Die Institution Familie auf dem Prüfstand

In Plastik eingeschweißtes Papier, mit Klebestreifen an die Wand geheftet. Abgebildet sind Handschellen, darunter die Aufschrift: „Shoplifters will be handed to Police“.

Es war einmal … Shoplifters – Familienbande. Ein Film von Emmanuel Hamon (2021). Aus der Reihe „Ein Film & seine Epoche“ von Marie Genin und Serge July; Folamour und ARTE France; 52 Minuten. Übersetzung: Jutta Liesen, Nora Bierich.

In dem Film „Shoplifters“ („Manbiki kazoku“, 2018) des Regisseurs Koreeda Hirokazu haben fünf Menschen in einem alten, heruntergekommen, mit Sachen vollgestopften Haus als Zweckgemeinschaft zusammengefunden, hier sind sie zu einer Familie zusammengewachsen.

Die Gemeinschaft besteht aus drei Generationen und entspricht damit dem Ideal des Zusammenlebens in Japan. Dieses Zusammenleben gestalten die einzelnen Mitglieder der Familie allerdings nicht nach gängigen Regeln und Normen.

Hier ist das offizielle Filmplakat mit den sechs Familienmitgliedern zu sehen.

Die Schauspielerin Kirin Kiki im Portrait, lächelnd den Kopf auf die rechte Hand abgestützt.

01. In der Rolle der „Großmutter“: Kirin Kiki. Die Großmutter, die eine kleine Rente bezieht, ist die Eigentümerin des Hauses. Sie hat hier schon vor ihrer Scheidung mit ihrem Mann gelebt. Sie ist fürsorglich, wird von allen „Oma“ genannt und hat ihre ganz eigenen Wege, an Geld zu kommen.

Der Schauspieler Lily Franky mit schwarzer Brille und schwarzem Hut.

02. Lily Franky spielt den „Vater“ Osamu. Osamu arbeitet als Tagelöhner auf dem Bau und verliert nach einem Arbeitsunfall seinen Job. In Supermärkten stiehlt er Lebensmittel für den Alltag zusammen und hat dem Ziehsohn die Techniken des Ladendiebstahls beigebracht.

Die Schauspielerin Andō Sakura in einem schwarzen Trägerkleid.

03. In der Rolle der „Mutter“ Nobuyo: Andō Sakura. Sie arbeitet in einer Wäscherei, wo ihr allerdings gekündigt wird.

Die beiden haben einen „Adoptivsohn“, Shōta, gespielt von Jyo Kairi. Die beiden Erwachsenen haben ihn in einem überhitzten PKW gefunden, in dem ihn seine leiblichen Eltern zurückließen, als sie zum Pachinko-Glücksspiel gingen.

Die Schauspielerin Matsuoka Mayū in einer weißen Bluse mit Rüschenkragen.

04. Matsuoka Mayū verkörpert die „große Schwester“ Aki. Die junge Frau verdient ihr Geld als Angestellte in einer Peepshow.

Die fünf nehmen noch ein kleines Mädchen namens Yuri auf, gespielt von Sasaki Miyu, das verwahrlost in der Nachbarschaft lebt.

Über die ARTE-Filmreihe „Ein Film & seine Epoche“

Der Schriftzug „arte“ in Kleinbuchstaben, um 90 Grad gedreht, am unteren Ende der Buchstaben leicht beschnitten.

 

05. Logo des Fernsehsenders Arte.

Die ARTE-Filmreihe „Ein Film & seine Epoche“ stellt die Entstehungsgeschichte und den gesellschaftlichen Widerhall berühmter Filme vor. Alle Dokumentationen dieser Filmreihe sind etwa 55 Minuten lang. Sie betten einen Film in das zeitgenössische Geschehen ein, beleuchten den gesellschaftlichen Hintergrund, zeigen die Beziehungen der Filmschaffenden untereinander und liefern eine Interpretation der dargestellten Geschichte.

Die Reihe befasste sich bisher unter anderem mit den Filmen „Der letzte Tango in Paris“ (Folge 1), „Clockwork Orange“ (Folge 6), „Einer flog über das Kuckucksnest“ (Folge 7), „Wall Street“ (Folge 20) oder „Ich, Daniel Blake“ (Folge 24). Filme, die mit Japan in Zusammenhang stehen, sind „Im Reich der Sinne“ (Folge 5) oder „Lost in Translation“ (Folge 16). Die Dokumentation über „Shoplifters“ ist der 25. Film der Reihe.

