Können Roboter Japan „retten“?
Cosima Wagner (2013). Robotopia Nipponica. Recherchen zur Akzeptanz von Robotern in Japan. Marburg: Tectum Verlag; broschiert, XXII + 428 Seiten.
Die Filmaufnahmen aus japanischen Automobil-Werkshallen in den 1980er Jahre wirkten atemberaubend: Entlang des Bandes, auf dem sich die Karosserien entlangschoben, setzten vollautomatische Industrieroboter in schwindelerregendem Tempo exakt platzierte Schweißpunkte. Das Wissen um diese Technik machte Japan zur „Roboter-Großmacht“ (robotto taikoku), und bis heute ist es das Land mit der größten Dichte an Industrierobotern weltweit.
Roboter wurden zum Symbol für Japans technischen Fortschritt, und es entstand das Bild von einer einzigartig technikaffinen, roboterbegeisterten Bevölkerung. Zurückgeführt wurde dies auf die Tatsache, dass schon in der Edo-Zeit (1600-1868) mechanische Puppen die Bevölkerung erfreuten. Dass diese Betrachtung zu kurz greift, zeigt Cosima Wagner in „Robotopia Nipponica“.
Über das Buch
In „Robotopia Nipponica“ spürt Cosima Wagner die Besonderheiten der japanischen Roboter-Entwicklung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive auf und zeigt dabei, welche Bedeutung Technik für die japanische Gesellschaft hat (S. 16-17).
Am Beispiel des Roboters unternimmt sie eine auf Japan bezogene Objektgeschichte, ihre Untersuchung ist also den Material Cultural Studies zuzuordnen (S. 29).
Gegliedert ist das Buch in fünf Abschnitte: Einer Einleitung mit Darstellung der Forschungslage (35 Seiten) folgen zwei zentrale Kapitel mit jeweils etwa 130 Seiten, ein Kapitel mit Beispielen für Anwendungen sozialer Roboter (30 Seiten) und eine Schlussbetrachtung (40 Seiten). Hinzu kommen ein Glossar (7 Seiten) und der Anhang (insgesamt 50 Seiten) mit dem Fragenkatalog, der den geführten Experten-Interviews zugrunde lag, einem Stichwort-, Personen- und Roboter-Index sowie dem Literaturverzeichnis.
Die beiden zentralen Kapitel spiegeln die Bandbreite der Untersuchung wider – und das ist das Besondere an dieser Studie: Sie bewegt sich an einem Schnittpunkt.
Auf der einen Seite werden die in der japanischen Kultur geschaffenen Bilder von Robotern betrachtet: Manga und Anime-Erzählungen haben das heutige Bild von Robotern geprägt, und Cosima Wagner zeichnet nach, wie die Roboter-Figuren konzipiert, welche Stilmittel und Erzählstrategien eingesetzt und welche Bilder von der Leserschaft aufgenommen wurden.
01. Schweißroboter in der industriellen Fertigung: Japan ist nach wie vor der größte Produzent von Industrierobotern (S. 172).
02. Heute sind Industrieroboter weltweit nicht mehr aus der Automobilproduktion wegzudenken.
Auf der anderen Seite betrachtet sie die Technikgeschichte der letzten Jahrzehnte, hier im Besonderen die Entwicklung und Produktion von so genannten sozialen Robotern. Dies umfasst politische Fragestellungen genauso wie wissenschaftliche, soziologische und ökonomische.
In dieser Gegenüberstellung macht Cosima Wagner deutlich, dass die beiden Bereiche – die in Fiktionen geschaffene Vorstellungswelt von Robotern und die tatsächliche technische Entwicklung der Maschinen bzw. der Umgang mit ihnen – in der japanischen Gesellschaft nicht nur eng miteinander in Verbindung standen, sondern sich gegenseitig bedingten.
Ein wichtiger Ausgangspunkt für ihre Untersuchung ist die wegweisende Veröffentlichung von Frederik L. Schodt aus dem Jahr 1988: „Inside the Robot Kingdom. Japan, Mechatronics, and the Coming Robotopia“.
