Die geheilten Wunden eines „Wunderkindes“

Auf einem Notenständer liegen die 1. und die 2. Ausgabe der Autobiografie von Midori, dazwischen und außen herum viele Notenblätter

Gotō Midori (2012). Einfach Midori. Autobiografie. 2. Auflage. Redaktionelle Bearbeitung und Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Van Volxem. Leipzig: Henschel Verlag.

Er sieht aus wie der kleine Lord, mit festen, großen Schritten eilt er zum Flügel, die blonden Haare federn bei jedem Schritt nach. Auf seinem runden Kindergesicht liegt ein strahlendes Lächeln. Er schiebt die Klavierbank zurecht: Im dunklen Anzug und mit Fliege sitzt er nicht auf der Bank, sondern lehnt sich an sie an, weil er sonst nicht an die Pedale käme. Er legt seine Hände in Position, schaut mit großen Augen zum Dirigenten hinauf, nickt, und das Orchester eröffnet. Seine Bewegungen gleichen denen erwachsener Pianisten: Er schaut konzentriert auf seine Finger, die über die Tasten fliegen, sein Oberkörper wiegt hin und her, vor und zurück. Begleitet wird er von Erwachsenen, die eine schwierige musikalische Ausbildung und teils Jahrzehnte an Erfahrung hinter sich haben. 

Er beendet das Stück, verbeugt sich, enthusiastischer Applaus brandet auf. Er will von der Bühne gehen, doch der Dirigent hält ihn zurück, schüttelt ihm die Hand und hebt sie dann zur Siegerpose hoch. Mit dem Blumenstrauß kann Elisey Mysin, mit seinen damals fünf Jahren jüngster Pianist der Welt, nicht so recht etwas anfangen.

Der Mix aus seinen außergewöhnlichen Fertigkeiten und seiner kindlichen Unbedarftheit begeistert die Fans, im Internet häufen sich die Glückwünsche. Für Sport und Schwimmbad, für draußen Spielen und für Freunde bleibt in seinem Leben vermutlich keine Zeit. Wichtiger aber ist, dass in seiner Kindheit etwas Bedeutendes ganz speziell verlaufen wird: seine psychische Entwicklung. Von diesem inneren Heranwachsen als so genanntes Wunderkind erzählt die Geigerin Gotō Midori überraschend offen in ihrer Autobiografie.

Aufbau des Buches

Midori entfaltet den Rückblick entlang ihrer Lebensstationen auf knapp 300 Seiten, und zwar in den Kapiteln „Japan“, „New York“, „Unterwegs“, „Entfaltung“, „Neubeginn“, und schließt mit einem 22-seitigen Nachtrag zur 2. Ausgabe. 16 Seiten mit Fotos vermitteln die unterschiedlichsten Eindrücke aus ihrem Leben: dem ersten öffentlichen Auftritt als Vierjährige; dem Moment, in dem sie als Kind die Hand des US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan schüttelt; dem Bügeln des Abendkleides in einer Garderobe kurz vor einem Auftritt; bei einem Vorspiel. In der 2. Auflage wurden Aufnahmen ergänzt, die sie bei Aktivitäten neben ihren Auftritten zeigen, zum Beispiel an der Universität oder bei Kursen von dem von ihr initiierten Programm Music Sharing. Der Anhang enthält einen Lebenslauf in Stichworten, eine Diskografie und ein Personen-Register.

Im Vordergrund die hell erleuchtete Avery Fisher Hall. Im Hintergrund Hochhäuser von Manhattan vor dem dunklen Nachthimmel.

01. Im Prolog schildert Midori eines der bedeutendsten Ereignisse in ihrem Leben: ihren ersten Auftritt in der Avery Fisher Hall des Lincoln Center in New York gemeinsam mit den New Yorker Philharmonikern unter Leitung von Zubin Mehta am 30. Dezember 1982 mit 11 Jahren.