Emmanuel Hamon interpretiert in „Ein Film & seine Epoche“ die Handlung von „Shoplifters“ entlang des Erzählstrangs. Dazu analysiert er einzelne Szenen und zeigt Filmausschnitte, die die Erklärungen belegen. Er liefert Einblicke in die Dreharbeiten und zeigt Ausschnitte aus Interviews mit dem Regisseur Koreeda Hirokazu, der Produzentin Matsuzaki Kaoru, der Ausstatterin Mitsumatsu Keiko, dem Kameramann Kondō Ryūto, den Darstellern Lily Franky, Jyo Kairi und Andō Sakura. Die Soziologin Muriel Jolivet, Autorin von „Japon, la crise des modèles“, bewertet das im Film dargestellte Geschehen vor dem Hintergrund von aktuellen Tendenzen in der japanischen Gesellschaft.

Koreeda Hirokazu – Ein weltweit anerkannter Regisseur

Er sagt, er mag es nicht, als Regisseur von Filmen über Familien bezeichnet zu werden (Anm. 1). Und wirklich: Seine Filme behandeln weit mehr als nur Familienthemen. Aber immer geht es um die Beziehung von Menschen untereinander und immer wieder kehrt Koreeda Hirokazu zum Thema zurück: Er zeigt Familien, die aufgrund eines unvorhergesehenen Ereignisses aus der Bahn geworfen werden, oder Familien, die nicht nach allgemein anerkannten Normen leben. Seine Spielfilme tragen eine spürbare Nähe zum Dokumentarfilm, schaut man sie an, stellt sich das Gefühl ein, dem wahren Leben zuzuschauen.

Portrait des Regisseurs Koreeda Hirokazu.

06. Koreeda Hirokazu (2015)

Koreeda wurde 1962 in eine Arbeiterfamilie hineingeboren und aus einigen Interviewausschnitten lässt sich herauslesen, dass seine Kindheit in mancher Hinsicht nicht einfach war. Trotzdem studierte er Literatur an der renommierten Waseda-Universität, wollte erst Autor werden, entschied sich dann aber für den Film.

Er drehte zunächst Dokumentarfilme, 1995 dann seinen ersten Spielfilm. Für die Filme arbeitet er nicht selten als Drehbuchautor, Regisseur, Produzent und Cutter in Personalunion (21:10).

Für „Shoplifters“, seinen 13. Spielfilm, schrieb er die Geschichte und übernahm das Casting selbst, er wollte aufgrund des geringen Budgets einen kleinen Film machen und war über den Erfolg überrascht (00:20).

Beim Filmemachen sieht er sich selbst als Handwerker. Zur Vorbereitung der Spielfilme recherchiert er an realen Orten, seine Beobachtungen und Interviews baut er in seine Drehbücher ein, im Falle von „Shoplifters“ zum Beispiel bei einer Peepshow und einer Einrichtung für misshandelte Kinder. Die Affinität zum Dokumentarfilm ist spürbar, auch bei der realistischen Ausstattung der Filmsettings.

Ungeschminkt lässt er die Figuren in den recherchierten Umgebungen agieren, und so entstehen realitätsnahe Dramen mit einem Blick hinter die Fassaden. Koreeda bringt allgemein akzeptierte Annahmen ins Wanken: Er dekonstruiert Mythen, am witzigsten in dem Historienfilm „Hana“ („Hana yori mo hana“) aus dem Jahr 2006. Der Film spielt zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Koreeda greift in ihm die Rachegeschichte der 47 Samurai auf, deutet diese überraschend um und stellt damit althergebrachte Werte in Frage.

„Was diese Familie verbindet, ist der Diebstahl“ …

sagt Koreeda über „Shoplifters“ (03:12).

In der mit beschwingter Musik unterlegten Eröffnungsszene des Films betreten Vater Osamu und Sohn Shōta gemeinsam einen Supermarkt. Lässig führen sie ihre Fäuste aneinander, geben sich Zeichen, und während Vater Osamu sich mit seinem gefüllten Einkaufskorb in das Sichtfeld der Supermarktangestellten stellt, lässt Shōta Lebensmittel in seinem Rucksack verschwinden. Als er fertig ist, lässt Osamu den vollen Einkaufskorb stehen und die beiden verlassen den Laden. Auf dem Nachhauseweg freuen sich über ihren Fang, fühlen sich als eingespieltes Team und schmieden weitere Pläne.