Darüber hinaus werden zahlreiche Forscherinnen und Forscher zitiert, vor allem aus der Techniksoziologie und -philosophie. Hier liegt einer der besonders wertvollen Punkte dieses Bandes: die Einordnung, Kurzcharakterisierung bzw. Zusammenfassung der genutzten Sekundärliteratur, die dadurch, dass die Studie so vielseitig angelegt ist, notwendigerweise aus den unterschiedlichsten Forschungsbereichen stammt.
Was ist eigentlich ein Roboter?
Eine Studiengruppe des japanischen Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie (METI) definierte „Roboter“ als „intelligente maschinelle Systeme, welche Schlüsseltechnologien in der Sensorik, der Intelligenz und Steuerung sowie für den Antrieb besitzen.“ (S. 221).
„Roboter der nächsten Generation“ (jisedai robotto, next generation-Roboter) sind Roboter, die nicht wie die bisherigen Industrieroboter mit großem Sicherheitsabstand zum Menschen zum Einsatz kommen (S. 221). Der Begriff lässt Raum für unterschiedliche Roboter-Konzeptionen, deren einzige gemeinsame Eigenschaft darin besteht, zur Interaktion mit dem Menschen fähig zu sein (S. 5).
Cosima Wagners Untersuchung beschäftigt sich mit Service-Robotern, die in den Bereichen Wohlfahrt und Pflege, Unterstützung im Alltagsleben, Unterhaltung, Reinigung und Überwachung eingesetzt werden sollen (S. 5). Sie haben verschiedene Formen, haben zum Beispiel ein humanoides Aussehen oder sind Vierbeiner.
Teil I: Bilder von Robotern
Bilder von Maschinen-Menschen bis 1945
Das Bild vom Maschinenmensch kam durch das Theaterstück „R.U.R. – Rossum’s Universal Robots“ von Karel Čapek nach Japan, uraufgeführt im Kleinen Theater Tsukiji, der Urzelle des europäischen Theaters in Japan. Das Stück wurde als Kritik an einer zu stark von Maschinen geprägten Zivilisation wahrgenommen (S. 41).
In der Folge tauchte der Begriff „robotto“ in japanischen Veröffentlichungen und in der Umgangssprache auf, und langsam setzte sich das Bild des Roboters als künstlichem Menschen (kikai ningen, „Maschinenmensch“) in menschenähnlicher oder metallischer Hülle durch (S. 40-47).
03. Tschechische Erstausgabe des Theaterstücks „R.U.R. – Rossum’s Universal Robots“ von 1920.
Die Bezeichnung „robot“ stammt von Josef Čapek, dem Bruder von Karel Čapek.
In dem Theaterstück müssen in Tanks gezüchtete künstliche Wesen die Arbeit der Menschen übernehmen, wogegen sie revoltieren (hier eine ausführliche Darstellung).
04. Rechts im Bild: Karel Čapek (1890-1938), Autor des Theaterstücks „R.U.R.“, gemeinsam mit seinem Bruder Josef (1887-1945), Maler, Schriftsteller und Erfinder des Begriffs „Roboter“.
Als technischer Helfer war der Begriff „robotto“ durchaus mit positiven Konnotationen belegt, hatte aber zugleich einen bedrohlichen Beigeschmack: zum einen im Hinblick auf die Gefahr, Japans Alltagskultur könne von der aus Europa und den USA importierten Technik überformt werden. Zum anderen wuchs das Bewusstsein für die Bedrohung, die von einer möglichen mechanisierten Gewalt ausgehen könnte.
05.-06. Der Film „Metropolis“ von Fritz Lang trug wesentlich dazu bei, den Roboter als Maschine zu sehen, die vom Mensch als sein Ebenbild geschaffen wurde.
Filmplakate von der Skyline und dem Roboter Maria.
Auch die Erfindungen der Zeit untermauerten das Bild von einem von der Wissenschaft geschaffenem Geschöpf, gebaut, um den Menschen zu helfen (S. 52). Zum ersten Mal tauchte aber auch das Gefühl des Unheimlichen (uncanny) auf: der beklemmende Eindruck, der sich einstellt, wenn man es mit einer Maschine zu tun hat, die zu menschenähnlich ist – und in der Fiktion verschwamm schon die Grenze zwischen Mensch und Maschine (S. 49).
07. Der Telefon-Roboter Televox und sein Erfinder R. J. Wensley (1927): ein metallenes, elektrisches Gerät in Menschenform, zu steuern über Telefon und Pfeiftöne (S. 44-45).