Midori schreibt mit einem hohen Grad an Selbstreflexion, ein bedeutender Teil des Buches befasst sich mit ihrer Mutter, der wegweisenden Person in ihrem Leben. Das Buch enthält außerdem Überlegungen zu ihrer musikalischen Entwicklung, ihrem Verständnis von Musik und deren Interpretation. Ein wichtiger Teil widmet sie Überlegungen zur musikalischen (Früh)Erziehung, die einerseits aus der Erfahrung ihres eigenen Heranwachsens, andererseits aus ihren zahlreichen, teilweise sehr aufwendigen Projekten resultieren.

Ein kurzer Rückblick: die Lebensstationen

Midori wurde 1971 in Moriguchi (Präfektur Ōsaka) geboren. Unter Anleitung ihrer Mutter, selbst Geigerin, übte sie schon in ihren ersten Lebensjahren: Sie erwähnt ein Foto, auf dem sie ungefähr 2 Jahre alt ist und eine Geige in der Hand hält.

1981, mit 9 Jahren, nahm Midori zum ersten Mal bei einem Sommerkurs der Aspen Music Festival and School (AMFS) teil, einem internationalen Festival der klassischen Musik in den USA, bei dem nicht nur renommierte Musikerinnen und Musiker zusammen kommen, sondern auch der Nachwuchs gefördert wird. Die bekannte Pädagogin Dorothy DeLay (1917-2002) wurde auf Midori aufmerksam und traf nach Absprache mit Midoris Mutter in den folgenden Monaten alle Vorbereitungen für Midoris Aufnahme in die Juilliard School in New York. Midori war 10 Jahre alt, als sie die Zusage für ein Stipendium erhielt. Wenige Monate später verließ sie mit ihrer Mutter Japan, um sich in New York niederzulassen.

Glaspavillon mit Holzdach an einem See, im Hintergrund Baum bestandene Berge

02. Campus der Aspen Music Festival and School inmitten der Berge von Colorado.

Gebäude der Juilliard School, davor Freitrappe, dahinter Hochhäuser von New York City

03. Die weltberühmte Juilliard School, Konservatorium und Schauspielschule im Lincoln Center in New York City.

In den 1980er Jahren absolvierte Midori zahlreiche Debüts mit unterschiedlichen Orchestern, sie hatte einen eng gestrickten Terminplan mit sehr vielen Auftritten. Kurz bevor sie auf eine große Geige umstieg, stellte Dorothy DeLay den Kontakt zu Mäzenen her, die ihr eine Originalgeige des Geigenbauers Giuseppe Guarneri zu Verfügung stellten. Sie erlebte die Risiken und Chancen beim Einspringen für bekannte Musiker/innen und machte erste CD-Aufnahmen.

In Glasvitrine senkrecht gestellte, beleuchtete Violine „Stauffer“ von Giuseppe Guarneri del Gesù.

04. Midori spielte und spielt auch heute auf Instrumenten des Geigenbauers Giuseppe Guarneri (1698-1744), zuerst die Guarnerius del Gesù „ex-David“, Baujahr 1735; nach einer Pause die Guarnerius del Gesù „ex Huberman“ von 1734. – Foto einer Geige aus der Werkstatt von Giuseppe Guarneri.

05. Als 14-jährige führte sie die „Serenade“ von Leonard Bernstein unter dessen Leitung auf.

Während des Konzerts riss ihr zweimal eine Saite, beide Male tauschte sie geistesgegenwärtig ihre Geige mit der des Konzertmeisters und konnte so das Konzert ohne Unterbrechung zu Ende spielen.

Die Medien waren begeistert, ihr Bekanntheitsgrad stieg immens, und noch heute wird sie in Interviews auf dieses Konzert angesprochen.

– Foto von Leonard Bernstein aus dem Jahr 1985.

Schwarzweiß-Foto von Leonard Bernstein (1985) in Rollkragenpulli und legerer Jacke.

