Schneller, weiter, moderner – Was der Ausbau des Zugverkehrs in Tōkyō für die Menschen bedeutete

Das Buch gemeinsam mit einem Plan des Tokyoter Bahnnetzes auf einer Schiene platziert.

Freedman, Alisa (2011). Tokyo in Transit. Japanese Culture on the Rails and Road. Stanford: Stanford University Press; 334 Seiten.

In Tōkyōs Zügen und Bussen lassen sich gesellschaftliche Entwicklungen besonders deutlich ablesen. Hier, im weltgrößten Netzwerk des öffentlichen Nahverkehrs, verbringen die unterschiedlichsten Menschen Tag für Tag viele Stunden, umgeben von Fremden, mit denen sie zeitweise auf engstem Raum miteinander auskommen müssen. Mit Inbetriebnahme der ersten Bahnverbindung in Japan wurden deshalb Verhaltensweisen angemahnt, die ein reibungsloses Miteinander gewährleisten sollten.

Alisa Freedman verbindet in ihrem Buch die Geschichte des Tōkyōter Bahnnetzes mit den sozialen Entwicklungen, die mit der raschen Urbanisierung von Tōkyō einhergingen, präsentiert gewissermaßen die Geschichte der für Tōkyō typischen „Kultur der Pendlerinnen und Pendler“ (commuter culture). Anhand ausführlicher Interpretationen zeitgenössischer Literatur zeigt sie auf, wie der Massentransport Einfluss auf das soziale Gefüge von Tōkyō nahm und Verhaltensformen hervorbrachte, die heute für das moderne Japan stehen.

Über die Autorin

Alisa Freedman ist Professorin für japanische Literatur, Kulturwissenschaften und Gender an der Universität von Oregon. Sie verfasste zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen, ihre Themengebiete reichen von Studien zu Tōkyō über digitale Medien, Alltags- und Populärkultur bis hin zu Lehrmethoden. Sie ist als Übersetzerin aktiv und gibt als Chefredakteurin das „U.S.-Japan Women’s Journal“ heraus.

Über das Buch

Das Buch umfasst:

  • eine Einleitung: historische Übersicht, Bahn und Bus als kulturelle und soziale Vehikel ihrer Zeit (S. 1-26)
  • Kapitel 1: Das Zusammentreffen verschiedener sozialer Schichten während der Anfänge des Bahnverkehrs in Tōkyō, 1900er Jahre (S. 27-67)
  • Kapitel 2: Die Angst der Studenten, 1910er Jahre (S. 68-115)
  • Kapitel 3: Umsteigebahnhöfe wie Shinjuku als Ikonen des modernen Lebens, ab den 1920er Jahren (S. 116-172)
  • Kapitel 4: Fantasien über „Bus Girls“, 1920er-1960er Jahre (S. 173-224)
  • ihre Übersetzung von Kawabata Yasunaris Erzählung „Shitai shōkainin“ von 1929: „The Corpse Introducer“ (S. 225-266)
  • einen Anhang mit einem ausführlichen Anmerkungs- und Literaturverzeichnis sowie einem Index (S. 267-334)

Die vier Hauptkapitel ähneln sich in ihrem Aufbau: Am Anfang steht eine Beschreibung der Geschichte des Nahverkehrs in dem betreffenden Jahrzehnt und den mit ihr verbundenen sozialen Entwicklungen. Freedman sieht die Veränderung des Transportwesens immer auch als Zeichen des wachsenden Imperialismus und Kapitalismus Japans.

Es folgt eine Darstellung von Trends in Journalismus, Literatur und Popkultur. Als Untersuchungsmaterial zur Beschreibung der Menschen in Bus, Bahn und Bahnhöfen dienen der Autorin zeitgenössische Hand- und Jahrbücher, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Schlager, Fotobücher und Karikaturen, vor allem aber Erzählungen und Romane berühmter Literaten.

Für jedes Kapitel wählt Alisa Freedman eines oder mehrere literarische Werke aus. Diese stellt sie inhaltlich vor und setzt sie in den Kontext zu anderen Veröffentlichungen des Autors. Der genaue Blick der Schriftsteller legt Aspekte des Alltagslebens des Jahrzehnts offen: „kaleidoskopische Montagen der Metropole“ (S. 17). Sie fasst die Erzählungen zusammen, zitiert wichtige Passagen in Übersetzung und interpretiert sie in Hinblick auf bestimmte Rollenmuster, die in den Jahrzehnten im Nahverkehr zu beobachten waren.

Holzblockdruck mit mehreren kleinen Bildern z.B. von einer Dampflok, einem Fahrrad, einer Rikscha, einer pferdegezogenen Straßenbahn.

01. Alt hergebrachte und ganz neue Transportformen in Japan, 1889.

Zug mit Dampflok bei Dämmerung, die Fenster der Personenwagen sind hell erleuchtet.

02. Zug mit Dampflok, Holzblockdruck von Kobayashi Kiyochika, 1879.

Schwarzweiß-Foto einer Dampflok

03. Dampflokomotive, Mitte der 1920er Jahre. Dampflokomotiven waren ein Symbol der Modernisierung und des industriellen Fortschritts.

Wissenschaftlich orientierte sich Alisa Freedman unter anderem an Wolfgang Schivelbuschs Studie „Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert“ und an den Untersuchungen des Architekten und Designers, zugleich auch Ethnografen und Soziologen Kon Wajirō aus den 1920er und 1930er Jahren. Dieser beobachtete die sozialen Veränderungen in Tōkyō, die unter anderem auf die neuen Transportmittel zurückzuführen waren (S. 21).

Schwarzweiß-Foto eines Bahnsteigs. Fahrgäste lehnen sich aus den Zugfenstern hinunter zu den Männern, die mit Essenskörben am Bahnsteig stehen.

04. Bentō-Verkauf am Fenster bei einem Zwischenstopp, etwa 1902.

Ein kurzer geschichtlicher Abriss

In der Einleitung wird die schrittweise Vergrößerung des Bahnnetzes in und um Tōkyō dargelegt, die in einer Mischung von Privat- und Staatslinien vorangetrieben wurde. War Tōkyō zuvor über die Wasserwege versorgt worden, verlagerte sich jetzt der Verkehr schrittweise auf die Schienen (S. 5). Ein Meilenstein dabei war die Fertigstellung der Yamanote-Linie, der Ringbahn in Tōkyōs Zentrum, im Jahr 1925.

Schwarzweiß-Foto eines zweistöckigen Gebäudes auf einem weiten, ziemlich unbelebten Platz.

05. Bahnhof Shinbashi, 1899.

Schwarzweiß-Foto zweier Schienenstränge, von Bahnsteigen und Bahnhofsgebäuden gerahmt.

06. Bahnsteig am Bahnhof Yokohama, Anfang der 1900er Jahre. Die erste Eisenbahnlinie Japans wurde am 14. Oktober 1872 fertiggestellt. Sie verband Shinbashi in Tōkyō mit Yokohama.

Alisa Freedman zeichnet die sozialen Entwicklungen rund um den Bahnverkehr nach, erwähnt Aufstände, bei denen Bahnen zerstört wurden, und erzählt von den berühmt-berüchtigten Überbelegungen von über 200 Prozent während der Hauptverkehrszeit am Morgen („Pendler-Hölle“, tsūkin jigoku) mit den Bahnangestellten, die die Fahrgäste in die Züge schieben (oshiya). In engem Zusammenhang mit ihrem Thema steht auch die schon früh einsetzende Diskussion um die Bereitstellung von Wagen, die in der Rushhour am Morgen und bei der letzten Fahrt in der Nacht nur von Frauen benutzt werden dürfen (S. 10, 12).

Alle technische Entwicklungen hatten von Anfang an ihre begeisterten Anhänger, eine große Fan-Gemeinde so genannter „train watchers“ entwickelte sich (und existiert bis heute): vor allem Männer, die ausgesuchte Streckenabschnitte und Bahnhöfe besuchen, um ganz spezielle Züge zu sehen, zu fotografieren und zu filmen.

Der Aufenthalt in öffentlichen Verkehrsmitteln wurde für die Pendlerinnen und Pendler zu einem zweiten Zuhause. Die Strecke zwischen Wohn- und Arbeitsort bot Zusammentreffen mit Fremden und die Chance zur Selbstreflexion. Es bildeten sich ganz besondere Verhaltensmuster und Interaktionen heraus (S. 5). Laut Alisa Freedman war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zeit, in der sich bestimmte gesellschaftliche Gruppen formten (wie die der Studenten, der Arbeiterinnen, der Angestellten aus der Mittelschicht) und sich damit auch Gender-Rollen entwickelten, die bis heute Gültigkeit haben (S. 1).

Folglich spiegeln die Transportmittel und Bahnhöfe Räume wider, die die Reglementierungen der japanischen Gesellschaft zum Vorschein kommen lassen: Der Blick auf den Nahverkehr legt die Entwicklung der städtischen Moderne offen, die schnellen Änderungen, die während der Phase der Modernisierung auf jede/n einzelne/n zukamen.

Das Zusammentreffen verschiedener sozialer Schichten (1900er Jahre)

Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Frauen und Männer unterschiedlicher Klassen zum ersten Mal auf engem Raum zusammen und mussten miteinander auskommen: Während sie aus den neu entstandenen Vororten ins Zentrum pendelten, kamen Angestellte der Mittelklasse mit Schulmädchen (jogakusei) aus der Oberschicht zusammen. In den Erzählungen treffen Goldschmuck und teure Kleidung auf abgetragene Schuhe, Symbole der ökonomischen Ungleichheit.

Zur Veranschaulichung dient die Erzählung „Shōjobyō“ (wörtl. „Mädchen-Krankheit“, übersetzt als „The Girl Fetish“, 1907) von Tayama Katai. Es ist die Geschichte eines Pendlers, der die jungen Mädchen anstarrt und sich in seiner Fantasie eine Beziehung zu einem der Mädchen vorstellt, das für ihn im richtigen Leben unerreichbar ist. Das Auge auf die junge Frau gerichtet, verliert er in einem vollen Wagen eines Tages seinen Halt, stürzt auf die Schienen und verunglückt tödlich.

Schwarzweiß-Foto einer jungen Frau im Kimono mit einem breiten Obi, der in einer Schleife vorn gebunden ist.

07. Schülerin der Taishō-Zeit (1912-1926).

Portrait in Schwarzweiß, im Kimono, mit Brille und Schnauzbart.

08. Tayama Katai (1872-1930) war ein bedeutender Vertreter des japanischen Naturalismus und verfasste vor allem bekennende, autobiografische Werke (Shishōsetsu).

Nicht nur das Anstarren, sondern auch sexuelle Übergriffe auf Mädchen und Frauen im Gedränge voller Züge führten dazu, dass schon 1912 Wagen nur für Mädchen und Frauen bereitgestellt wurden (S. 56-57). Auf der anderen Seite wurden auch Frauen für ihr ungebührliches Verhalten in der Bahn kritisiert. Ab den 1920er Jahren wurden Hinweise und Regeln, auch in Form von Filmen, zum Verhalten in Bus und Bahn veröffentlicht. Die Ärgernisse scheinen sich über das letzte Jahrhundert nicht groß geändert zu haben, heutige Benimm-Poster thematisieren ähnliche Probleme (S. 66-67).

Kolorierte Aufnahme eines Straßenbahnwagens unter einem blühenden Kirschbaum.

09. Straßenbahn in Tōkyō, um 1910. Elektrifizierte Züge und Straßenbahnen galten als Zeichen moderner Urbanität.

Die Angst der jungen Männer vor den Bahnen (1910er Jahre)

Junge Männer mit einer guten Ausbildung waren seit Beginn der Meiji-Zeit (1868-1912) die Hoffnungsträger der jungen Nation, sie garantierten den Aufstieg Japans in die Riege der wirtschaftsstarken Staaten. In der Annahme, eine gute Ausbildung garantiere einen ausgezeichnet dotierten Arbeitsplatz, schickten viele Familien, die es sich irgendwie leisten konnten, ihre Söhne zum Studium nach Tōkyō.

 

Sōseki in seinem Arbeitszimmer vor seinem niedrigen Arbeitstisch kniend.

10. Natsume Sōseki (1867-1916), im Dezember 1914.

Nach dem Sieg über Russland (1905) und der anschließenden massiven Zuwanderung aus den ländlichen Gebieten nach Tōkyō war eine gute Anstellung aber keine Selbstverständlichkeit mehr. Viele junge, desillusionierte Männer verloren inmitten der umwälzenden Veränderungen, die die rapide Modernisierung mit sich brachte, ihre Orientierung und strandeten gesellschaftlich. Als Paradebeispiel einer solchen Erfahrung gilt die Figur Sanshirō in Natsume Sōsekis gleichnamigen Roman von 1908 (S. 90).

Der junge Mann kommt als Student vom Land nach Tōkyō und kämpft darum, mit dem Alltag in der Großstadt fertigzuwerden. Sōseki beschreibt Züge als neu entstandene soziale Orte, zugleich steht ihre Geschwindigkeit symbolisch für die physischen Anstrengungen, die Menschen aufbringen müssen, um mit dem Tempo der Modernisierung Schritt zu halten.

Schwarzweiß-Foto einer Vorrichtung für einen großen, in die Höhe ragenden Bohrer, darum herum Menschen, die in Anzügen und mit Hüten festlich gekleidet sind.

11. Erster Spatenstich für die Ginza-Linie der Tōkyōter U-Bahn zwischen Ueno und Asakusa am 27.09.1925.

Shinjuku, der am meisten frequentierte Bahnhof Tōkyōs (ab 1925)

Vor allem in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, als die Bevölkerungszahl von Tōkyō erneut rasch anstieg, wurde intensiv in die Erschließung neuer Vororte investiert. Privatbahnen brachten die Pendler bis zur Ringbahn Yamanote-sen. Dort entstanden die heute weltberühmten, gigantischen Umsteigebahnhöfe im Westen der Ringbahn: Ikebukuro, Shinjuku und Shibuya.

Der Bahnhof Shinjuku, in seinen Anfängen ein Posten auf einer Überlandstraße, eher desolat und immer mit Prostitution in Verbindung gebracht, wurde ein riesiges Drehkreuz für viele Bahnlinien, ein Symbol der neuen Urbanität. Er wurde zu einem Ort der Mittelklasse – der Angestellten (sararī man, von engl. „salary man“), eine Stätte, an der sich Menschen trafen, Besorgungen machten, wo sich Paare für ein Rendezvous verabredeten. So gab es zum Beispiel eine riesige Tafel, auf der Bahnkunden Nachrichten für Freunde und Verwandte hinterlassen konnten.

Einen Modernisierungsschub erfuhr der Bahnhof bei seinem Wiederaufbau nach dem Großen Erdbeben von 1923: öffentliche Telefone und automatische Ticketmaschinen, Verkauf von Lunch-Paketen (Bentō), Eröffnung von Restaurants, Bücherständen und Kiosken mit lokalen und saisonalen Produkten (S. 142).

Modernes Bahnhofsgebäude aus Stein, auf der Front ist mittig eine große Uhr angebracht. Der Vorplatz ist sehr belebt: voller Passanten und Automobile.
Modernes Bahnhofsgebäude aus Stein, mit großen Glasfenstern. Der Vorplatz ist sehr belebt: voller Passanten und Automobile.

12.-13. Der Bahnhof Shinjuku in den Jahren 1925 und 1932.

Für die Charakterisierung des Bahnhofs Shinjuku dienen reportagenhafte Literaturskizzen unter anderem von Funabashi Seiichi („Shinjuku station“ / „Shinjuku eki“, 1931) und Hayashi Fusao („One Hour in a Trainstation“ / „Teishaba no ichijikan“, 1929). Die Autoren bewegen sich als Flaneure in und um den Bahnhof, nehmen die Umgebung in sich auf und beschreiben sie skizzenhaft in einem Stil ganz nahe dem Journalismus. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr einzelne Figuren, sondern die Stadt an sich: Objekte, Orte, Situationen und Interaktionen, oftmals mit einem Augenmerk auf gern übersehene Kleinigkeiten, die die damaligen Klassenunterschiede zeigen. Stilistisch werden die literarischen Stadtbilder fast filmisch aus verschiedenen Perspektiven, in verschiedenen Tempi, unterstützt durch Beschreibungen von Geräuschen und Gerüchen eingefangen (S. 124-125, 168).

Schwarzweiß-Foto von Funabashi Seiichi im Kimono vor seinem Schreibtisch.

14. Funabashi Seiichi (1904-1976), Verfasser von Bühnenstücken und Erzählungen.

Schwarzweiß-Foto eines einstöckigen, aus Holz gebauten Bahnhofs.
Schwarzweiß-Foto aus der Vogelperspektive auf ein modernes, mehrstöckiges, aus Stein gebautes Bahnhofsgebäude.

15.-16. Bahnhof Ueno: Altes Bahnhofsgebäude (1912) und Eröffnungszeremonie für das neue Gebäude (April 1932). Bis zur Mitte der 1920er Jahre waren die meisten Bahnhofsgebäude aus Holz gebaut (S. 141).

Die Bahnhöfe wurden soziale Treffpunkte, es gab Restaurants und Läden mit allen Dingen des täglichen Gebrauchs. Ab 1928 nannten sich die großen Geschäfte „depāto“, nach dem englischen Wort „department store“, und die Eröffnung ihrer Zweigstellen in und um die Bahnhöfe markierte den Beginn der erfolgreichen engen Verbindung zwischen Bahnhöfen und Kaufhäusern. Die Umsteigebahnhöfe wurden zum Inbegriff der Symbiose von Bahnfahren, Konsum und Unterhaltung (S. 144).

Werbung über eine ganze Zeitungsseite: oben rechts ein Foto des Kaufhauses, unten rechts in großen Schriftzeichen „Matsuya“, die restliche Seite ist mit Werbetext gefüllt.
Werbung über eine ganze Zeitungsseite: oben rechts ein Foto des Kaufhauses, unten rechts in großen Schriftzeichen „Matsuzakaya“, die restliche Seite ist mit Werbetext gefüllt.
Werbung über eine ganze Zeitungsseite: unten links ein Foto des Kaufhauses, rechts mittig in großen Schriftzeichen „Mitsukoshi“, die restliche Seite ist mit Werbetext gefüllt.
Werbung über eine ganze Zeitungsseite: unten links ein Foto des Kaufhauses, rechts mittig in großen Schriftzeichen „Shirokiya“, die restliche Seite ist mit Werbetext gefüllt.
Werbung über eine ganze Zeitungsseite: oben rechts ein Foto des Kaufhauses, unten rechts in großen Schriftzeichen „Takashimaya“, die restliche Seite ist mit Werbetext gefüllt.

17.-21. Werbung für die großen Kaufhäuser der 1930er Jahre:

Matsuya, Matsuzakaya, Mitsukoshi, Shirokiya, Takashimaya

Die „bus girls“ als „modern girls in motion“ (1920er-1960er Jahre)

Die erste Buslinie in Japan wurde 1903 in Betrieb genommen, und besonders nach dem Großen Erdbeben in Tōkyō 1923, als die Schienen und Bahnhöfe zerstört waren, wurden die Buslinien ausgebaut. Schaffnerinnen, so genannte „bus girls“, wurden in Bussen eingesetzt, die außer dem Fahrer kein weiteres Personal mitführten („wan man basu“ von engl. „one man bus“), später arbeiteten sie als Tour Guides, die die Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke erklären. Die Arbeit als „bus girl“ war eine der vielen neuen Möglichkeiten des Gelderwerbs, die sich jungen Frauen durch die Modernisierung auftaten. Sie arbeiteten bis zur Heirat oder – in den Erzählungen thematisiert – bis zu ihrem frühen Tod, der nicht zuletzt ihren harten Arbeitsbedingungen geschuldet war.

Schwarzweiß-Foto eines Busses mit Platz für etwa acht Fahrgäste, die Busschaffnerin steht vorn an der offenen Tür.

22. „Bus Girl“ in Tōkyō, 1934. In ihren Uniformen wurden sie als besonders „westlich“ und modern empfunden. Alisa Freedman beschreibt ihre Arbeitsbedingungen und erwähnt die Streiks, die sie organisierten (S. 196).

Die vom Englischen entlehnte Bezeichnung hatte einen flotten Beigeschmack, genauso wie die Bezeichnung für „elevator girls“ oder „gasoline girls“. Als Untergruppe der „modern girls“ galten die „bus girls“ als erotische Ikonen im öffentlichen Nahverkehr, Frauen, die sich mit Leichtigkeit durch die Tōkyōter Stadtlandschaft bewegten – ein Zeichen, dass sie mit der Moderne Schritt halten konnten –  sie galten als verführerisch und zugleich gefährlich (S. 190).

Zur Veranschaulichung dienen drei Erzählungen: „Shitai shōkainin“ / „The Corpse Introducer (1929) von Kawabata Yasunari , „Satsujin rire“ / „Murder relay“ (1934) von Yumeno Kyūsaku und „Okoma-san“ / „Miss Okoma“ (1940) von Ibuse Masuji. Die letzte Erzählung wurde 1941 mit inhaltlichen Abwandlungen als „Hideko no shashō-san“ / „Hideko, die Busschaffnerin“ verfilmt.

Vor allem die ersten beiden Erzählungen spiegeln männliche, hauptsächlich erotische Fantasien über diese modernen Frauen, die in armen Verhältnissen leben, schlecht bezahlt werden, nicht selten Ärger mit Fahrgästen, Belästigungen oder gar Bedrohungen durch die Fahrer aushalten müssen.

Schwarzweiß-Standbild einer Filmszene: Die Schaffnerin gibt dem Busfahrer aus einem Holzgefäß Wasser zum Trinken.

23. Szene aus dem Film „Hideko, die Busschaffnerin“ („Hideko no shashō-san“) von 1941, Regisseur: Naruse Mikio.

Die Erzählung von Kawabata

Das Buch endet mit der englischen Übersetzung von Kawabata Yasunaris Erzählung „Shitai shōkainin“. In der Erzählung teilt ein Student in Tōkyō ein Zimmer mit einer Busschaffnerin, die er nur ein einziges Mal bei der Arbeit, niemals aber in der gemeinsamen Unterkunft gesehen hat. Als sie verstirbt, gibt er ihre Leiche zum Sezieren an ein anatomisches Lehrinstitut, behauptet jedoch, sie habe eine Feuerbestattung erhalten. Überraschend kommt die Schwester der Verstorbenen nach Tōkyō, und der Student präsentiert ihr als leibliche Überreste der Schwester Knochen einer fremden Frau, die er beim Krematorium besorgt hat. Die Ereignisse, angesiedelt zwischen Realität und Fantasie, nehmen ihren Lauf.

Das Buch ist lesenswert, denn …

… es macht die Bedeutung der physischen und psychischen Bewegung, die die Modernisierung mit sich brachte, greifbar.

Auch wenn in der Edo-Zeit (1600-1868) Leute schon reisten und es bereits Saisonarbeiter gab, machen die Beispiele von „Tokyo in Transit“ deutlich, wie sehr die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen während der so genannten Modernisierung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von jeder einzelnen, von jedem einzelnen verlangte, beweglich zu sein. Die Menschen mussten sich ganz neu orientieren, und viele hatten zunächst einmal Probleme, Netzpläne zu lesen.

In „Tokyo in Transit“ werden die Paradoxien der Modernisierung, vor allem die Werte, die die neuen Lebens- und Arbeitsformen mit sich brachten, konkret beschrieben. Auf diese Weise wird deutlich, wie anstrengend es für die Menschen war, sich in dem neuen Zeitalter zu Hause zu fühlen.

… es gibt einen sehr facettenreichen Blick auf die zeitgenössische Gesellschaft.

Komprimiert wie durch ein Brennglas blickt Alisa Freedman in die Busse und Bahnwagen und liefert so ein Kaleidoskop der gesellschaftlichen Gruppen, die in den Verkehrsmitteln unterwegs waren. Sie zieht die unterschiedlichsten Quellen heran, setzt sie zueinander in Beziehung und liefert auf diese Weise anschauliche Beschreibungen der Gesellschaft der einzelnen Jahrzehnte. Mit den ausgewählten Erzählungen findet sie ausgezeichnete literarische Beispiele für die gesellschaftlichen Rollen, die typisch für ihre Zeit waren.

… es liefert einen umfassenden Einblick in die Literaturszene der beschriebenen Jahrzehnte.

Zugleich präsentiert Freedman einen Überblick über die Literaturszene der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, durch Querverbindungen in ihrer Darstellung gewährt sie interessante Einblicke. Um nur einige Punkte zu nennen: literarische Gruppen und einflussreiche Zeitschriften, in denen sie veröffentlichten, politische Position(en) von Autoren oder die Veröffentlichungspraxis von Verlagen.

… es beleuchtet die Beziehung zwischen der Bahn und der (Populär)Kultur.

„Tokyo in Transit“ macht deutlich, dass der gegenseitige Einfluss von Bahn und visueller Kultur, Literatur bzw. Massenmedien nicht zu unterschätzen ist. Zum einen werden Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Thema von Erzählungen. Zum anderen nehmen die Transportmittel bzw. das lange Pendeln Einfluss auf das literarische und künstlerische Schaffen. Alisa Freedman nennt als Beispiel die Präsentation von Erzählungen bekannter Autorinnen und Autoren auf den Plakaten im Mittelgang der Wagen von JR-Linien (September 1990 bis September 1991; S. 13).

Zudem wurden japanische Handys von Anfang an mit Zugang zum Internet verkauft, das bereits früh flächendeckend eingeführt wurde. Das war wichtig für die langen Pendelzeiten – und zugleich Voraussetzung für die Entstehung eines neuen, in Japan erfolgreichen Literaturgenres: das der Handy-Romane (keitai shōsestu, mobairu shōsetsu). Sie werden in einem ersten Schritt nicht gedruckt, sondern über das Internet verbreitet und erscheinen erst nach einem gewissen Erfolg im Nachgang in Printform.

… es zeigt, welche damaligen Entwicklungen heute noch aktuell sind.

Die Pünktlichkeit der Bahnen ist inzwischen sprichwörtlich, Störungen im Tōkyōter Schienennetz werden heute wie damals vor allem durch so genannte „Unfälle mit Personenschaden“ (jinshin jiko) verursacht. Poster bieten Notfall-Telefonnummern, an allen Bahnsteigen gibt es Notaus-Schalter.

Auch heute findet man in allen Bahnhöfen Benimmposter, meist witzig gestaltet, jeden Monat zu einem bestimmten Thema. Auch Schilder in den Wagen und eingeblendete Texte zwischen den Haltestellenansagen geben Hinweise zum richtigen Verhalten.

Bunte Werbeplakate am Bahnhof Shinagawa.

24. Werbung für eine Bahnlinie. Im Großraum Tōkyō gibt es ständig neue Verbindungen und Streckenerweiterungen.

Bis heute sind die großen Umsteigebahnhöfe Kultur- und Konsumzentren, Orte, an denen die besten Warenhäuser angesiedelt sind. Mich freute vor allem, viele Anknüpfungspunkte an eigene Erfahrungen im Buch zu finden, zum Beispiel die Eröffnung der Buchhandlung Kinokuniya 1927 in Shinjuku, die immer noch am selben Ort zu finden ist (S. 145).

Alles in allem ist „Tokyo in Transit“ essenziell, um die heutige Mobilität von Tōkyō zu verstehen.

Susanne Phillipps

(23.09.2023, Ausgabe 12)

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Bildnachweis

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Buch-Arrangement Tokyo in Transit: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: Von Heinoya – http://hdl.loc.gov/loc.pnp/cph.3g10384, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3538004

02: By Kobayashi Kiyochika – Newsdesk: Newsroom of the Smithsonian, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38768399

03: By Nagoya Railway Bureau (名古屋鉄道局) – 鉄道ファン No.342 1989年10月号 86ページ, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12736955

04: By C.H. Graves – This image is available from the United States Library of Congress's Prints and Photographs divisionunder the digital ID cph.3b42202.This tag does not indicate the copyright status of the attached work. A normal copyright tag is still required. See Commons:Licensing., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3538253

05: By RANSOME, James Stafford. – This file is from the Mechanical Curator collection, a set of over 1 million images scanned from out-of-copyright books and released to Flickr Commons by the British Library.View image on FlickrView all images from bookView catalogue entry for book., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30195456

06: By Unknown author – (in japanese) (April 2010) 懐かしの停車場 東日本篇 (Fondly remembered stations – East Japan), Japan: Kokushokankokai Inc., p. 14 ISBN: 978-4336052230., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47397832

07: By Unknown author – Japanese book "Illustration of Showa History Vol.3" published by Shueisha Inc., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4916232

08: Von http://www.town.chiyoda.gunma.jp/text1/bunka/tayamakatai.htm, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=880962

09: By Rob Ketcherside from Seattle, usa – Cherry Blossoms of Gobancho, Tokyo, c1910, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37985966

10: Von Autor/-in unbekannt – 漱石全集刊行会『漱石全集 第十三巻』漱石全集刊行会、1936年3月10日。National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 1883318, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=85471895

11: By Unknown author – 東京地下鉄道株式会社編『東京地下鉄道史 乾』東京地下鉄道株式会社、1934年6月20日。National Diet Library Digital Collections: Persistent ID 1235044, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=89026222

12: Von Autor/-in unbekannt – http://seikeyuho2.seesaa.net/upload/detail/image/E291A0E5A4A7E6ADA3EFBC91EFBC94E5B9B4E9A785E8888E-thumbnail2.jpg.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26151944

13: By Unknown author – Japanese book "Visual History of Nostalgic Station" published by Kokusho-kankoukai., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16011024

14: Von Autor/-in unbekannt – http://fps01.plala.or.jp/~hojo4532/new_page_38.htm, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19744418

15: By History of Ueno Station – Historical exhibition, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=46737623

16: By 『歴史寫眞』昭和七年五月號 / Rekishi Shashin May 1932 issue – http://kyoto.cool.ne.jp/syasinsyuu/t34.htm, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2438517

17: By Unknown author – Japanese book "The history of Greater Tokyo: Chapter of Showa era" published by Gendai-Tsushin Sha., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18809813

18: By Unknown author – Japanese book "The history of Greater Tokyo: Chapter of Showa era" published by Gendai-Tsushin Sha., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18809826

19: By Unknown author – Japanese book "The history of Greater Tokyo: Chapter of Showa era" published by Gendai-Tsushin Sha., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18809726

20: By Unknown author – Japanese book "The history of Greater Tokyo: Chapter of Showa era" published by Gendai-Tsushin Sha., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18810310

21: By Unknown author – Japanese book "The history of Greater Tokyo: Chapter of Showa era" published by Gendai-Tsushin Sha., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18809674

22: By Kōyō Ishikawa – 「石川光陽写真展図録」, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=90000825

23: By Directed by en:Mikio Naruse,distributed by en:Toho – http://www.geocities.jp/yurikoariki/takaminehideko.html, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20607848

24: By Metro Centric – 品川 – Shinagawa, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=40056476