Bühnenstücke – Einblicke in das moderne japanische Theater

Buch "Theater in Japan" auf einer Miniatur-Bühne mit einem Tisch, zwei Stühlen und Schränken

Hirata Eiichirō und Hans-Thies Lehmann (Hg.) (2009): Theater in Japan. Berlin: Verlag Theater der Zeit (= Recherchen 64), broschiert, 283 Seiten.

Unter dem Einfluss europäischer Theateraufführungen entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Japan neben den traditionellen Theaterformen Nō, Kabuki und Bunraku das so genannte moderne Theater (Shingeki, wörtl. „neues Theater“). Seit dieser Zeit besucht man je nach Theatergattung den zugehörigen Aufführungsort: Für eine der klassischen Bühnenkünste ein Bunraku-, Kabuki- oder Nō-Theater, für das Sprechtheater Studiobühnen bzw. Theaterhäuser nach europäischem Vorbild.

 

Während die klassischen Bühnenkünste lange an ihrem festen Repertoire und ihrer Aufführungspraxis festhielten, vermischten sich beim modernen Theater von Anfang an Elemente aus fremder und eigener Tradition. Zum Beispiel entwickelte sich auch Butoh, die Dekonstruktion konventionell wahrgenommener Körperbilder, in den 1940er und 1950er Jahren durch die Auseinandersetzung mit dem modernen Tanz in Europa.

So ist in Japan eine äußerst lebendige Szene an modernem Theater entstanden, vor allem in Tōkyōs Stadtteilen Ginza, Hibiya, Shinjuku und Shibuya gibt es höchst unterschiedliche Theater, die eine wirklich große Vielfalt bieten, sei es Unterhaltsames oder Gesellschaftskritik, Medientheater oder Mischformen von Modernem mit klassischen Tanz- und Theaterformen.

Dieses Buch zeichnet die Geschichte des modernen japanischen Theaters nach und versucht, so viele Facetten wie möglich genauer zu beleuchten.

Über das Buch

Das Buch ist ein Fachbuch, ein Sammelband mit Beiträgen von Wissenschaftler/innen und Kritiker/innen aus den Bereichen Theater und Tanz. Es besteht aus einem Vorwort, fünf Hauptkapiteln und einem Anhang mit einer Bibliografie und mit Angaben über die Autorinnen und Autoren der Beiträge.

Die fünf Hauptkapitel lauten:

  • Geschichte des modernen japanischen Theaters;
  • Theater der Gegenwart;
  • Theaterkultur;
  • Internationale Einflüsse;
  • Tanz und Körpertheater.

Jedes Kapitel hat vier Beiträge und wird durch Fotografien von Szenen aus den besprochenen Bühnenstücken eingeleitet, einige von ihnen ganzseitig. Die Beiträge sind zwischen 8 und 18, meist 12 Seiten lang und unterscheiden sich sehr in ihrem Stil. Sie vermitteln verschiedene Blickwinkel auf die unterschiedlichsten Bereiche des gegenwärtigen japanischen Theaters.

Da es nicht möglich ist, in dieser Empfehlung auf alle Aufsätze einzugehen, richte ich das Augenmerk auf die historische Entwicklung des modernen japanischen Theaters, d.h. den ersten Themenkreis des Buches, um dann mit dieser Gesamtübersicht im Hinterkopf je einen Beitrag der restlichen vier Themenkreise vorzustellen.

Die Herausgeber

Hirata Eiichirō ist seit 2012 Professor für Theaterwissenschaft am Institut für Germanistik der Keiō-Universität Tōkyō. Er promovierte über das Thema Abwesenheit und Präsenz im Gegenwartstheater.

Hans-Thies Lehmann ist Theaterwissenschaftler, Germanist und Komparatist. Er gilt als Theoretiker des postdramatischen Theaters, eine seit den 1980er Jahren aufgeführte Form des Theaters nahe der Performance.

Postdramatisches Theater grenzt sich vom traditionellen Sprechtheater ab, indem es andere künstlerische und mediale Genres, vor allem elektronische Techniken, in die Darstellung einbezieht.

Älterer Herr mit grauen Haaren und Vollbart vor schwarzem Hintergrund am Mikrofon eines Rednerpults.