Nach einem psychischen Zusammenbruch Mitte der 1990er Jahre suchte Midori nach einer neuen Orientierung in ihrem Leben. Sie absolvierte ein Studium der Psychologie und rief zahlreiche Musikprojekte ins Leben. Neben ihren Auftritten lehrt sie heute an verschiedenen Hochschulen Geige.

Inzwischen wurde sie für ihr Engagement von vielen Seiten ausgezeichnet. Der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, ernannte Midori 2007 zur „Friedensbotin“ („Messenger of Peace“), 2020 wurde sie mit dem Kennedy-Preis (The Kennedy Center Honors) für ein „außergewöhnliches Leben voller Beiträge zur amerikanischen Kultur durch die darstellenden Künste“ ausgezeichnet.

 06. Logo des Kennedy-Preises

rechteckiges Logo mit in Spalten angeordneten Regenbogenfarben, darin der Schriftzug „Kennedy Center Honors“

Mutter und Tochter

Hinter dem nach außen hin fast makellosen Lebenslauf liegt ein harter Weg. Entscheidend für den Werdegang war ihre Mutter, die Midoris Geigenlehrerin, Organisatorin, Managerin, Alleinerziehende war – Midori hatte in ihrer Kindheit und Jugend kaum andere Orientierungspunkte. Die Autobiografie legt ihre gegenseitigen Abhängigkeiten offen, zeigt, dass Mutter und Tochter in besonderem Maße aufeinander bezogen, geradezu aufeinander fixiert waren.

Interessant ist, dass dieses enge Verhältnis in vielen Familien Japans wenn auch weniger stark, dennoch aber ähnlich vorhanden ist. In einem Schulsystem mit harten Prüfungen ist es seit Jahrzehnten die Aufgabe der Mütter, sich bedingungslos für die Erziehung und das schulische Vorankommen ihrer Kinder einzusetzen. Dabei befinden sie sich in der Zwickmühle: Sind sie zu sehr hinter ihren Kindern her – wo ist das rechte Maß? – gelten sie als kyōiku mama („Erziehungs-Mama“), als Mutter, die sich über die Leistungen ihrer Kinder im Grunde selbst verwirklichen will.

Technisch anspruchsvolles Training

Midoris Kinderjahre bestanden aus Üben, Vorspielen und zusätzlichen Unterrichtsstunden bei den besten Lehrerinnen und Lehrern, wie beispielsweise Sumi Saburō. Ziel war die Erlangung einer hohen Konzentrationsfähigkeit und einer perfekten Technik.

Midori beschreibt ihre Mutter als geduldig, aber auch hartnäckig, rigoros und temperamentvoll, die aus Wut auch einmal Midoris Geige zerschlug (S. 19-20). Sie zeigte sich nie zufrieden, lobte Midori nie. Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus drohte sie ihrer Tochter, sie bräuchte Jahre, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen (S. 26).

Der Umzug nach New York band Mutter und Tochter noch enger aneinander. Sie kamen ohne englische Sprachkenntnisse in New York an, die Mutter hatte kaum Bekannte dort. Midori war sprachlich weder auf den musiktheoretischen noch auf den Normalunterricht vorbereitet.

Strichzeichnung von Niccolò Paganini mit der Geige im Arm
Schwarzweiß-Fotografie von Henryk Wieniawski, der im Sitzen die Geige auf den Oberschenkel aufstützt
ovales Portrait in Schwarzweiß von Rodolphe Kreutzer (1766–1831)
Portrait in Schwarzweiß von Carl Flesch

07.-10. Zu den täglichen Übungen gehörten Ausschnitte aus Werken von Niccolò Paganini (1782-1840), Henryk Wieniawski (1835-1880) und Rodolphe Kreutzer (1766–1831), außerdem die Tonleitern von Carl Flesch (1873-1944).

Die Mutter als Organisatorin und Managerin

Midori charakterisiert ihre Mutter als furchtlos (S. 30), willensstark und durchsetzungsfähig (S. 43), als praktisch veranlagte Frau, die bei existenziellen Dingen immer erreichte, was sie wollte (S. 109-110).