Blick auf Regale eines Supermarkts, Reihe der Fertiggerichte, große Preissschilder.

07. Das wichtigste Aktionsfeld von Vater Osamu und Sohn Shōta sind größere Supermärkte.

Immer wieder wird in einzelnen Filmszenen gezeigt, wie die Familienmitglieder gegen geltende Normen verstoßen: In der Wäscherei steckt Nobuyo eine Krawattennadel ein, die sie in der Tasche eines Jacketts findet. Osamu stellt einen Müllsack mit leeren Dosen an einem Wochentag zur Sammelstelle, an dem dort Säcke mit Restmüll zum Abholen warten. Keine Kleinigkeit, denn in Japan wird die korrekte Mülltrennung äußerst ernst genommen.

Enge Straße, mit Stromkabeln überspannt, parkende Fahrräder und Motorräder, die Restaurants haben noch geschlossen: die Rollläden sind noch geschlossen.

08. Shōta nimmt sich auch in kleineren Läden der Nachbarschaft Gegenstände aus den Regalen.

… zugleich aber auch: Die Wärme der Gemeinschaft

Nach der ersten Szene im Supermarkt kommen Osamu und Shōta an einem Haus vorbei, auf dessen Balkon ein verstörtes, eingeschüchtertes Mädchen sitzt. Osamu bietet ihr etwas zu essen an, und in der nächsten Szene sitzt das kleine Mädchen mit am Familientisch. Eigentlich wollen sie das Mädchen zurückbringen, aus ihrer Wohnung dringen allerdings Geschrei und Schläge. Mit der Bemerkung „Jetzt merken sie es sowieso nicht“ kehren sie wieder um und nehmen die Kleine in ihre „Familie“ auf.

Da sitzen sie beisammen im engen Wohnraum, vor allem der Vater hat schlechte Umgangsformen, redet ständig mit vollem Mund, zeigt mit seinen Essstäbchen auf andere – doch die Szene um den brodelnden Eintopf zeigt ein warmherziges Zusammensein einer engen, fürsorglichen Gemeinschaft, kuschelig und voller zärtlicher Umarmungen.

Erst nach Monaten geben die Eltern der kleinen Yuri eine Vermisstenanzeige auf, ihre neue Familie erfährt es über das Fernsehen. Sie schneiden Yuri die Haare, geben ihr einen neuen Namen, verbrennen ihre alten Kleider und spekulieren darüber, ob sie nach Hause gehen wird: „Vielleicht hat sie sich für uns entschieden.“ – „Vielleicht ist es ja stärker, wenn man es sich aussuchen kann. Die Verbindung, das Gefühl dazuzugehören.“ – Die Kleine entscheidet sich, in der Familie zu bleiben.

Die Dramaturgie des Films

Die Interpretation von Emmanuel Hamon legt die innere Struktur des Filmgeschehens offen: Die Handlung erstreckt sich über ein Jahr, die Erzählung beginnt im Winter. Im Sommer hat die Familie ihre schönste Zeit, es ist ihr Höhepunkt: Gemeinsam machen sie einen Ausflug an den Strand und sind glücklich miteinander (30:00).

Aber nach dem unbeschwerten Sommerausflug stirbt die Großmutter, und um die Rente weiterhin zu beziehen, beerdigen die anderen Familienmitglieder sie heimlich unter dem Haus.

„Die Familie zerbricht nicht an den äußeren Bedingungen, sondern von innen her.“ (Koreeda, 36:40). Die Kinder werden älter, Shōta möchte nicht mehr stehlen. Bei einem Ladenbesuch mit seiner kleinen Schwester lässt er sich absichtlich erwischen und wird gefasst. Auch der Rest der Familie wird von der Polizei aufgegriffen und vernommen, und ihre Ideale und Halbwahrheiten brechen zusammen.

Nahaufnahme auf ein Regal voller japanische Süßigkeiten und Knabbereien wie Tabekko dōbutsu, Tonkari corn, Pretz, Bisuko.

