeit zur Bewässerung mit Flusswasser lebten fast alle Bauern der Region in Armut und hatten damit zu kämpfen, überhaupt die Mahlzeiten auf den Tisch zu bekommen: Im Sommer mussten sie oft Reis für die Verpflegung der eigenen Familie nachkaufen. Die meisten Familien besaßen kein oder nur wenig Land und mussten für die Pacht der Felder, die sie bewirtschafteten, hohe Abgaben zahlen.

Schwarzweiß-Foto von einem Herrn mit Hut

05. Itō Bunkichi (1885-1951), Oberhaupt der Itō-Familie von Sōmi und Großgrundbesitzer der Region. Die Nachkommen der Familie Itō tragen seit acht Generationen denselben Vornamen. Familie Itō war eine der Familien mit dem größten Landbesitz in ganz Japan. Etwa 3.000 Pächter bearbeiteten ihr Land, insgesamt über 2.000 Hektar, gegen Bargeldzahlung oder gegen einen Anteil an der Ernte (S. 37).

Die Bauernfamilien lebten im Jahresrhythmus des Reisanbaus. Simon Partners Beschreibung aus den 1920er Jahren entspricht im Großen und Ganzen dem Vorgehen der vorangegangenen Jahrhunderte: Alle Arbeitsschritte mussten in Handarbeit erledigt werden, da die Bauern weder Tiere noch Maschinen oder Geld für künstlichen Dünger hatten (S. 21-23).

06. Reisernte mit Sicheln.

Sechs Bauern, die sich in den Reis hinunterbeugen, um die Halme mit Sicheln zu schneiden.

Die Familienmitglieder, auch die Kinder, verdingten sich neben der Landarbeit als Tagelöhner/innen: Sie flochten Körbe, webten und strickten Stoffe. Viele Bauernfamilien züchteten als Nebenverdienst Seidenraupen. Kurz vor der Verpuppung der Raupen, eine Zeit, in der die ganze Familie damit beschäftigt war, die Maulbeerblätter für die hungrigen Raupen heranzuschaffen, erhielten die Kinder schulfrei. Viele Jahre war dies ein Zubrot, als aber der Preis für Rohseide in den 1930er Jahre fiel, blieben die Familien, die mit Investitionen in Vorleistungen zu gehen hatten, auf ihren Schulden sitzen (S. 8-11, 17-20).

Die hygienischen Bedingungen und die Qualität des Brunnenwassers waren schlecht, im Haus lebten Läuse und Flöhe (S. 25). Immer wieder starben Menschen am Tsutsugamushi-Fieber (auch: Japanisches Flussfieber), einer Infektionskrankheit, die mit dem Fleckfieber vergleichbar ist. Eine medizinische Versorgung gab es kaum, die Kindersterblichkeit lag bei 20 Prozent, nicht nur wegen der Fehlgeburten und der Krankheiten, sondern auch wegen der Unfälle: Oft ertranken die unbeaufsichtigten Kinder in den Bewässerungskanälen der Reisfelder (S.26).

Schwarzweiß-Foto von zwei Mädchen, die ältere mit einem Spaten in der Hand

07. Töchter aus Bauernfamilien.

Schwarzweiß-Foto von einem Bauernhaus

08. Ein Bauernhaus.

– Die Erinnerungen des Großvaters, den Toshie sehr liebte, reichten bis in die Edo-Zeit zurück. Er hatte die Absetzung des Shōgun und die Wiedereinsetzung des Tennō an die Spitze des Staates noch miterlebt (S. 11).

Zwei ältere Geschwister lernte Toshie gar nicht kennen, da sie schon mit zehn bzw. zwölf Jahren aus dem Haus gegeben wurden, um in einem anderen Haushalt zu arbeiten (kuchi-berashi, „Reduzieren von Mündern“, d.h. ein Kind zur Arbeit aus der Familie geben, um es nicht mehr selbst ernähren zu müssen, S. 73).

Schwarzweiß-Foto von drei Frauen, die am Boden kniend in der Küche Essen zubereiten.

09. Arbeiten in einer traditionellen Küche.

– Mit fünf Jahren begann Toshie, im Haushalt und bei der Betreuung von Kindern mitzuhelfen (S. 53). 1932 wurde sie eingeschult und mit zwölf Jahren in den Haushalt einer reicheren Bauernfamilie gegeben, um dort in der Küche mitzuhelfen, Erledigungen zu machen und auf das jüngste Kind aufzupassen. Dort lernte sie Brot und Curry kennen (S. 72-73).