In Japan hatte die Mutter Geigenunterricht gegeben und zusätzliche Engagements angenommen, um die Ausbildung ihrer Tochter selbst finanzieren zu können, vor allem, um unabhängig darüber entscheiden zu können, welche Ausbildung Midori erhalten sollte (S. 21).

Auch die angespannte finanzielle Lage in New York meisterten die beiden, anfänglich ohne Möbel in einer winzigen Wohnung. Jahrelang bestritten sie ihren Lebensunterhalt vor allem durch Mäzene, Midori sparte Essensgeld und Fahrkosten, sammelte leere Flaschen und Dosen (S. 107).

Die Mutter stand Midori an der Seite, stärkte sie inmitten der harten Konkurrenz. Sie sorgte dafür, dass Verwandte, Freunde und Bekannte zu Midoris Aufführungen kamen, lehrte ihr die Bedeutung von Empfängen, den Kontakt zu Unterstützern und zum Publikum. Sie begleitete Midoris Weg in das Scheinwerferlicht.

Foto von Béla Bartók (1927), im Anzug, locker auf eine Stuhl sitzend, sich auf der Stuhllehne abstützend

11. Das 2. Violinkonzert von Béla Bartók (1881-1945) stellte für Midori aufgrund der Fremdheit seiner musikalischen Sprache eine große Herausforderung dar (S. 56).

Schuldgefühle

Dies alles erzeugte in Midori ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber ihrer Mutter. Sie fühlte sich in ihrer Schuld, spürte ihre enormen Erwartungen. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter die einzige war, die wusste, was gut für sie war, und hatte extreme Angst, sie könne sie verlieren, was sie als Strafe dafür gedeutet hätte, nicht ausreichend geübt zu haben (S. 55).

12. Midori beneidete die Älteren, die schon eine Dreiviertelgeige spielen konnten (S. 63). – Geigen unterschiedlicher Größe mit Strichmarkierungen.

3 Geigen verschiedener Größen mit dem jeweils dazugehörigen Bogen, rote Markierungen für Schüler/innen

Der Vater blieb außen vor

Ihr Vater, ein Ingenieur, war von Anfang an gegen die intensive musikalische Erziehung und wollte Midori als normales Kind aufwachsen sehen. Es kam zu häufigen und sehr heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern. Als Streitobjekt ihrer Eltern fühlte Midori sich schuldig.

Kritisierte die Mutter Midori, warf sie ihr vor, so zu sein wie ihr Vater (S. 13). Midori versuchte, ihn totzuschweigen, hatte aber Sehnsucht nach ihm und schämte sich für ihre Gefühle. Als ihr einmal am Telefon herausrutschte, sie hätte Heimweh, sie vermisse ihn, hielt die Mutter Midori jahrelang diesen „Fehler“ vor (S. 36-37).

Der Tiefpunkt war erreicht, als der Vater zu Midoris Debüt im Dezember 1982 nach New York anreiste. Die Mutter war über seine Anwesenheit verärgert, sie hatte Angst, dass Midori abgelenkt sein könnte. Midori beschreibt eine Situation, in der sich ihr Vater in der Nacht vor dem großen Auftritt mit einem Küchenmesser über das Bett von Midori und ihrer Mutter beugte; er war verzweifelt, da er begriff, dass die beiden nicht mit ihm nach Japan zurückkehren würden. Midori wachte auf, und der Vater ließ von den beiden ab (S. 65-66).

Eine Scheidung galt zu der Zeit in Japan als gesellschaftlich inakzeptabel, warf ein schlechtes Licht auch auf die Herkunftsfamilien. Obwohl die Großeltern aus Japan anriefen und sie davon abbringen wollten, bereitet die Mutter mit Hilfe eines Anwalts die Trennung vom Vater vor.