01. Hans-Thies Lehmann, 2012.

Einführung: Grundlagen

Die beiden Herausgeber Hirata Eiichirō und Hans-Thies Lehmann führen gemeinsam mit Helene Varopoulou in einem Vorwort in die Eigenschaft der Entwicklung des japanischen Theaters seit den 1960er Jahren ein (S. 7-15).

Dieses Vorwort, als „kleiner Wegweiser durch die versammelten Beiträge gedacht, die sich in Schwerpunktsetzung und Duktus deutlich voneinander unterscheiden“ (S. 7), ist vor allem aus zwei Gründen äußerst wichtig: Erstens wird hier eine Periodisierung der Theaterszene seit den 1960er Jahren vorgenommen und zweitens werden die verschiedenen Bedeutungsaspekte aufgefächert, die heute mit dem Begriff „modernes japanisches Theater“ verbunden werden.

Modernes japanisches Theater

Der Begriff „modernes Theater“ (gendai engeki) hat im Japanischen mehrere Bedeutungsnuancen (S. 12):

 

  • allgemein alles nicht-klassische Theater;
  • das vom Westen beeinflusste Theater, also vor allem Shingeki, Sprechtheater;
  • Angura-Theater (underground-Theater) mit Kritik an der japanischen Modernisierung und Protest gegen gesellschaftliche Zwänge aller Art;
  • die neue Tendenz von Körpertheater und Performance (z.B. Dumb Type, Kaitaisha, Ku Na’uka).

Themenkreis 1: Zur Geschichte des modernen japanischen Theaters

Niino Morihiro: Zwischen gestern und heute. Die Organisationsstrukturen des Theaters

Kan Takayuki: Modernistisches Theater in Japan. Von der Jahrhundertwende bis 1960

Shichiji Eisuke: Angura-Theater. Die 1960er und 1970er Jahre

Mari Boyd: Experimente des Shōgekijoō. Die 1970er und frühen 1980er Jahre

Unscharfes Schwarz-weiß-Foto einer Szene in der Küche mit einem verliebten Paar und der Köchin.

02. Foto der ersten Inszenierung von August Strindbergs naturalistischem Stück „Fräulein Julie“ aus dem Jahr 1888, Aufführung im Volkstheater Stockholm im November 1906.

Die Anfänge

1909 wurde in Japan das erste zeitgenössische europäische Theaterstück aufgeführt, ein Werk von Henrik Ibsen. Mit der Nachahmung von europäischen Dramen begann die Geschichte der modernen japanischen Bühnenkunst (Shingeki). Der ästhetische Realismus war damals eine Sensation, da die japanische Theaterkultur zu diesem Zeitpunkt sehr formalisiert war (S. 11, S. 30).

Portrait in Schwarzweiß, Osanai im Anzug, hält eine Pfeife in der Hand.
Älterer Herr mit Brille in Wintermantel und Pelzmütze.

03.-04. Der Anglist Osanai Kaoru befasst sich mit den Stücken von Henrik Ibsen, Tsubouchi Shōyō übersetzte fast alle Dramen von Shakespeare ins Japanische. Die beiden begründeten das moderne japanische Theater (S. 31).

Das Shingeki war von Anfang an politisch links orientiert, weshalb es zur Zeit der zunehmenden Militarisierung ab den 1930er Jahren unterdrückt wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es dagegen von den US-amerikanischen Besatzungsbehörden – im Gegensatz zu dem traditionellen Theater mit seinen vermeintlich „feudalistischen“  Ideen – als der Demokratisierung förderlich unterstützt und avancierte zur Hauptströmung des zeitgenössischen Theaters (S. 11, S. 25).

Foto in Schwarzweiß von der Frontseite des Theaterhauses.

05. Im „Kleinen Theater von Tsukiji“, Tsukiji shōgekijō, experimentierten Choreografen und Schauspieler/innen mit Aufführungen übersetzter Dramen vom Realismus bis zur Avantgarde (S. 35)

Zur gleichen Zeit entwickelte sich das marxistisch ausgerichtete, proletarische Theater. Es wurde „Koffertheater“ genannt, da man alle Requisiten für Aufführungen, die zur Unterstützung streikender Arbeiter veranstaltet wurden, in einen Koffer packen und transportieren konnte. Das Theater war nur kurzlebig, 1940 wurden alle wichtigen Persönlichkeiten des linken Theaters verhaftet (S. 36-39).