08. Gakutensoku wurde 1928 in Japan erfunden.
Leitbilder von Robotern nach 1945
Es sind enorm erfolgreiche und damit auch einflussreiche Manga und Anime der Nachkriegszeit, vor allem mit den beiden Hauptfiguren Tetsuwan Atomu und Doraemon, durch die der Roboter in Japan „zum Freund und Helfer“ wurde (S. 54). Die Manga- und Anime-Serien bzw. die dazugehörigen Produkte der Vermarktung erreichten in den 1960er und 1970er Jahren die gesamte damalige Kindergeneration und prägten das Bild des Roboters als eines sympathischen, hilfsbereiten und auch verspielten technischen Gefährten.
Der Roboterjunge Tetsuwan Atomu von Tezuka Osamu
Der Roboterjunge Tetsuwan Atomu („Eisenarm Atom“, im Ausland: Astro Boy) ist ein Roboter mit menschlichem Schicksal: Er wird von seinem „Vater“, dem Forscher Dr. Tenma, der ihn als Ersatz für den eigenen, verstorbenen Sohn erfunden hat, verstoßen und später von dem liebevollen Dr. Ochanomizu aufgenommen und umsorgt. Atomu besitzt übermenschliche Fähigkeiten, hat aber auch Schwächen. Der atombetriebene, liebenswerte Roboter-Junge, etwa so alt wie seine Leserschaft, ist ständig im Einsatz gegen Bösewichte, auch Außerirdische, die nicht selten die gesamte Menschheit bedrohen. Obwohl er altruistisch bis zur Selbstaufopferung ist, wird er doch immer wieder Zielscheibe der Diskriminierung durch die Menschen. Tezuka Osamus äußerst kritische Manga-Erzählungen kreisen oft um gesellschaftliche Probleme wie Unverständnis gegenüber anders Denkenden, Diskriminierung oder Verhaltensweisen, die Auseinandersetzungen eskalieren lassen.
Diese kritische Haltung sucht man in den gleichnamigen, etwa 20-minütigen Anime-Episoden vergebens. Hier agiert Atomu vor dem Hintergrund eines einfachen Gut-Böse-Schemas als junger Held, als „Freund der Gerechtigkeit“ (seigi no mikata, S. 73). Die Figur verkörperte in perfekter Form das nach dem Krieg neu gewonnene japanische Selbstbewusstsein, vor allem in Hinblick auf den technischen und industriellen Fortschritt. Zugleich stand sie für eine positive Nutzung der Kernkraft, weit weg vom Trauma der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki (S. 70-71).
09. Briefmarken der japanischen Post zum Gedenken an Tezuka Osamu. Als gezeichnetes Selbstportrait ist er Arm in Arm mit seiner Figur Tetsuwan Atomu zu sehen.
Von Tezuka Osamu ursprünglich nicht intendiert, wurde Atomu die „Roboter-Ikone“ schlechthin, Nationalheld und Weltenretter, und stand für grenzenlosen technologischen Optimismus (S. 76, 79, 83). In den Gesprächen, die Cosima Wagner mit Forschern und Entwicklern in der Robotik führte, ist es insbesondere die Figur Tetsuwan Atomu, die die Ingenieure immer wieder als Motivation für ihre Arbeit anführen (S. 58). Auf einige Forscher hatten die Geschichten einen so enormen Einfluss, dass sie das Gespräch mit Tezuka Osamu suchten (S. 75).
Die Roboterkatze Doraemon von Fujiko Fujio
In der Serie „Doraemon“ hat ein Nachfahre des liebenswerten, aber faulen Jungen Nobita Angst, dass Nobita durch seine schlechten schulischen Leistungen seine eigene Zukunft und damit die der gesamten Familie aufs Spiel setzen könnte und schickt deshalb die Roboterkatze Doraemon aus der Zukunft in die Gegenwart. Doraemon verfügt über unzählige interessante Gerätschaften, mit denen er versucht, Nobita immer wieder aus der Patsche zu helfen, gerade dadurch aber die Lage oft noch verschlimmert. Gegen Schluss einer jeden Episode wendet sich aber alles zum Guten.