Midori blieb mit verletzten Gefühlen und in Verwirrung zurück, sie war traurig und fühlte sich schuldig: Hätte die Scheidung vermieden werden können, wäre sie nicht Musikerin geworden? (S. 71)

Zubin Mehta lächelnd

13. Es war der Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker Zubin Mehta, der Midori einlud, bei einem Konzert im Dezember 1982 ihr Debüt zu geben. – Hier bei der Ehrung durch die Vergabe eines Sterns am Walk of Fame in Hollywood 2011.

Der Titel des Buches

Sie solle sich unbedingt nur mit „Midori“ vorstellen, ohne ihren Nachnamen zu nennen, hatte ihre Mutter ihr vor dem großen Konzert in New York eingeschärft. Sie wusste wohl, dass sie sich in Kürze scheiden lassen würde. In Japan wird bei einer Scheidung die Frau aus dem Familienregister des Mannes ausgetragen, muss entweder ihren ursprünglichen oder einen neuen, selbstgewählten Namen annehmen. Die Mutter entschied sich für einen Namen mit leicht geänderten Schriftzeichen und gleicher Lesung. Midori, die zunächst im Familienregister ihres Vaters verblieb, nahm später den neuen Namen der Mutter an (S. 65, 70). Der so leicht klingende Titel des Buches hält somit den Moment fest, der für das Auseinanderbrechen von Midoris Familie steht.

Nach über zehn Jahren kontaktierte sie noch einmal den Vater, die nicht aufgearbeitete Geschichte hatte sie nie losgelassen. Während einer Konzertreise durch Japan vereinbarte sie mit ihm ein heimliches Treffen. Sie hatte das Gefühl, einem Fremden gegenüber zu sitzen, war überrascht, dass er so anders war als in ihren Vorstellungen, und hatte später ein schlechtes Gewissen und Angst, ihre Mutter könnte etwas von dem Treffen erfahren (S. 180-185).

Disziplin

Midori brauchte nicht lange, um die Disziplin, die ihre Mutter ihr abverlangte, zu verinnerlichen. Bald spürte sie unabhängig von der Anwesenheit ihrer Mutter den Druck, üben zu müssen. Sie nennt diesen Antreiber „Inneren Aufpasser“, der nur zufrieden war, wenn sie den ganzen Tag übte (S. 41). Um den Mühen der Mutter zu entsprechen, wuchs ihr Anspruch an sich selbst immer mehr. Bald konnte sie nicht mehr zwischen ihren eigenen Wünschen und denen ihrer Mutter unterscheiden. Sie erreichte den Punkt, an dem das Üben nie genug zu sein schien – Perfektion bedeutete schließlich: mindestens einhundert Prozent (S. 18). Schließlich wurde der „Innere Aufpasser“ so stark, dass noch nicht einmal mehr der Applaus, die Bestätigung von außen, ihre Selbstzweifel beiseite schaffen konnte (S. 61).

Verwerfungen

Die Mutter, die in der Vergangenheit alles beherrscht hatte, zeigte plötzlich eine Verletzbarkeit, die Midori bis dahin nicht gekannt hatte und die sie deshalb in Hilflosigkeit stürzte. Grund war eine Beziehung, die ihre Mutter mit einem zu diesem Zeitpunkt verheirateten Assistenten von Dorothy DeLay begann. War es für Midori sowieso schon schwierig, dass die Medien sie als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens beim Erwachsenwerden begleiteten, drohte diese Geschichte Midoris noch junge Karriere zu gefährden, sollte sie an die Öffentlichkeit kommen. Es kam zum Bruch mit Dorothy DeLay und der Juilliard School (S. 117).