Die 1960er und frühen 1970er Jahre: Phase der Angura-Bewegung (Underground-Bewegung)

1970 gehörten Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und Polizei zum Alltag, die landesweiten Demonstrationen gegen die Revision des japanisch-amerikanischen Sicherheitsabkommens erreichten ihren Höhepunkt (S. 63).

Inmitten der heftigen Protestbewegungen brachte die Kleintheaterbewegung (shōgekijō undō) ganz neuartige Stücke und Theaterformen hervor. Getragen vor allem von jüngeren Zuschauerinnen und Zuschauern, eroberte diese Bewegung die Theaterlandschaft. Bald darauf wurde sie „Angura“ eine Abkürzung für „underground“, genannt (S. 44).

Die Kritik der Angura-Bewegung traf die etablierte gesellschaftliche Weltanschauung im Kern (S. 8). Die Künstlerinnen und Künstler entdeckten den Körper als fundamentales Mittel des dramatischen Ausdrucks neu (S. 62). Die Ästhetik der Angura-Bewegung wirkte radikal modern, drückte „aber zugleich den Versuch aus […], unter der Oberfläche der rasanten Modernisierung, die Japan seit der Meiji Ära durchgemacht hatte, zu einer Art Wiederentdeckung des eigenen Selbst zu gelangen. Ein bedeutendes Thema der Künstler war das Gefühl einer Fremdheit im eigenen Körper, eines Körpers, der durch die japanische Kultur, die Verhaltensformen des Alltags und die ästhetischen Traditionen zutiefst geprägt war und doch zugleich mit der hypermodernen Lebens Umwelt „kollaborieren“ sollte und wollte. […] Die Suche nach neuen Formen war zugleich eine Art des Widerstands gegen Internationalisierung und Kolonisierung.“ (S. 9).

Die Stücke kritisierten die überhastet vorangetriebene gesellschaftliche Modernisierung, die Herrschaft der Ökonomie über die Gesellschaft und die im Zuge der Wirtschaftsentwicklung entstandenen ökologischen Probleme. Die Dramatiker Terayama Shūji und Suzuki Tadashi feierten große Erfolge. In dieser Zeit wurde außerdem Butoh weltbekannt.

Theaterbewegungen

shingeki 新劇 („ Neues Theater“): Theatergenre, das im Zuge der Modernisierung der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach dem Muster der europäischen Schauspielkunst entstand (S. 23)

shōgekijō 小劇場 („Kleintheater“): entstanden in den 1960er Jahren aus dem shingeki, brachten neuartige Stücke und Theaterformen hervor

angura engeki アングラ演劇 („underground-Stück“): Avantgarde-Theaterstück, Radikalisierung der Thematik in Richtung Gesellschaftskritik

shinpa新派 („Neue Schule“) und shinkokugeki 新国劇 („Neues Nationaltheater“): zwei Genres, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Basis des traditionellen Kabuki bildeten, „modernisiertes Kabuki“

Grau-weißer, einstöckiger Bau mit abgerundeten Hausecken, an den Außenwänden sind Repliken von Postern und Fotografien angebracht.

06. Terayama Shūji-Museum in Misawa, Aomori. Terayama (1935-1983) war ein Avantgarde-Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Filmregisseur und Fotograf. Er schrieb Essays, schuf Hörspiele, experimentelles Fernsehen und Underground (Angura)-Theater.

Viele Kritiker betrachten ihn als einen der produktivsten und provokantesten kreativen Künstler Japans (Wikipedia: Terayama Shuji).

Theaterkompanien spielten an Orten, die ursprünglich gar nicht für das Theater gedacht waren. So war es kein Einzelfall, dass die Stadtverwaltung von Tōkyō Aufführungen im Shinjuku-Park verbot, die Bereitschaftspolizei eingesetzt war, und der Gruppe von Kara Jūrō durch Ablenkungsmanöver trotzdem gelang, ihr rotes Zelt aufzuschlagen und ihr Stück aufzuführen. Dies führte regelmäßig zu Handgreiflichkeiten und Verhaftungen. Sich der Wirkung der Medien stets bewusst, inszenierte Terayama einzelne Stücke absichtlich für solche Polizeieinsätze (S. 61)

Portrait in Schwarzweiß.