Veränderungen mit der zunehmenden Mobilität

Die bedeutendste Entwicklung der Zeit war der Auf- und Ausbau von Eisenbahnlinien. Die neuen Zugverbindungen führten Menschen, Güter und Informationen zusammen. Städte wurden für Landbewohner erreichbar, und viele junge Menschen, vor allem mit dem Wunsch nach Bildung oder einer Erwerbstätigkeit, wanderten in die Städte ab.

Über neue Vertriebsnetze erreichten in den 1920er Jahren immer mehr Konsumgüter die Dörfer. Fünfzig Jahre zuvor hätten die Bauernfamilien sie entweder selbst produziert oder ganz auf sie verzichten müssen: Soja-Sauce, Tōfu, Öl, Salz, Zucker, Fisch, Süßigkeiten und Kleidung. In den Dörfern eröffneten erste Geschäfte (S. 27-30).

Simon Partner schildert, wie mit der neuen Mobilität auch die Zentralregierung näher an die ländlichen Gebiete heranrückte: über die Angleichung von Inhalten in  Schulbüchern, über Postämter und Banken, durch eine Standardisierung der Nationalfeiertage und durch den Wehrdienst, der nun die Söhne aller Familien betraf.

Gerade bei der Armee wurden die herkömmlichen Verhältnisse manchmal auf den Kopf gestellt: Nicht selten wurden Söhne von Pächtern Vorgesetzte der Söhne von Großgrundbesitzern, da sie sich durch größere Anstrengungen auszeichneten und schneller befördert wurden. Trotzdem: Nach Hause aufs Land zurückgekehrt, herrschten dieselben Abhängigkeitsverhältnisse wie noch im letzten Jahrhundert (S. 30-31, 33, 36).

10. Vor den Schulen stand eine Statue von Ninomiya Sontoku (1787-1856), Agrarreformer und Schutzpatron der Lernenden. – Simon Partner führt an, welche Erziehungsinhalte in den 1940er Jahren betont, welche abgesetzt wurden. Die Schulbücher vermittelten die Silbenschriftsysteme, inhaltlich die neokonfuzianistischen Tugenden. Zur Zeit der nationalen Expansionsbestrebungen brauchte der Staat gehorsame Untertanen, von Anfang an spielten Soldaten eine große Rolle in den Schulbüchern, die Merksätze enthielten wie: „Soldat, schreite voran, voran!“ („Heitaisan, susume, susume“, S. 55-56).

Statue von Ninomiya Sontoku, wandernd, mit Sandalen, Reisig auf dem Rücken, dabei in ein Buch schauend
Schwarzweiß-Portrait des jungen Tennō Hirohito in Uniform aus dem Jahr 1932

11. Den Kindern wurde Tennō Hirohito als Idealfigur vermittelt, als ein zweiter Vater, der antrat, um das Volk glücklich zu machen und das Land in Wohlstand zu führen.

zwei Briefmarken aus dem Jahr 1940 mit der Aufschrift „Groß-Japan“

12. Gedenkmarken von 1940 zum 50. Jubiläum des Kaiserlichen Erziehungsedikts.

– In jeder Schule wurde eine Abschrift des Kaiserlichen Erziehungsedikts in einem besonderen Kabinettschrank aufbewahrt, der nur zu besonderen Gelegenheiten geöffnet wurde, dem man aber trotzdem immer Respekt erweisen musste  (S. 78-80).

 

Das Elend der Landbevölkerung in den 1930er Jahren

In der Mitte der 1920er Jahre begannen sich Pächter zu organisieren, um eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage gegenüber den Großgrundbesitzern herbeizuführen (S. 35). Wurden diese ersten Aktionen noch zögerlich ausgetragen, fielen sie in den verzweifelten Jahren der wirtschaftlichen Depression in den 1930er Jahren zunehmend militant und gewaltvoll aus (S. 41-42).

Es waren drei Begebenheiten, die die Landbevölkerung in den 1930er Jahren finanziell in den Abgrund stießen.