Der befreundete Violinist Pinchas Zukerman setzte sich dafür ein, dass Midori psychotherapeutische Begleitung in Anspruch nahm. Auch in diesem Zusammenhang schreibt Midori von Schuldgefühlen gegenüber ihrer Mutter (S. 119-120). Die Therapie half Midori zunächst einmal, mit der schwierigen Situation besser fertig zu werden. Sie unternahm jetzt Konzertreisen zunehmend allein, immer größere Erfolge stellten sich ein. Endlich hatte sie auch ihre Geige schrittweise abbezahlt: Es bedeutete für sie eine riesige Erleichterung, ohne die Angst leben zu müssen, das Instrument vielleicht wieder abgeben zu müssen.

Geige auf einem mit Stoff ausgelegten Arbeitstisch mit Werkzeugen und Ersatzteilen
4 Geigen zum Trocknen an die Wand gelehnt, davor allerlei Gläser mit Tinkturen, Farben, Ölen, Lacken und Pinseln

14.-15. Midori sieht die Geige als ihren Partner (S. 237), fast lebendig, mit einem eigenen Stammbaum (S. 240). Der Geigenbauer, der mit dem Instrument vertraut ist, ist der „Hausarzt“ der Geige, in Notsituationen, wie auf Reisen, müssen andere Geigenbauer als Notärzte vor Ort helfen. Oft nimmt Midori es auf sich, zwischen zwei Auftritten extra nach New York zu fliegen, um die Geige bei ihrem Geigenbauer behandeln zu lassen (S. 167-170). Als sie später eine neue Geige erwirbt, schildert sie, wie sie in ihrer Wohnung einander ungestört kennen lernten (S. 242). – Fotos von der Werkstatt eines Geigenbauers in Österreich.

Doch innerliche Ruhe konnte sie nicht finden. Sie beschreibt, wie die andauernde Angst, im Geigenspiel nachzulassen, sie gar nicht mehr losließ. Sie fühlte sich immer erschöpfter, eine Depression erfasste sie. Sie lebte mit inneren Stimmen, die sie ihrer Mutter zuordnete, das Leben mit den ständigen inneren Vorwürfen und Angstvorstellungen vom Versagen beschreibt sie als Höllenqualen (S. 157).

Filmaufnahmen von Interviews und Auftritten aus der Zeit sind Zeugen ihrer Stärke, mit der sie versuchte, alles am Laufen zu halten. Sie nahm sich zusammen, folgte den Planungen und Vereinbarungen ihres Managements und versuchte dabei stets, den immensen inneren Druck niederzukämpfen.

Der Geiger Isaac Stern wurde neben dem Pianisten Robert McDonald ein Vertrauter Midoris während ihrer Krise (S. 193).

Offizielles Foto des Dirigenten Zubin Mehta und des Geigers Isaac Stern anlässlich des 60. Geburtstag von Stern

16. Isaac Stern (rechts) mit Zubin Mehta, 1980.

Daniel Barenboim beim Dirigieren

17.-18. Midori arbeitet seit dieser Zeit mit allen großen Orchestern und deren Dirigenten zusammen. Oben: Daniel Barenboim, rechts Claudio Abbado.

Claudio Abbado auf der Waldbühne in Berlin, in die Kamera lächelnd
Der Dirigent Leonard Slatkin beim Dirigieren während einer Orchesterprobe

19. Leonard Slatkin dirigierte, als Midori zum ersten Mal in Asien auftrat.

Der Tiefpunkt

Äußerlich hatte sie alles erreicht, von dem eine junge Geigerin nur träumen konnte, innerlich war sie am Zerbrechen. Neben der schwierigen Beziehung der Eltern waren es die perfektionistischen Ansprüche an sich selbst, denen sie nicht genügen konnte, sie fühlte sich dauerhaft frustriert und resigniert, voller Selbstzweifel, gar Selbsthass (S. 232).

Von klein auf hatte sie Essstörungen, die nur dann verschwanden, wenn sie gemeinsame Zeit mit ihrer Freundin Linda verbrachte (S. 73). Ansonsten begleitete sie Appetitlosigkeit, sie wurde abhängig von Tabletten, litt an Schlaflosigkeit, fügte sich schließlich sogar Selbstverletzungen zu. Die Depression lastete schwer auf ihr, sie schreibt, dass es für sie schon beim Aufwachen unerträglich war festzustellten, dass sie am Leben war (S. 208). 1994, mit 23 Jahren, vermochte sie trotz eiserner Disziplin nicht mehr zu funktionieren. Die Autobiografie enthält den Tagebucheintrag von ihrer Einweisung in die Psychiatrie.