07. Kara Jūrō führte seine Produktionen mit seiner Truppe in einem roten Zelt (aka tento) auf. Es war beabsichtigt, dass die Schauspieler, der Regisseur und die Zuschauer in Konflikt mit der Polizei gerieten und verhaftet wurden.

– Die Gruppe von Satō Makoto reiste mit einem schwarzen Zelt durch das Land (S. 25).

08. Suzuki Tadashi, Begründer des kleinen Theaters Waseda, Autor, Philosoph, zeigte damals seine Inszenierungen in der oberen Etage eines kleinen Cafés. (S. 25).

Lächelnder älterer Herr sitzt mit Mikrofon in der Hand vor schwarzem Hintergrund.

Die 1980er Jahre: Phase der sogenannten Kleintheaterbewegung

Während des „shōgekijō-Booms“ („Trend der Kleintheaterbewegung“) spielten viele Gruppen in meist kleinen Räumlichkeiten für ein jüngeres Publikum, das diese Form von Theater als „ihre“ Alternative zu den etablierten Institutionen wahrnahm.

Es war die Zeit der wirtschaftlichen Hochkonjunktur („Bubble-Konjunktur“), in der die Werbeagenturen in das Theater investierten und Massenmedien den Boom stützten (S. 170). Die Theater boten die Gelegenheit, ohne spezielle Ausbildung als Theaterschriftsteller, Regisseur oder Schauspieler zu debütieren. Die Stücke, die entstanden, sind wenig bis gar nicht politisch und durchweg kommerziell, die Zeit steht für Popularisierung und Konsumorientierung des Theaters (S. 9).

Beginn der 1990er Jahre: Wirtschaftskrise, Rezession, Beginn des Irak Krieges

Verschiedene Krisen und vor allem die lang anhaltende Wirtschaftsrezession veränderten die Atmosphäre im Land spürbar. Digitale Medien wurden genauso wie eine „provokante Körperlichkeit“ Teil der Inszenierungen, die weitaus aggressiver waren als in der vorangegangenen Phase. Damit gelang den Theatermachern der Schritt aus den winzigen Theatern auf große Bühnen vor allem in Tōkyō.

Durch einen intensiveren und zum ersten Mal auch wechselseitigen internationalen Austausch wurden japanische Produktionen wichtiger Teil der internationalen Szene (S. 10). Repräsentative Theatertruppen sind Dump Type und Kaitaisha.

Themenkreis 2: Zum Theater der Gegenwart

Saitō Tomoko: Theaterfrauen. Die nicht-dramatische Welt von Kishida Rio und Kisaragi Koharu

Hirata Eiichirō: Der offene Theatertext bei japanischen Dramatikern

Hirata Eiichirō: Das japanische Regietheater

Yamashita Yoshiteru: Die Theaterkompanie Ku na’uka und die Imago der Überfrau

Hirata Eiichirō präsentiert in seinem Beitrag „Der offene Theatertext bei japanischen Dramatikern“ Beispiele dafür, dass im Theater genau die Stoffe behandelt werden, die von den Medien eher vermieden werden (S. 101). Dazu zählen (unterschwellige und tatsächliche) gewalttätige Tendenzen hinter der freundlichen, harmonischen Maske des japanischen Alltags, die hohe Selbstmordrate und zahlreiche Probleme, die oft tabuisiert werden. Außerdem heben die Stücke Kontraste hervor, zum Beispiel zwischen der vernachlässigten ländlichen Peripherie und dem Zentrum Tōkyō.

Themenkreis 3: Zur Theaterkultur

Oda Sachiko: Innere Wandlungen des klassischen Theaters. Zum Shinsaki-Nō

Hirata Eiichirō: Gestus des Reisenden. Schnittpunkte im japanischen Theater

Helene Varopoulou: Theater und Landschaft

Takahashi Hiroyuki: Theater des entspannten Raumes. Das Danach der Subkultur

Hirata Eiichirō verdeutlicht in seinem Beitrag „Gestus des Reisenden. Schnittpunkte im japanischen Theater“, dass es in allen japanischen Theatergenres die Figur des Reisenden gibt, das Thema der Reise eines Nomaden, der keinen festen Wohnsitz hat.