Mit dem Zusammenbruch des Börsenmarktes in New York im Oktober 1929 und der anschließenden Weltwirtschaftskrise fiel der Preis für Rohseide ins Bodenlose. Die Mittelschicht in den USA, die bisher Seidenprodukte gekauft hatte, verarmte, die japanischen Bauern konnten die aufwendig herangezüchteten Raupen in den Kokons nicht mehr verkaufen, die jungen Frauen verloren ihre Arbeit in den Seidenfabriken (S. 42-43).

Nach den Reisunruhen von 1918 war klar, dass die Reisverteilung auf den japanischen Inseln und in den Kolonialgebieten äußerst sensibel war und dass garantiert sein musste, dass die Städter mit preiswerten Grundnahrungsmitteln versorgt wurden. 1930 gab die japanische Regierung die Einfuhr landwirtschaftlicher Produkte aus Korea, damals japanisches Kolonialgebiet, frei. Dies ließ den Reispreis in Japan ins Bodenlose fallen. (S. 44-45).

In den Jahren 1931 und 1934 führten noch dazu schlechte klimatische Bedingungen zu Missernten. Die Bauernfamilien waren so verschuldet, dass viele in ihrer blanken Verzweiflung ihre Töchter in die Bordelle der Städte verkauften.

Journalisten recherchierten, führten Interviews und machten der Allgemeinheit die ausweglose Situation der ländlichen Bevölkerung bekannt. Dies rief große Anteilnahme hervor, und die Regierung reagierte mit Hilfsprogrammen (S. 48, 50-51).

Ein Mann bringt die geschnittenen Bündel an Reispflanzen heran, eine Frau zieht die Ähren durch einen Rechen

13. Bei der Reisernte. – Toshie und ihr Mann bestellten weiterhin ihr Feld und arbeiteten zugleich als Tagelöhner bei verschiedenen Infrastrukturprojekten (S. 136). Sie beendete ihre harte körperliche Arbeit mit vierzig Jahren nach einem Unfall auf einem Lastwagen, der sie zu einer Baustelle bringen sollte. Bei dem Unfall erlitt sie eine Kopfwunde. Danach nahm sie eine Halbtagsstelle bei der Versorgung der Schulkinder an, verrichtete Heimarbeit für eine Textilfirma und pflegte ihre Mutter.

Während des Zweiten Weltkriegs

Von 1937 bis 1952 war der Alltag selbst in einem abgelegenen Dorf in erheblichem Maße durch die Weltpolitik bestimmt: durch den Eintritt in den Krieg mit China, die Ausweitung zum Zweiten Weltkrieg, die Niederlage und die Besatzungszeit (S. 59-60).

Der Krieg brachte die Mobilisierung der gesamten Bevölkerung mit sich, die so genannte „Heimatfront“. Die jungen Männer mussten als Soldaten an die Front, die Dorfbewohner mussten höhere Steuern zahlen, Dienste zur Sicherung der Heimat und vor allem materielle Abgaben – Lebensmittel zur Versorgung der Soldaten – leisten.

Über Institutionen, die sich über Jahrhunderte etabliert hatten, wie die Nachbarschaftsgruppen (tonari-gumi) oder die Gemeinderäte (burakukai) übernahm die Regierung politische und wirtschaftliche Kontrolle in den Dörfern (S. 62-63). Deutschland diente als Vorbild hinsichtlich der Verbreitung des Radios zu Propagandazwecken (S. 64-65).

14. Ein japanischer Soldat der Kaiserlichen Armee. – Toshie verlor im Zweiten Weltkrieg beide Brüder. Nach dem Krieg besuchte ein Kamerad die Familie und brachte ihr die Armbanduhr und den Glücksbringer (o-mamori) eines Bruders (S. 94-96).

Ein junger Mann in voller Montur: Uniform der Kaiserlichen Armee
Zivilisten knien vor einem Radioapparat, einige halten sich ein Taschentuch vor das Gesicht

15. Toshie nahm alle Entbehrungen auf sich, bis zur Ansprache des Tennō im Radio (Gyokuon hōsō, 15. August 1945), in der er die Menschen dazu aufforderte, „das Unerträgliche zu ertragen und das nicht Erduldbare zu erdulden“ (zitiert nach Wikipedia): die Kapitulation.

Toshie war am Tag zuvor 20 Jahre alt geworden, stand unter Schock, fühlte sich verraten und war tief verzweifelt (S. 102).