Insgesamt fünf Mal musste sie sich unter die strenge Überwachung der geschlossenen Abteilung begeben. Sie wollte durch die Verweigerung von Nahrung sterben, da sie es in sich selbst nicht mehr aushielt, wie sie schreibt (S. 199). Kaum entlassen, fiel sie in ihr altes Leben zurück und verweigerte das Essen, das für sie Gesundheit und Leben symbolisierte (S. 206).

Sie fühlte sich wie ferngelenkt, in einem Leben, das andere an ihrer statt festlegten und bestimmten. Und der Satz „Ich will nicht mehr spielen“ wirkte nicht befreiend, sondern steigerte noch ihre Schuldgefühle (S. 231-233).

Der Ausweg

Es brauchte Jahre, bis sie eine neue Perspektive für sich entwickelte und diese auch mit ihrem Inneren vereinbaren konnte. Ein entscheidender Baustein war ein Studium, das sie frei und selbstbestimmt begann und nach einigen Jahren mit dem Master in Psychologie abschloss. Sie bestimmte eigenständig über ihre Auftritte und lernte schrittweise, angemessen zu essen (S. 202).

Zu ihrem neuen Lebensentwurf gehörte die Gründung verschiedener Organisationen, die sich der Musikpädagogik verschrieben. Sie hatten und haben bis heute zum Ziel, Kinder an Musik heranzuführen, um ihre Kreativität zu wecken. Bei der Gründung ihrer ersten Stiftung „Midori & Friends“ 1992 stand ihr noch die Mutter organisatorisch zur Seite, unterstützte sie im Knüpfen von Kontakten zur Beschaffung von Spenden. In den folgenden Jahren experimentierte Midori mit verschiedenen Formaten, bis sie herausfand, welche den Bedürfnissen in Japan bzw. in den USA am besten genügten.

Zehnstöckiges, weißes Eckgebäude der Gallatin School

20. Midori studierte an der Gallatin School of Individualized Study, einem College an der New York University.

Grundsätzliche Überlegungen: Die Förderung von Kindern

Die Mutter steckte ihre ganze Kraft und Lebensplanung in die musikalische Erziehung ihrer Tochter. Hier stellt sich die Frage, inwieweit Eltern in die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder eingreifen sollen und dürfen. Die Ausübung vieler Sportarten und das Spielen von Musikinstrumenten verlangen motorische Fähigkeiten, deren Training schon im Kleinkindalter beginnen können, zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Kind kaum selbst entscheiden kann. Aber die zu dieser Zeit erworbenen Fähigkeiten sind entscheidend in Branchen, in denen Höchstleistung und technische Perfektion erwartet werden.

Diese Zwiespältigkeit ist Thema dieser Autobiografie: einerseits die hohe Anspruchshaltung, die Midori krank machte, andererseits die Fähigkeiten, die sie genau durch diese Anspruchshaltung erwarb und die ihr eine einzigartige Karriere ermöglichten.

Die Grundfrage: Was ist Perfektion?

An mehreren Stellen in dem Buch behandelt Midori das Streben nach Perfektion, an dem sie lebensbedrohlich erkrankte: Was bedeutet es, (nicht nur als Künstlerin) gut zu sein?

Die Medien als Bestätigung von außen spielen in dem Zusammenhang als Gradmesser kaum eine Rolle, Midori zitiert zum Beispiel keine Medienreaktionen auf ihre Auftritte. Schwierig waren die Medien für sie nur insofern, als dass sie zusätzlichen Druck auf sie als junge Musikerin ausübten: Lange war sie als junge, erfolgreiche Geigerin eingeschüchtert auf der Suche nach dem richtigen Umgang mit der Presse (S. 105).