Zwei Punkte stellt Cosima Wagner im Zusammenhang ihrer Untersuchung besonders heraus: Zum einen wird in der Serie ein verspielter Umgang mit Technik gezeigt, die Gerätschaften sind witzig und gehen nicht kaputt; zum anderen ist Doraemon eine Katze und nimmt damit den Roboter im Tierformat vorweg (S. 93-94).
Heute gibt es zahlreiche Nachschlagewerke zur Funktionsweise von Doraemons Gerätschaften, inklusive Überlegungen zu einer möglichen technischen Realisierung. In Interviews führen einige Entwickler an, sich zum Ziel gesetzt zu haben, einen echten Doraemon zu realisieren.
10. Die blau-weiße Roboterkatze Doraemon des Zeichnerteams Fujiko Fujio auf einem Expresszug nach Odawara. Die Roboter-Katze wurde 2008 im Rahmen der „Cool Japan“-Kampagne der japanischen Regierung zum offiziellen japanischen „Anime-Kulturbotschafter“ (Anime bunka taishi) ernannt (S. 31).
Im Rückblick ist festzustellen, dass sich die Erzählinhalte der Manga von der Rettung durch einen Roboterjungen (Tetsuwan Atomu) über einen Jungen mit einem Roboter an der Seite (Doraemon) schließlich zu einem Jungen in einem Roboter entwickelten. Bei letzteren handelt es sich um Riesenroboter wie Tetsujin 28gō, Mazinger-Z oder Eva von „Shin-seiki Evangelion“: Maschinen, die von Jungen gelenkt werden. Umhüllt von einer großen Kampfmaschine retten sie Japan oder die ganze Welt (S. 104).
Roboter in der Spielzeugindustrie
Die Roboter wurden zu gefragten Modellen der Spielzeugindustrie, ein Industriezweig, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan besonders stark angekurbelt wurde, um die Wirtschaft wiederzubeleben. In den 1950er Jahren gab es in Japan über 300 Hersteller von Blechspielzeug, etwa 30 davon waren auf Roboterfiguren spezialisiert (S. 55). Die Figuren wurden in die USA exportiert, wo sie zu beliebten Sammlerobjekten wurden.
Über die Jahrzehnte entwickelten sich die Spielzeugroboter weiter und verfügten über immer raffiniertere technische Fähigkeiten (science robot toy). Diese Haushalts- und Unterhaltungsroboter waren ein Schritt auf dem Weg hin zu den heutigen Service-Robotern (S. 100-101).
11. Das Unternehmen Bandai wurde zum bekanntesten Roboter-Spielzeughersteller in Japan (S. 112). 1979 startete die Fernsehserie „Mobile Suit Gundam“. Die Vermarktung über die letzten Jahrzehnte umfasst Anime, Manga, Kinofilme, Videospiele, Spielzeugfiguren. Hier ein Gundam-Café.
12.-15. Verschiedene Modelle von Roboter-Spielfiguren, die inzwischen zu beliebten Sammlerobjekten geworden sind.
Teil II: Staatliche Förderung und technische Entwicklungen
Im zweiten zentralen Kapitel rekapituliert Cosima Wagner die Entwicklung der japanischen Robotik. Technische Grundlagen waren das Zusammenführen von Maschinen- mit Elektrotechnik, später mit Informationstechnik und die Entwicklung der Mechatronik (S. 256-261).
Auf politischer Ebene diente das „Science and Technology Basic Law“ von 1995 als Basis: auf ihm wurden Grundlagenpläne für Wissenschaft und Technologie erstellt (S. 181-194). 2002 erklärte das METI die Förderung der next generation-Robotertechnologie zu einer der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben der Zukunft (S. 6). Das Land sollte hin zu einer „advanced science and technology oriented nation“ ausgerichtet werden (S. 179). Die Roboterindustrie wurde zu einer von sieben Schlüsselindustrien.
16. Miraikan. Um das Verständnis für Wissenschaft und Technologie in der Bevölkerung zu fördern, wurde 2001 das National Museum of Emerging Science and Innovation (Nihon kagaku miraikan, „Zukunftsmuseum der japanischen Wissenschaften“) in Odaiba, Tōkyō, eröffnet. Dort trifft man auch auf die Roboter-Leitbilder Tetsuwan Atomu und Doraemon, Zeichen für die enge Verflechtung von Populärkultur und Technik (S. 190-193).