Die philosophische Grundidee ist hyōhaku, wörtlich „Zielloses Herumwandern“ oder „Umhertreiben“, eine Lebensauffassung, die in der japanischen Literatur und Philosophie sehr lebendig war und immer noch ist. In den Augen früherer Dichter und Wanderer war die menschliche Existenz ohne Halt und in ständigem Wandel, die Welt überhaupt war vergänglich und unbeständig.

Nō-Bühne mit aufgemalter Kiefer im Hintergrund, auf der Bühne Schauspieler und Sänger.

09.-10. Bilder von klassischen Nō-Aufführungen.

Kniender Nō-Schauspieler mit Maske.

In allen japanischen Theaterformen, auch in den modernen, werden häufig Reiseszenen gezeigt und versucht, die hyōhaku-Philosophie widerzuspiegeln. Oft wird ein kleiner Ausschnitt aus einer Reise aufgeführt, sei es der Aufbruch, das Wandern, eine Rast oder die Ankunft. Hirata Eiichirō gibt dafür Beispiele aus verschiedenen traditionellen und gegenwärtigen Theaterformen.

Themenkreis 4: Zu internationalen Einflüssen

Tanigawa Michiko: Politik der Kulturen. Rezeption des deutschen Theaters

Satō Yasushi: Rezeption des französischen Theaters in Japan

Erika Fischer-Lichte: Aufführungen griechischer Tragödien

Matsui Kentarō: Kooperationen zwischen asiatischen Theatern

Erika Fischer-Lichte geht in ihrem Beitrag „Aufführungen griechischer Tragödien“ der Frage nach, warum die Inszenierungen griechischer Tragödien in Japan so erfolgreich waren: Was leisten sie, was ist ihre spezifische Funktion?

Sie arbeitet heraus, dass sich alle berühmten Inszenierungen mit einem bestimmten politisch-sozialen Problem auseinandersetzen und zugleich Stile, Verfahren und Elemente aus den unterschiedlichen klassischen japanischen Theaterformen übernahmen und auf ganz neue Weise miteinander verbanden.

In dieser Kombination konnten die Inszenierungen als Forum zur Diskussion aktueller Probleme dienen und zugleich – und das ist der interessante Punkt – aufgrund ihrer Ästhetik, die auf klassische Formen Bezug nahm, bei den Zuschauerinnen und Zuschauern starke Gefühle hervorrufen.

Maske mit aufgerissenen Augen und weit offenem Mund.

11. Maske des Dionysos.

Themenkreis 5: Zu Tanz und Körpertheater

Kuniyoshi Kazuko: Vom Ankoku-Butoh zum Contemporary Dance. Methode und Technik

Christiane Berger: „Schaffe, was es noch nicht gibt“. Der Tänzer und Choreograf Teshigawa Saburō

Mutō Daisuke: Gesucht: Unbekannte Körper. Strategien des zeitgenössischen Tanzes

Nishidō Kojin: Physical Theatre

Kennzeichnend für Bewegungen im Butoh sind langsame Verwandlung der menschlichen Figur, die jeden Augenblick zu zerfallen droht, und groteske Entstellungen, die den Körper deformiert zeigen. Die Körper scheinen zu schmelzen, zu zerfließen, zu zerfallen.

Nach vorn gekrümmter Mann hält einen kurzen Stab in der rechten Hand, mit dem er sich auf dem Boden abstützt.

12.-14. Der Butoh-Tanz hat Wurzeln in Europa, speziell im deutschen Ausdruckstanz, und wirkte dann seinerseits auf westliche Auffassung von Tanz und Theater zurück. Das im Butoh vorherrschende Körperbild behandelt Sterben, Deformation, Selbst-Fremdheit, „Tier-Werden“ und „Pflanze-Werden“. Raum und Zeit sind traumartig verformt, oft geht es um die Auseinandersetzung mit dem Hässlichen und Grotesken (S. 10).