Nach der Kapitulation Japans

Schwarzweiß-Foto von unten: Tennō Hirohito grüßt mit seinem Hut, neben im seine Frau

16. Trotzdem war Toshies Verbundenheit zum Tennō nicht gebrochen. Sie nahm an einer Reise nach Tōkyō teil, die Teil eines großen Programmes war:

Landbewohner reisten in Gruppen aus ihren Dörfern an und leisteten für drei Tage schwere Erdarbeiten, um das Gelände des Kaiserpalasts in Tōkyō wieder herzurichten. Ihre Verpflegung brachten sie selbst mit.

Zum Dank erschien der Tennō am Balkon und sprach zu den Männern und Frauen, die die ehrenamtliche Arbeit geleistet hatten (S. 120-122).

Nach der Kapitulation ging es darum, die Ernte einzubringen, zu überleben.

Langsam kamen die Besatzungssoldaten auch in die ländlichen Gebiete, allerdings nicht in die Dörfer, sondern in die Städte. Die Angst vor ihnen war umsonst gewesen: Sie erwiesen sich als höflich, gebildet, nicht bedrohlich (S. 103-104).

Auf einem Steg knien vier Jungs am Wasser und schauen neugierig in die Kamera

17. Japanische Jungen bei Kriegsende.

Zugabteil voll mit Soldaten, die am Boden sitzen.

18. Heimkehrende japanische Soldaten in einem Zug …

Japanische Soldaten am Bahnsteig, einer gibt einem anderen Feuer für die Zigarette

19. … und an einem Bahnsteig.

Die zweite Hälfte der 1940er Jahre war von Mangel geprägt, die Versorgung mit Lebensmitteln brach allenthalben zusammen. Städter erstanden Überlebenswichtiges auf Schwarzmärkten oder reisten in voll gepackten Zügen ins Umland, um etwas Essbares aufzutreiben (S. 105).

Die meisten Pächter nagten am Hungertuch, denn nach der Abgabe ihrer Quoten blieben ihnen keine Nahrungsmittel für die eigene Familie. Spatzen und Grillen mussten als Essen herhalten.

Als die Regierung erkannte, dass die Landbevölkerung zu schwach war, um weiterhin die Versorgung der Soldaten und der Bevölkerung zu gewährleisten, wurden ärztliche Versorgung, Essenszuteilungen und Kochgruppen organisiert (S. 85-87).

Stand mit Getränken im Angebot

20. Getränkestand auf einem Schwarzmarkt in Tōkyō.

21. Japanische Polizisten und US-amerikanische Militärpolizisten beschlagnahmen Schwarzmarktprodukte.

Polizist nimmt die Daten eines Zivilisten auf.

Die alliierten Besatzungsmächte starteten eine groß angelegte Landreform. Im Rahmen dieser Reform kaufte der Staat zwischen 1947 und 1949 von den Großgrundbesitzern etwa 38 Prozent der gesamten Agrarfläche Japans auf und verkaufte die Felder zu sehr günstigen Konditionen an die Bauern, die die Felder vorher als Pächter bewirtschaftet hatten.

Partner erklärt die Bedingungen und Preise, zu denen Pächter das Land erwerben konnten, das clevere Lavieren der Großgrundbesitzer und die mehr oder weniger positiven Folgen für die Bauern an verschiedenen Beispielen (S. 108-114).

Bis 1950 erwarben etwa drei Millionen Bauern Land, eine grundlegende und nicht zu unterschätzende Umgestaltung der Besitzverhältnisse, die von Alters her die ländlichen Bereiche geprägt hatten (S. 105-114).

22.-23. Das Northern Culture Museum von Niigata in der ehemaligen Residenz der Itō von Sōma (siehe Abb. 05) veranschaulicht das prachtvolle Leben damaliger reicher Großgrundbesitzer. Itō Bunkichi VII formte den Wohnsitz der Familie zu Zeiten der Landreform zu einem Museum um. Es öffnete im Januar 1946. Sein Sohn Bunkichi VIII wurde Direktor des Museums (S. 114).

 

Der große Wohnraum des Itō-Hauses, heute das Museum für Nördliche Kulturen.
Blick in den Garten des Itō-Hauses

Die wirtschaftliche Hochwachstumsphase

Zwischen 1955 und 1970 wuchs die japanische Wirtschaft jährlich durchschnittlich um zehn Prozent. Der Konsum kurbelte die Wirtschaft an; erst fanden Fernseher, Waschmaschinen und Kühlschränke Eingang in die Wohnungen, Staubsauger und Kameras, Stereoanlagen und Whisky folgten. Neubauten schossen aus dem Boden, Autos wurden angeschafft (S. 124-135).

Die Befürchtung, dass ländliche Regionen in der Entwicklung zurückbleiben könnten, erwies sich als unbegründet. Hersteller von Elektrogeräten präsentierten auf dem Land andere Werbekampagnen als in den Städten, die Nützlichkeit der Maschinen betonend, und etablierten spezielle Vertriebsnetze. Der Konsum auf dem Land garantierte den weiteren Absatz von Produkten, als zu Beginn der 1960er Jahre der Markt in den Städten schon weitgehend gesättigt war (S. 128-131).

altes Fernsehgerät, braun-weiß, mit vier Knöpfen

24. Fernseher der Marke Tōshiba aus dem Jahr 1962.

Japanische Hersteller waren unter den ersten, die Maschinen für den Nassreis-Anbau anboten. Simon Partner erklärt die Funktionsweise eines in Japan erfundenen Reispflanzers, der die zarten Sprösslinge in den Boden setzt, ohne sie abzuknicken. 1975 war die japanische Landwirtschaft die am höchsten mechanisierte – und zugleich die ineffizienteste – weltweit (S. 143-149).

Maschine, die Reisschösslinge in den Boden bringt

25. Maschine zum Reispflanzen.

26. Maschine zum Reispolieren.

– Das kleine Stück Land, das sie besitzt, lässt Toshie heute gegen Bezahlung von einem Nachbarn mitbewirtschaften (S. 155).

unter einem Trichter ein Sack, in den der polierte Reis hineingefüllt wird

Die Angleichung des Lebensstandards auf dem Land an den der Stadt hatte zwei Ursachen. Zum einen protektierte und subventionierte die Regierung die Landwirtschaft: Sie kaufte Reis und andere landwirtschaftliche Produkte zu festen, jährlich steigenden Preisen auf, die sich an den Industrieeinkommen orientierten, und gab sie anschließend unter dem Ankaufpreis ab. Zum anderen arbeiteten Landbewohner im industriellen Sektor und bewirtschafteten ihre kleinen Felder zunehmend nur noch am Feierabend und Wochenende (S. 129-130).

Empfehlenswert: Zwischen so genannter großer und kleiner Geschichte

Das Besondere an diesem Buch ist die Art und Weise, wie Simon Partner den Lauf der Ereignisse präsentiert: Er wechselt regelmäßig zwischen genauen Beschreibungen konkreter Situationen und allgemeineren Überblicken, Statistiken und offiziellen Berichten.

27. Simon Partner beschreibt die einzelnen Stadien der Seidenraupen, die sich an den Maulbeerblättern laben, so anschaulich, dass sich das Gefühl einstellt, man habe die Raupen selbst angefasst (S. 17-20).

weiße Seidenspinnerraupen auf Maulbeerblättern

Detaillierte Situationsbeschreibungen …

Er beschreibt die Orte, das Aussehen und Verhalten der Beteiligten manchmal so detailliert, dass der Eindruck entsteht, die Szene sei mit einer Kamera aufgenommen worden oder man nehme selbst an ihr teil.

Zum Beispiel gleich zu Beginn des Buches die Umstände, unter denen Toshie am 14. August 1925 geboren wurde: Die Mutter lag in dem fensterlosen Raum, in dem die Familie ansonsten schlief, auf rauen, mit Asche unterfütterten Strohmatten, die das Blut auffingen. Zur Seite stand ihr eine Hebamme, die vom Nachbardorf gekommen war. Ein Teil der Nabelschnur wurde Toshie als Verbindung zu den Ahnen mitgegeben, die Plazenta und die von Blut getränkten Strohmatten wurden vergraben (S. 1-2).

Oder: die Zusammenkünfte im tiefsten Winter, wenn in dem eiskalten Bauernhaus das Bad eingeheizt wurde, die Nachbarn zusammenkamen, erzählten und entsprechend ihrem Rang nacheinander in das erst heiße, dann nur noch lauwarme und immer schmutzigere Wasser eintauchten: Man glaubt, inmitten der wartenden, schnatternden Runde zu sitzen und den spielenden Kindern über die Schultern zu schauen (S. 16).

vier Kinder auf einer Holzveranda beim Spiel mit Bohnen als Spielsteinen, ein kleines Kind hat ein Baby auf dem Rücken

28. Kinder beim Spielen mit Bohnen.

Simon Partners Technik besteht darin, Situationen aus der Sicht und mit dem Wissenshorizont der Zeitgenossen zu schildern. Hier fließen die persönlichen Erfahrungen Toshies und ihrer Freundinnen ein. Wissen, das man aus der Rückschau haben kann, das den Beteiligten damals aber nicht zu Verfügung stand, gibt er erst im Anschluss.

Toshie weiß beispielsweise nichts über die Erlebnisse ihrer Brüder an der Front. Partner vergleicht zwei Fotos von Toshies Bruder Rikichi: Eines zeigt ihn mit vier Freunden vor seinem ersten Einsatz an der Front, das zweite mit Kameraden nach einem Jahr in China. Der Vergleich zeigt, dass das eine Jahr ihn schon rein äußerlich zu einem anderen Mann gemacht hat (S. 67, 70). Partner rekonstruiert mögliche Erfahrungen von Rikichi anhand von Briefen und  Kriegsberichten anderer Soldaten.

Auf diese Weise beschreibt er auch Stimmungslagen und Veränderungen im Alltag, zum Beispiel wie Frauenvereine die Verabschiedung der Männer organisierten, bei den Begräbnisfeiern der Gefallenen halfen, Päckchen an die Soldaten an der Front sandten (S. 88-90).

eine japanische Flagge versehen mit Grüßen in schwarzer Schrift

29. Eine Flagge mit guten Wünschen, kurzen Versen und Zeichnungen (yosegaki Hinomaru), die Verwandte und Freunde für einen Soldaten anfertigten und ihm als Glücksbringer mitgaben.

– Die Verabschiedungszeremonien für die Soldaten wurden im Lauf der Zeit immer stärker reguliert: Immer neue Regeln legten fest, wie viel Sake wo getrunken, welche Geschenke überreicht werden durften, wer den Bahnhof betreten, wer noch eine Station mit dem Zug mitfahren durfte (S. 88).

… und offizielle Berichte, Verträge und Statistiken

Seine Beschreibungen unterfüttert Partner mit Daten, z.B. zum Jahreseinkommen und zur Verschuldung von Bauern (S. 23) oder zu den durchschnittlichen Ausgaben für Konsumartikel in der Stadt und auf dem Land (S. 129). Er zitiert aus Berichten ausländischer Reisender (S. 24), Regierungs- (S. 44) und Zeitungsberichten (S. 47-48). Tagesordnungspunkte der Sitzung eines Dorfrats aus dem Jahr 1942 (S. 64) oder Ausschnitte aus einem Bericht der Geheimpolizei geben einen Eindruck von der Stimmungslage unter den Bauern (S. 82). Auszüge aus den Haushaltsbüchern von Toshie machen den Alltag regelrecht greifbar (S. 140-141).

Interessant ist die Gegenüberstellung der wirtschaftlichen bzw. finanziellen Seite von Toshies arrangierter Hochzeit mit ihren tatsächlichen Gefühlen (S. 117-119). Die himmelschreiend ungerechten Bedingungen, die hoch verschuldete Eltern in ihrem Elend unterzeichneten, um ihre Töchter an Bordelle in Tōkyō zu verkaufen, machen betroffen (S. 49).

Die Verbindung der beiden Ebenen

Die Beschreibung der landesweiten politischen und wirtschaftlichen Lage und der Geschehnisse in der Familie ergänzen sich gegenseitig, die Übergänge sind gut formuliert. Zur Zeit der Wirtschaftskrise steht beispielsweise eines Tages der Onkel von Toshie mit seiner Familie verhärmt und wirtschaftlich ruiniert vor der Tür. Trotz größter Bemühungen reicht das Auskommen nicht, seine Familie im Haushalt mitzuversorgen (z.B. S. 51-52).

Abschließend vergleicht Simon Partner den Lebenslauf von Toshie mit der allgemeinen Wahrnehmung der Shōwa-Zeit (1926-1989). Generell wird die Ära in zwei Phasen unterteilt: die Vorkriegs- und Kriegszeit (die „dunkle“ Shōwa-Zeit) und die Besatzungszeit mit der anschließenden Phase des wirtschaftlichen Wachstums (die „leuchtende“ Shōwa-Zeit).

Toshies Lebenslauf war von Schicksalsschlägen geprägt: die psychisch kranke Schwester, die immer wieder verschwand, in der Öffentlichkeit ein auffälliges Verhalten zeigte, deshalb ständig bewacht und umsorgt werden musste; die beiden Brüder, die im Krieg fielen; die harte, körperliche schwere Arbeit; die Krebserkrankung des Vaters, eine lange Kinderlosigkeit mit einigen Fehlgeburten.

Simon Partner beurteilt ihre erste Lebenshälfte tatsächlich als „dunkel“, da sie in starken Abhängigkeits- und Machtverhältnissen aufwuchs, vorgegeben vom Staat, von der Dorfgemeinschaft, von den familieninternen Hierarchien, die ihr in keiner Lebenssituation eine Entscheidungsfreiheit über ihr eigenes Leben ließen (S. 161-162). Ihre jetzige Lebenssituation in einem komfortablen Haus, umgeben von Freunden, versorgt von einem Gesundheitssystem ist unvergleichlich viel besser.

Doch er sieht auch Abweichungen von der allgemeinen Entwicklung, darunter die lange, fast zwei Jahrzehnte andauernde, sehr schwierige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Toshie als die härteste ihres Lebens in Erinnerung ist.

Genau dieses ineinander Verwobene des Einzelschicksals von Toshie mit dem großen Lauf der Geschichte macht das Buch sehr spannend und lesenswert.

Susanne Phillipps

21.12.2021 (Ausgabe 05)

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Abbildungsnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Buch-Arrangement Toshie: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: By Peka (talk · contribs) – File:Geofeatures map of Chubu Japan ja.svg, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=102249364

02: By Emran Kassim from Nagoya, Aichi, Japan – こしひかり- Koshihikari, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7135799

03: By Altomarina – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=23200325

04: By Drph17 – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=89287740

05: By Unknown author – 自由通信社編『輝く憲政』、自由通信社、1937年, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=85567722

06: By Unknown photographer – F. H. King, Farmers of forty centuries, 1911, p. 304., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=84964500

07: By A.Davey from Portland, Oregon, EE UU – Detail – Japanese Farm Girls, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61164882

08: 伊藤ていじ- Own work by T,Itou, CC 表示-継承3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6899149による

09: By Adolfo Farsari – http://www.bibliotecabertoliana.it/mostre/87LQ1353.jpg[dead link], Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10464704

10: Von Tak1701d – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7557492

11: Von Bundesarchiv, Bild 102-12923 / CC BY-SA 3.0 DE, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5480774

12: By 大日本帝国逓信省- 投稿者自身のコレクションをスキャン, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3873712

13: By A.Davey from Portland, Oregon, EE UU – Rice Harvest, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61163969

14: Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1071040

15: By (Unknown) – Japan's Longest Day, 1968 english language edition, page 262, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6044645

16: By Agence France-Presse (AFP) – AFP database. Acreditted by Clarín. Direct link., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=71961572

17: Von National Museum of the U.S. Navy – 80-G-473766 (TR-15640), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70725249

18: Von National Museum of the U.S. Navy – 80-G-473762 (TR-15654), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70725253

19: Von Wayne F. Miller – U.S. National Archives and Records Administration, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16116836

20: By Unknown author – Japanese book "Illustration of Showa History Vol.9" published by Shueisha Inc. This photograph has already been made public., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5016624

21: Von US military Photograph – Japanese book "Records of Defeated Country Japan" published by Archives Shuppan. United States Armed Forces owns this original photograph., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3195417

22: Sgico, CC 表示-継承3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65964314による

23: Sgico, CC 表示-継承3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65964343による

24: By Daderot – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61373717

25: Von katorisi – Eigenes Werk, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1984132

26: By I, Katorisi, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2327823

27: Von Kuebi = Armin Kübelbeck – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3038288

28: By A.Davey from Portland, Oregon, EE UU – Bean Game, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61201833

29: By Bruce C. Cooper (uploader) digital image – Uploader's private collection, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=78932665