Die zugrunde liegende Motivation war das Wissen um die Überalterung der Gesellschaft, konkret um den Einbruch der Wirtschaftsleistung durch den Renteneintritt der Generation der so genannten Babyboomer (geboren 1947 bis 1949). Die Roboter sollten in den Bereichen angewandt werden, in denen der gesellschaftliche Bedarf am höchsten sein würde: im Haushalt, in Krankenhäusern, in der Wohlfahrt und in der Katastrophenbewältigung. Entwickelt werden sollten Roboter mit unterschiedlichen, zunehmend höheren Kontaktgraden zum Menschen (S. 217-218).
Cosima Wagner beschreibt aus soziologisch-politikwissenschaftlichem Blickpunkt die Regierungspläne, die tagenden Strategiekommissionen, Arbeits- und Studiengruppen, die entworfenen Visionen und Leitfäden, Grundlagenpläne und Programme, schließlich die konkreten Maßnahmen und gewährten staatlichen Förderungen, die Preise und Auszeichnungen.
17. Eines der Roboter-Förderzentren ist die Stadt Tsukuba (S. 229). Hier ein Warnschild im Stadtzentrum, das auf eine ausgewiesene Roboter-Fläche hinweist.
In diesem Bereich kann es vorkommen, dass sich Roboter autonom bewegen.
18.-19. RoboCup (kurz für „Robot Soccer World Cup“) ist ein jährlich stattfindender internationaler Robotik-Wettbewerb, der seit 1997 ausgetragen wird. Erster Austragungsort war Nagoya in Japan. Durch den Wettbewerb soll die Robotik- und KI-Forschung eine breite Förderung erfahren.
Der Titel „Robotopia“
Die Darstellung von Cosima Wagner zeigt: Soziale Roboter sollten in Japan in großem Umfang nicht nur dafür eingesetzt werden, um die geschwächte japanische Wirtschaft zu stärken, ihr Einsatz sollte zugleich dazu beitragen, die Gesellschaft umzugestalten. Das Vorhaben erinnert an Anstrengungen der japanischen Regierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Bevölkerung Elemente des europäischen bzw. US-amerikanischen Lebensstils einzuführen.
Die Erwartungen Anfang des 21. Jahrhunderts gingen nun dahin, mit dem Einsatz sozialer Roboter der massiven Überalterung entgegenzusteuern, die Sicherheit zu erhöhen, den Alltag zu entlasten (S. 135). Mit anderen Worten: Soziale Roboter sollten als Partner den Menschen bereichern, und durch ihren Einsatz sollten gesellschaftliche Probleme gelöst werden.
Überdeutlich wird dies an Erzählungen, auch in Form von Manga, die von der Regierung in Auftrag gegeben wurden: Sie enthalten Szenarien eines möglichen Alltags in der Zukunft, zum Beispiel der Drei-Generationen-Familie Inobe. Die Großeltern sind Dank medizinischer Weiterentwicklungen noch fit, kreativ und wirtschaftlich aktiv; der Vater ist mit einer eigenen Firma selbstständig; die Mutter arbeitet mit Unterstützung der Haushaltsroboter in ihrem Beruf, versorgt die Kinder und den Haushalt; die Kinder bewegen sich Dank der Überwachungselektronik sicher auf den Straßen („Innovation 2025: Ein Tag im Leben der Famlie Inobe“, S. 143-162).
Abgesehen von der konservativen Rollenverteilung in diesem Entwurf bemängelt Cosima Wagner bei den formulierten Visionen das Fehlen einer klaren Definition von Robotern: „Roboter“ wurde weniger als eine funktionstüchtige Maschine denn als ein Gegenüber, als ein Partner für die Menschen imaginiert, geprägt von dem Bild des Tetsuwan Atomu (S. 211). Und so erklärt sich der Titel der Studie, durch den Cosima Wagner die Veröffentlichung von Frederik L. Schodt zitiert: „Robotopia“ als eine Utopie von einem Zusammenleben von Menschen mit Robotern.