Mann liegt gekrümmt am Fuße einer Treppe.
Mann kniet auf dem Boden, beugt sich nach links und streckt Arme nach rechts oben.

Kuniyoshi Kazuko gibt in ihrem Beitrag „Vom Ankoku-Butoh zum Contemporary Dance. Methode und Technik“ eine ausführliche Charakterisierung des Ankoku-Butoh-Tänzers Hijikata Tatsumi.

Charakteristisch für seinen Tanz waren durch und durch versteifte Körper, die in plötzlichen, starken Bewegungen hart aufeinanderprallen. Die in ihrer Haltung verfremdeten Körper, die unvorhersehbar zusammenstießen, sollten Hijikatas Widerstand gegen das bestehende Gesellschaftssystem zum Ausdruck bringen. Durch die Verfremdung sollte der menschliche Körper im Alltagsleben neu wahrgenommen werden.

Verbindende Eigenschaften

Auch wenn es im gegenwärtigen japanischen Theater viele unterschiedliche Stile gibt, versuchen mehrere Autor/innen des Sammelbandes Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, die sie bei verschiedenen Ensembles beobachten.

Das wichtigste Merkmal war bzw. ist die Aufgeschlossenheit gegenüber dem europäischen Theater: Dies ermöglichte eine Rezeption des westlichen orientierten Sprechtheaters, vermengte sich mit Traditionellem und führte zu immer neuen Formen des experimentellen Zusammenwirkens zwischen japanischer Tradition und „Avantgarde“ (S. 8).

So hat die Theatergruppe „Ku na’uka“ von Miyagi Satoshi eine Technik herausgearbeitet, bei der sich eine Figur von zwei Schauspieler/innen, nämlich einem Darstellenden und einem Erzählenden, zusammensetzt. Während sich der/die Darstellende auf der Bühne bewegt, sitzt der/die Erzählende am Rand. Diese Trennung geht auf das japanische Puppenspiel Bunraku zurück. Aber: „Während im Bunraku die Trennung oft zur kongenialen Einheit zwischen Puppe und Erzähler führt, steht bei Ku na’uka oft die Dissonanz und nur erzwungene Vereinigung im Vordergrund.“ (S. 111, Hirata Eiichirō).

Wahrscheinlich beeinflusst von traditionellen Theaterformen sind auf der Bühne außerdem oft stilisierte Verhaltensweisen zu beobachten, speziell das Wiederholen bestimmter Gesten, die ad absurdum geführt werden (S. 12-15).

Dazu gehört beispielsweise ein Gegeneinander der Körper und Worte und ein „schlagartiges Kombinieren und abruptes Abschalten miteinander nicht zusammenhängender Themen, […] von Manga und Zeichentrickfilm beeinflusste Züge, deren wackliges Tempo zum Gefühl des ruhelosen Alltags in der Konsumgesellschaft passt“ (S. 28, Niino Morihiro).

Die Theatergruppe „Chelfitsch“ (geleitet von Okada Toshiki) setzt in ihren Aufführungen beispielsweise eine Körpersprache ein, bei der alltägliche, vordergründig bedeutungslose Gesten ständig wiederholt werden. In diesem verfremdeten Kommunikationsstil behandeln die Figuren Themen wie die lang anhaltende Wirtschaftskrise in Japan, in der viele junge Menschen, meist auf Arbeitssuche, keinen Platz mehr in der Gesellschaft finden.

Daneben ist eine Neigung zur Leere oder im Gegenteil zur Überfülle zu beobachten. Oft spielen sich Szenen schattenhaft im Halbdunkeln ab (S. 12-15).

Wichtig ist der Einsatz verschiedener technischer Medien, wobei der gesprochene Text nur ein Teil der gesamten Medieninszenierungen ist. Ein Beispiel für diese Medienperformance ist die Truppe „Dumb Type“, bei deren Inszenierungen die Tänzerinnen und Tänzer durch eingeblendete Szenenbilder und Fließtexte hindurchtanzen, die mit elektronischer Musik unterlegt sind. Rasante Lichtwechsel zerhacken die fließenden Bewegungen, und die eingeblendeten Bilder überfordern oft die Wahrnehmung des Publikums.