Es geht ihr um eine innere Zufriedenheit und ein inneres Maßhalten, beide sind gerade in Bereichen mit unverhältnismäßig hohen äußeren Maßstäben schwer umzusetzen. Insofern macht sie deutlich, dass Menschen aller Berufssparten Ähnliches wie ihr passieren kann, wenn die Anforderungen an sich selbst zu hoch sind.

Eine erste Bilanz, übertragbar auf andere Bereiche

Beim Verfassen des Nachtrags zur 2. Auflage im Jahr 2011 war Midori erst 40 Jahre alt. Trotzdem wusste sie von absoluten Höhenflügen genauso zu berichten wie von tiefen Abgründen. Dies tut sie offen und klar, sachlich und ohne Vorwürfe, der Mutter zollt sie Respekt und Dankbarkeit. Vieles von dem, was ihre Mutter ihr vermittelte, gibt sie heute an ihre Schülerinnen und Schüler weiter (S. 271).

Beim Musizieren muss ihrem Verständnis nach die technische Präzision Basis sein, darf aber nicht zum Selbstzweck werden. Im Zusammenhang mit ihrer eigenen Entwicklung gibt sie zu bedenken, dass die Gefahr für so genannte Wunderkinder groß ist, nicht zu ernst zu nehmenden Künstler/innen heranzureifen. Oft werden sie – nicht selten durch ihre Umgebung – durch die Konzentration auf technische Aspekte, durch das Wiederholen des immer Gleichen, auf „Zirkusniveau“ gehalten (S. 95).

Ihr Ziel ist dagegen, dass – auch durch ihren Unterricht und ihre Projekte – Musik viele Menschen erreicht, die im optimalen Fall über musikalische Werke in Kontakt miteinander treten. Das Lebhafte erwächst in der Erfahrung der Kommunikation, immer wieder vergleicht sie die Musik mit Sprache.

Die Erfahrungen, die sie selbst machte, hatten großen Einfluss auf ihre heutige Lehrtätigkeit. Auf der Website der USC Thornton School of Music, an der sie unterrichtet, gibt sie einen Einblick in ihre Unterrichtsprinzipien: eine Lehre mit Blick auf die Musikerin/ den Musiker als ganzer Persönlichkeit, mit dem Wissen, niemals perfekt sein zu können (S. 294).

Und dies könnte eine zweite Deutung des Titels „Einfach Midori“ sein: „Einfach“ sie selbst sein zu können.

Springbrunnen und Verwaltungsgebäude der University of Southern California in Los Angeles

21. Ab 2001 unterrichtete Midori an der Manhatten School of Music, inzwischen ist sie Professorin an der Thornton School of Music, University of Southern California (USC) und gibt weltweit Kurse.

Susanne Phillipps

20.03.2021 (Ausgabe 02)

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Bildnachweis

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12: Von Stilfehler – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4053216

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15: By © Jorge Royan / http://www.royan.com.ar, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15879296

16: Von PBS TV – ebay, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=27613963

17: Von Gobierno de la Ciudad Autónoma de Buenos Aires, CC BY 2.5 ar, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61331634

18: Von &lt;a href=&quot;//commons.wikimedia.org/w/index.php?title=User:Leonach&amp;amp;action=edit&amp;amp;redlink=1&quot; class=&quot;new&quot; title=&quot;User:Leonach (page does not exist)&quot;&gt;Leonach&lt;/a&gt; – &lt;span class=&quot;int-own-work&quot; lang=&quot;de&quot;&gt;Eigenes Werk&lt;/span&gt;, <a href=“https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en“ title=“Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 de“>CC BY-SA 3.0 de</a>, <a href=“https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30711720″>Link</a>

19: Von KokotheDog – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47711695

20: By Jim.henderson – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12228858

21: Von Bobak Ha&#039;Eri – Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2175925