20.-21. Für das Gesicht von Repliee Q2 wurden die Gesichter mehrerer junger Japanerinnen gescannt und die Bilder zu einem durchschnittlichen Gesicht kombiniert. Repliee Q2 kann menschliche Funktionen wie Blinzeln, Atmen und Sprechen nachahmen, Sprache und Berührung erkennen und verarbeiten und entsprechend reagieren.
22. Trompete spielender Roboter von Toyota Motor Corporation.
23. Enon von Fujitsū.
24. Der an der Universität Tōkyō entwickelte Roboter Kotarō.
Ein Einblick in Forschung und Entwicklung
In Interviews fragte Cosima Wagner Forscher und Entwickler nach ihrer Einschätzung zur Robotik in Japan.
Das Forschungsgebiet zeigt zwei, kaum miteinander vereinbare Schwerpunkte: auf der einen Seite die industrielle, also anwendungsbezogene und bedarfsorientierte Entwicklung und auf der anderen Seite die kreative bis hin zur „traumorientierten“ Forschung an den Universitäten (S. 278).
Staaten fördern unterschiedliche Forschungsschwerpunkte, und in Japan spielt die Entwicklung humanoider Roboter eine viel größere Rolle als in anderen Ländern.
25. Ishiguro Hiroshi mit seinem androiden Klon Geminoid.
In den Interviews kommt immer wieder die visionsfördernde Wirkung der Populärkultur zu Tage. „Baut einen Roboter wie Tetsuwan Atomu“ („Tetsuwan Atomu no yōna robotto wo tsukure“) lautete der inzwischen legendär gewordene Auftrag von Tagami Katsuyoshi, des Leiters der Forschungsabteilung zu humanoiden Robotern bei Honda, im Jahr 1988. Ergebnis war der humanoide Roboter Asimo. Der Satz zeigt die Quintessenz der Untersuchung von Cosima Wagner: die Wechselwirkung populärer Vorstellungen und der tatsächlichen Realisierung von Maschinen.
26.-27. Asimo ist ein von Honda entwickelter humanoider Roboter. Durch seinen Gang auf zwei Beinen wirkt er sehr menschenähnlich.
Cosima Wagner zitiert kritische Stimmen, die vor vollkommen überzogenen Erwartungen warnen (S. 250), da die derzeitige Forschung an humanoiden Robotern vor dem Hintergrund der aktuellen technischen Möglichkeiten viel zu verfrüht und übertrieben sei (S. 273). Inzwischen mussten zu optimistische Wachstumsprognosen nach unten korrigiert werden, viele Vorhaben waren nicht finanzierbar, und die Entwicklung reichte in vielen Fällen nur bis zum Prototyp (S. 253).
Roboter-Haustiere
Die größten Erfolge konnten auf dem Gebiet der Roboter-Haustiere (petto robotto) gefeiert werden. Hier findet eine Interaktion von Mensch und Maschine mit therapeutischem Nutzen statt: Nach dem Vorbild der Tiertherapie werden zur Beschäftigung vor allem in Seniorenheimen Unterhaltungsroboter eingesetzt, die zur Kommunikation und Aktivierung anregen sollen (Roboter-Therapie, robotto serapī, S. 310). Cosima Wagner berichtet ausführlich vom Einsatz solcher Roboter und der anschließenden Besprechung der Forschungsgruppe, bei der sie dabei war.
Verschiedene Formen von Roboter-Tieren:
28. Der Roboter-Hund AIBO von Sony war 1999 das erste autonome „Roboter-Haustier“ (robopetto) der Welt (S. 101). Bis zur Einstellung der Produktion im Januar 2006 wurden über 140.000 Stück verkauft (S. 174).
29. Shibata Takanori mit seiner Erfindung PARO, einem Roboter-Therapie-Seehund (2018). Paro reagiert auf Berührungen.
Keine Tradition aus der Edo-Zeit
Literatur zum Thema Roboter in Japan erwähnt nicht selten, Japanerinnen und Japaner hätten eine besondere Affinität zu Robotern, die angeblich von einer Jahrhunderte alten Liebe für mechanische Puppen herrühre. Cosima Wagner entlarvt diese Aussage als (selbst)exotisierende Zuschreibung, als Techno-Orientalismus (S. 16, 362-364).