09. Süßigkeiten spielen eine große Rolle. – Zunächst hatte Shōta dem kleinen Mädchen Yuri stolz angeboten: „Das kann ich Dir auch beibringen.“ Aber zunehmend hat er Zweifel an seinem Tun.

Der Besitzer eines Süßigkeiten-Ladens, der die ganze Zeit schon weiß, das Shōta Dinge aus seinem Laden entwendet, bittet ihn, das Stehlen nicht seiner Schwester beizubringen. Shōta glaubt nicht mehr an den Vater, sieht ihn fortan als unaufrichtig.

Zeit für Wahrheiten

Koreeda definiert für sich das Erwachsenwerden folgendermaßen: „Wenn ich mir überlege, wann ich erwachsen geworden bin, dann war das der Moment, an dem ich von meinem Vater enttäuscht wurde. Als ich anfing, ihm zu misstrauen. In dem Augenblick wird aus dem Kind ein Erwachsener.“ Auf dieser Erfahrung basiert sein Film (39:10).

Mit Shōtas Bewusstsein für Schuld beginnt die Familie zu zerbrechen, und mit ihr die falschen Grundannahmen, wie: dass das Klauen niemandem schade oder: dass die Schule eine Einrichtung für Kinder sei, die zu Hause nicht lernen können.

Die Mutter Nobuyo nimmt die Kindesentführung und die damit verbundene Gefängnisstrafe auf sich. Yuri kommt in ihre nach wie vor gewalttätige Herkunftsfamilie, Shōta wird in einer Einrichtung für vernachlässigte Kinder untergebracht. Als er Nobuyo im Gefängnis besucht, gibt sie ihm die Chance, seine wahre Identität herauszufinden, indem sie ihm Hinweise auf den PKW gibt, aus dem die beiden ihn vor Jahren mitgenommen – im Grunde: gerettet – haben.

Shōta hat seinen „Vater“ Osamu zu diesem Zeitpunkt intellektuell schon längst hinter sich gelassen. Als er nachfragt, ist Osamu ehrlich: „Ja, wir wollten ohne Dich abhauen. Von jetzt an bin ich nicht mehr Dein Papa.“

Ungewöhnliche Familien, oft in Krisen, in Schieflagen

Der Schauspieler Lily Franky bringt die wichtigste Frage des Filmes auf den Punkt: „Was macht eine Familie aus?“ (05:25) Die Soziologin Muriel Jolivet erklärt, dass im nach wie vor konfuzianisch geprägten Japan die Familie von zentraler Bedeutung ist, fast alle Kinder ehelich geboren werden, man mehr als in anderen Industriestaaten auf die biologische Verwandtschaft Wert legt (06:50).

Koreeda schlägt dagegen andere Familien-Modelle vor: „Ich kann schlecht laut sagen, dass Blutsbande keine Rolle spielen oder dass Familien auch ohne sie existieren können. So eine Aussage käme in der heutigen japanischen Gesellschaft wohl nicht gut an.“ (06:35).

„Shoplifters“ ist nicht sein einziger Film, in dem Koreeda neue Möglichkeiten des Zusammenlebens auslotet: verwandt nicht auf der Basis der Abstammung, der biologischen Familie, sondern aufgrund anderer Bindungen. Diesen anderen Familien-Modellen haucht Koreeda warmes Leben ein. Sie leben oft am Rande der Gesellschaft, „versprengt, neu zusammengefügt, in Trauer“ (22:00). Im Film „Like Father, Like Son“ stellt sich zum Beispiel heraus, dass es sich bei dem Sohn einer den gesellschaftlichen Normen äußerst verpflichteten Familie nicht um den biologischen Sohn handelt. Er wurde bei der Geburt vertauscht. Ihr gesamtes Leben gerät durcheinander, als die beiden betroffenen Familien den „Rücktausch“ der Söhne ausprobieren.

Folglich gibt es in Koreedas Filmen zahlreiche Szenen, in denen sich die Figuren überlegen, was sie eigentlich im Innersten zusammenhält, der zentrale Begriff lautet „kizuna“ („Band“, „Verbindung“). Ein Wortwechsel aus „Shoplifters“: „Kinder brauchen ihre Mütter.“ – „Nein, das ist nur das, was sich Mütter wünschen.“

Aber die Überlebensgemeinschaft in „Shoplifters“ ist eben doch eine Familie mit Bruchstellen. Das wird in der Szene deutlich, in der Shōta sich weigert, den nach Anerkennung suchenden Osamu tatsächlich mit „Vater“ anzusprechen, obwohl ihn dieser darum bittet: „Na los, sag schon! Probier einmal!“ – der Junge antwortet: „Irgendwann“.

Koreedas Arbeit am Set

Der Film von Emmanuel Hamon verdeutlicht, welch zentrale Bedeutung die Ausstattung der Drehorte für Koreeda hat. Das Haus wird zur Höhle, zum sicheren Ort der Gestrandeten inmitten der modernen Stadt. Das Haus ist vollgestopft mit Dingen aus der Vergangenheit, voller Spuren der Menschen, die in ihm lebten. Rückzugsort für den Jungen Shōta ist der Wandschrank, einige Szenen sieht man aus seiner Perspektive: der Blick mit einem nur eingeschränkten Sichtfeld aus dem Schrank heraus. – Koreeda: „Als Kind habe ich selbst in einem Wandschrank gewohnt, ich hatte kein eigenes Zimmer“ (12:29).

Aus der Vogelperspektive Blick auf Reihen vierstöckiger Wohnhäuser, im Hintergrund Hochhäuser, dazwischen vereinzelte Einfamilienhäuser.

10. Inmitten einer Wohnsiedlung wie dieser steht ein altes Haus, in dem die „Familie“ zusammengefunden hat.

11. Das alte Haus in „Shoplifters“ stammt aus der Shōwa-Zeit (1926-1989). Im Shōwa no Kurashi Museum (Museum über das Leben in der Shōwa-Zeit, Ota-ku, Tōkyō) kann man dem Lebensgefühl der Zeit nachspüren.

Hölzernes Eingangstor des Museums, im Hintergrund das Holzhaus aus der Shōwa-Zeit.

Koreeda lässt sich von Nachrichten, oft kleinen Zeitungsmeldungen, inspirieren, recherchiert in den Milieus und lässt seine Figuren dann in einer solchen Umgebung agieren. Dabei beharrt er beim Drehen der Szenen nicht auf den Vorgaben in seinem Drehbuch, sondern geht auf die Schauspieler ein, lässt sie erst einmal am Drehort ankommen, achtet ihre Gefühle und Gewohnheiten. „Man lernt zwar den Text, aber zum Schluss kommt es doch ganz anders“ (Lily, 33:00). Auf schon gedrehte Szenen reagiert Koreeda mit Änderungen an seinem Drehbuch und fügt zusätzliche Szenen hinzu. „Wenn man es schafft, diese drei Phasen organisch miteinander zu verbinden ist das Script dann am letzten Drehtag fertig.“ (Koreeda, 35:10).

In allen Filmen von Koreeda kommen Kinder vor, dies ist eine seiner zentralen Techniken: Dramen von Erwachsenen aus der Perspektive von Kindern zu zeigen (22:40).

In verschiedenen Interviews erklärt er seine Arbeit mit den Kindern: Er gibt ihnen das Drehbuch nicht zu lesen, sondern geht mit ihnen ans Set, erklärt ihnen die Situation und lässt ihnen viel Freiheit, die Szene dann zu spielen (Anm. 2). „Die Aufnahme geschieht einfach so, ganz nebenbei, als würde die Kamera gar nicht laufen“ (Lily, 23:30).

Reaktionen

Mit der Wahl seiner Themen werden die prekären Lebensverhältnisse vieler japanischer Angestellter und Arbeiter, Hilfskräfte und Tagelöhner zum Thema. Über ein Drittel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmern in Japan befinden sich in nicht gesicherten Arbeitsverhältnissen, und obwohl Japan als Staat eine große Wirtschaftsmacht darstellt, leben viele Menschen unter der Armutsgrenze.

Während Koreedas Filme große internationale Anerkennung erfahren und auf allen Festivals gefeiert werden, war die Reaktion auf den Film in Japan gespalten. Von der Regierung und einem Teil der öffentlichen Meinung wurde er ignoriert.

Die Soziologin Muriel Jolivet erklärt, dass dies unter anderem daran liegt, dass der Film ein Bild von Japan vermittelt, das man dort lieber nicht nach außen tragen möchte (49:20). Die gesellschaftlich geforderte Haltung des Durchhaltens umfasst auch, unbedingt den Schein zu wahren, jegliches Scheitern zu verbergen und Armut zu vertuschen.

Querliegendes Palmenblatt in ovaler Umrandung.

12. „Shoplifters“ wurde 2018 auf den Internationalen Filmfestspiele von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Logo der Filmfestspiele in Cannes.

Auf den Vorwurf, der Film glorifiziere ein Verbrechen, antwortet Koreeda: „Wer behauptet, der Film würde zu Verbrechen anstiften oder Japan diffamieren, hat den Film entweder nicht gesehen oder nicht verstanden“ (Koreeda, 49:10).

Sehenswert: Der Film zum Film

In seiner feinen Wahrnehmung, seinem genauen Hinsehen schafft Koreeda ruhige, nachdenkliche Szenen ohne Sentimentalitäten, in einer Art „poetischem Realismus“. Dadurch, dass er die Handlung mit den Schauspielerinnen und Schauspielern entwickelt, vermitteln die Szenen eine große Authentizität. So ist das Kompliment von Lily Franky an Koreeda zu verstehen: „Darin besteht die eigentliche Kunst von Koreeda: Er schafft es beim Dreh, Staub zum Leuchten zu bringen.“ (Lily, 45:55).

Diese Ehrlichkeit in der Darstellung hat eine enorme emotionale Ausstrahlungskraft. Die Szenen zeigen nichts Überflüssiges, keine übertriebene Mimik in Nahaufnahme. Kleine Gesten fangen Stimmungen auf und verdeutlichen die Beziehung der Figuren untereinander.

Die filmische Interpretation von Emmanuel Hamon ist äußerst sehenswert, da sie einen Einblick in den Entstehungsprozess der Filme von Koreeda gewährt. Die Ausschnitte von der Arbeit am Set zeigen den vorsichtigen Umgang des Regisseurs mit den Schauspielern: die behütete Atmosphäre, in der die Schauspieler zugleich angeleitet und geschützt arbeiten. Die Schauspieler erzählen, dass sie während der Dreharbeiten auch gefühlsmäßig als Familie zusammengewachsen sind. Das ging so weit, dass sie sich auch nach den Dreharbeiten immer noch regelmäßig trafen, auch zur Trauerfeier für Kirin Kiki, die im September 2018 kurz nach der Fertigstellung des Films verstarb.

 

Susanne Phillipps

22.09.2021 (Ausgabe 04)

Anmerkungen

01

Podiumsdiskussion „The Cinema of Hirokazu Kore-eda. Still Walking Q&A“ vom British Film Institute (15:00); https://www.youtube.com/watch?v=dqVj7x1gMYk, letzter Zugriff: 21.09.2021.

Darunter ein Kommentar von „A-Roll“: „Notice how Eda-san poured water for the translator first then himself. What a humble man!“

02

Zum Beispiel zu dem Film „Like Father, Like Son“ beim American Film Institute (04:30), https://www.youtube.com/watch?v=J_o0QnhkSd0, letzter Zugriff: 21.09.2021.

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Bildnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Titelbild Shoplifters: By User:Katangais – Own work, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44129474

01: Von Andriy Makukha (Amakuha) – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=41991998

02: By Dick Thomas Johnson from Tokyo, Japan – Lily Franky from "MIKO GIRL" at Opening Ceremony of the Tokyo International Film Festival 2017, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=66334587

03: Von Dick Thomas Johnson from Tokyo, Japan – Ando Sakura from "Sound of Waves" at Opening Ceremony of the Tokyo International Film Festival 2016, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=57403301

04: By Dick Thomas Johnson from Tokyo, Japan – Matsuoka Mayu at Opening Ceremony of the Tokyo International Film Festival 2018, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=73984087

05: Von Autor unbekannt – Ursprung unbekannt; erzeugt aus File:Arte Logo 2011.svg, Gemeinfrei,https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=57612211

06: Von Georges Biard, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=40665896

07: By Yuya Tamai – Supermarket in Japan, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37541025

08: Von Joe Mabel, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37225542

09: Von wyinoue – Flickr: Goodies, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31124740

10: By Ebiebi2 – Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6947261

11: By Kentin – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31389340

12: Von Festival de Cannes – http://www.festival-cannes.fr/assets/Pdf/General/pdf-9141.pdf, Logo, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=3560710