Der Musiker sitzt im Dunkeln vor seinem Schaltpult, das Licht vom Bildschirm strahlt sein Gesicht an, er gibt mit der Hand ein Zeichen an die Tänzer.

15. Beispiel für den Einsatz digitaler Medien im Theater: Der Theatermusiker T.D. Finck von Finckenstein gibt ein Signal an die Schauspieler im Stück „4.48 Psychose“ von Sarah Kane am Schauspiel Dortmund, 2014 – Die Musik wird durch Körpersensoren beeinflusst.

Empfehlenswert: Die Vielfalt

Der Sammelband gibt einen facettenreichen Einblick über das neuere und gegenwärtige japanische Theater. Dabei handelt es sich nicht um eine thematisch zusammenhängende, sich durchgängig entwickelnde Darstellung, die homogen zu lesen wäre.

Es wird im Gegenteil ein breites Spektrum an Themen geboten, das sich über die einzelnen Aufsätze erschließt. Der erste Teil dient dabei eher als Basis, als chronologisches Gerüst.

Der zweite Teil ist als Sammlung unterschiedlichster Aspekte zu sehen, eine große Menge an Anregungen, Facetten, mit denen sich das Gesamtbild erschließt. In diesen Beiträgen wiederholen sich die geschichtlichen Daten, was gut ist, denn sie dienen als Ankerpunkte.

Der Sammelband ist genau aus dieser Vielfältigkeit heraus äußerst anregend. Die Entwicklung des Gegenwartstheaters ist schnelllebig, und hier werden Ensembles besprochen, die inzwischen zur klassischen Moderne zählen. Die Blickwinkel auf die Thematik sind interessant, und von besonderer Bedeutung ist die Behandlung des Körperlichen, des Zusammenkommens von Theater mit Bewegung bzw. Tanz.

Dabei wird erkennbar, wie bedeutend das japanische Theater als Medium der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft ist; ein Spiegel aktueller Geschehnisse, der allerdings in Fragen der Finanzierung hochgradig fragil ist.

Die Faszination des direkten Erlebens von Theateraufführungen ist schwer zu beschreiben, aber die Fotos zeigen, wie sehr sich die Theaterstile voneinander unterscheiden. In einigen Beiträgen ist es nicht leicht, der Fülle an Namen von Schauspieler/innen, Choreograf/innen, an Titeln von Theaterstücken zu folgen.

Doch die Abhandlungen lassen sich sehr gut verstehen, wenn man parallel zu ihrer Lektüre Videos der besprochenen Stücke bzw. Theatertruppen im Internet betrachtet, das ist ein wahrer Genuss.

Susanne Phillipps

23.09.2022 (Ausgabe 08)

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Bildnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Buch-Arrangement Modernes Theater: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

01: Von Heinrich-Böll-Stiftung – https://www.youtube.com/watch?v=X2KeX-Jp0Ug&t=1910s, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=107223760

02: By Unknown photographer, 1906 – Strindberg and the Five Senses, bu Hans-Goran Ekman, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4925317

03: Von Autor/-in unbekannt – This image is available from the website of the National Diet Library, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9580886

04: Von Autor/-in unbekannt – This image is available from the website of the National Diet Library, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2685745

05: By Unknown author – Japanese book "Pictorial History of Modern Japan Vol.9" published by Sanseido., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5254499

06: By 663highland, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45234308

07: Von 文部科学省ホームページ, CC-BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=112604283

08: Von HowlRound Theatre Commons – Tadashi Suzuki and Anne Bogart at Symposium on the Suzuki Method with SITI Company—Sat, June 3 2017 at 04:50, cropped, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=75059007

09: Von Yoshiyuki Ito – Imported from 500px (archived version) by the Archive Team. (detail page), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=71346350

10: Von Ichigen – Ichigen, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64027008

11: By Marie-Lan Nguyen – Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=474079

12: Von Vnon – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15115217

13: Von nelson campos ros – https://www.flickr.com/photos/nelsoncampos/4891143740, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32475279

14: Von Duc (i.e. pixiduc) Paris, France – https://www.flickr.com/photos/24633196@N00/2512677599/in/pool-38507361@N00, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12262571

15: Von Dominik Bay – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32615555