Sie führt an, dass es keine direkte Verbindung von mechanischen Puppen (karakuri ningyō) der Edo-Zeit zu heutigen Computern gibt. Zum einen waren mechanischen Puppen auch in Europa verbreitet, zum anderen sind sie kein Ausdruck von Verspieltheit, sondern Folge eines Verbots während der Edo-Zeit, an neuer Waffentechnik zu forschen. Während der rapiden Technisierung Japans zur Meiji-Zeit waren sie vergessen (S. 127). Cosima Wagner beschreibt ihre Wiederentdeckung als einen wiederbelebten Mythos, eine invented tradition (S. 34, 129-133). Die Puppen können höchstens als Vorläufer der mechanischen Spielzeuge und der verspielten, freien Robotik-Wissenschaft an den Universitäten gesehen werden (S. 123-125, 299).
Mechanische Puppen (karakuri ningyō) der Edo-Zeit (1600-1868):
30. Puppe, die Tee serviert.
31. Bogenschützen-Jüngling (yumihiki dōji): Puppe, die Pfeile auf eine Zielscheibe schießt.
32. Puppe, die Schriftzeichen schreibt.
Die Bedeutung des Buches
Mit der Untersuchung sozialer Roboter entschied sich Cosima Wagner für die Betrachtung eines Objekts, das für die japanische Gesellschaft eine zentrale Bedeutung hat, prestigeträchtig und von größter Bedeutung für den weiteren technischen Fortschritt ist. Sie beleuchtet die Entwicklung sozialer Roboter aus sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten und zeigt auf diese Weise, wie Vorstellungen zu Robotern in der Bevölkerung geschaffen und verankert wurden. Die Analyse ist wertvoll, da das Thema – obwohl es so komplex ist – gern auf einfache Zusammenhänge reduziert wird. Die Lektüre des Buches macht deutlich, dass sich die Vorstellungswelt zum Objekt Roboter aus vielen Quellen speist und deshalb vielschichtig ist.
Wie wird es weitergehen?
Cosima Wagner schloss ihre Recherchen für das Buch im Oktober 2012 ab. In dem schnelllebigen Forschungsgebiet hat sich inzwischen viel getan.
33.-34. Ein Beispiel für die Schnelllebigkeit in diesem Bereich: Im Buch wird der Roboter namens Pepper noch nicht erwähnt, denn Cosima Wagner gab das Manuskript in den Druck, bevor Pepper 2014 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Inzwischen wurde seine Produktion schon wieder ausgesetzt.
Cosima Wagner ist weiterhin in diesem Forschungsbereich tätig, hier ist das Programm des letzten Workshops der Forschungsinitiative „Technology & Society in Japan and Beyond“ einzusehen.
Die japanische Regierung hat die Vorstellung von Robotern als künstliche Personen gefördert, der Idee Vorschub geleistet, Roboter seien Menschen ähnlich, und damit zwangsläufig unrealistische Erwartungen aufgebaut, die enttäuscht wurden. Trotz der einflussreichen Bilder von humanoiden Robotern wie Tetsuwan Atomu belegen internationale Daten, dass es in Japan keine höhere Akzeptanz von Robotern als in anderen Ländern gibt (Patrick Grüneberg, Workshop „Technology & Society in Japan and Beyond“, 25.06.2021). Nicht alle Japanerinnen und Japaner lieben Roboter und sind bereit, den Preis zu zahlen, den sie momentan noch kosten. Um den überoptimistischen Erwartungen gegenzusteuern, wäre es wichtig, Roboter nicht als sozialer Partner, sondern als Maschinen mit sozialen Funktionen zu verstehen.
Trotzdem sind die im Buch angesprochenen Fragestellungen aktueller denn je, darunter die Fragen nach der Sicherheit beim Einsatz der Roboter außerhalb von Fabriken, ihr hoher Energieverbrauch, ihre mögliche militärische Nutzung (S. 262) und eng damit verbunden: die Notwendigkeit für verbindliche Regeln, eine Ethik für Roboter oder „Gesetze der Robotik“ (S. 68-69).
Susanne Phillipps
22.09.2021 (Ausgabe 04)
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26: Von Momotarou2012 – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=23522690
27: Von Morio – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29969316
28: Von Diego Delso – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8370512
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31: By 稲益誠之– Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=76374593
32: By 稲益誠之– Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=76373700
33: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk
34: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk