600 Jahre japanische Außenpolitik
Thomas Lockley: Japan and the West. Edited and narrated by David Kelly. Art by Matthew Cartwright. Zwei Filme: The First 500 Years (1298 – 1854) / How Japan Became a Great Power in Only 40 Years (1865 – 1905); beide Filme jeweils ca. 60 Minuten, über die Plattform Youtube abrufbar.
Japan ist ein Inselstaat, und verglichen mit einem Land mitten auf einem Kontinent, das ständigen Grenzverschiebungen ausgesetzt ist, war es für die Regierenden in Japan über Jahrhunderte hinweg leichter, Einflüsse aus dem Ausland zu kontrollieren. So gab es Phasen in der japanischen Politik, in denen freudig Anregungen und Objekte aus der Fremde übernommen wurden, um dann in späteren Zeiten, wenn das Ausland zu bedrohlich oder zu uninteressant geworden war, die Kontakte wieder zu minimieren und sich auf die Verarbeitung und Anpassung des neu Erworbenen zu konzentrieren.
Über die Filme
Der Kernpunkt der Filme von Thomas Lockley besteht darin, die Kontakte Japans zu europäischen Staaten und den USA zu rekapitulieren.
Der erste Film konzentriert sich dabei auf die Edo-Zeit (1600-1868), auf die Epoche, die als „Zeitalter der Abschließung“ Japans bezeichnet wird, und reflektiert, inwieweit der Begriff „Abschließung“ (sakoku) zutreffend ist.
00:00 Introduction (1853) * 06:57 Marco Polo and the Land of Endless Gold (1298) * 11:15 First Contact (1543) * 16:04 Arrival of the One God * 21:03 The English Arrive (1604) * 28:04 Japanese Travellers (1614) * 32:50 A Closed Country? (1639) * 37:26 The Dutch Take Advantage * 41:06 Studying the West (1709) * 47:06 Russia (1791) * 50:57 The Napoleonic Conflict Reaches Japan (1808) * 56:09 Planning for When
Der zweite Film ist den Ereignissen ab Mitte des 19. Jahrhunderts (Meiji-Zeit, 1868-1912) während der Phase der Öffnung Japans mit der wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Aufholjagd gewidmet.
How Japan Became a Great Power in Only 40 Years (1865 – 1905)
00:00 Introduction * 04:20 The End of the Beginning * 10:31 Japan Meets The World * 18:00 Business Opportunities * 20:33 Meat * 24:57 Upgrading The Military * 30:22 Rebellion * 37:11 Big in the West * 44:36 Climbing the Ladder * 48:15 Tension with the West * 52:58 The First Rank of Nations
Da die Politik der Meiji-Zeit in ihrem Kern auf Kontakte zum Ausland ausgerichtet ist, sind die meisten Ereignisse des zweiten Films bekannter als die des ersten. Aus diesem Grund liegt das Augenmerk dieser Empfehlung auf dem ersten Film.
Über den Autor
Thomas Lockley lehrt an der Nihon University (Tōkyō), College of Law. Im Internet ist er mit verschiedenen Filmbeiträgen präsent. Sein Ansatz besteht darin, die Geschichte Japans nicht isoliert, sondern verankert im weltweiten Geschehen zu erzählen. Seine bekannteste Veröffentlichung ist „Yasuke. The true story of the legendary African Samurai“.
Der Aufbau der Filme
Beide Filme beginnen mit einer spektakulären Szene, die nicht am Anfang, sondern am Endpunkt einer Entwicklung stehen. Bei dem ersten Film handelt es sich um den 14. Juli 1853, dem Tag, an dem die Kanonenboote des US-amerikanischen Commodore Matthew C. Perry (1794-1858) zum ersten Mal in die Bucht von Edo, dem späteren Tōkyō, eindrangen. Die Szene wird aus der Sicht des verzweifelten Beamten Kayama Eizaemon geschildert.
01. Die Eröffnungsszene des ersten Films: Die „Schwarzen Schiffe“ des Commodore Perry nähern sich der Bucht von Edo.
Hier ein japanischer Druck von 1854, der über Perrys Vorstoß berichtet.
Es war das Zeitalter der so genannten „Kanonenboot-Diplomatie“: Mit Hilfe von Drohungen demonstrierten westliche Seemächte ihre Eigeninteressen und setzten sie gegebenenfalls mit Gewalt durch. Im Film wird ihre Überheblichkeit mit einem Zitat von Aizawa Seishisai (1782-1863) unterlegt. Er kommentierte die Arroganz und das ungebührliche Verhalten, das die „Barbaren aus dem Westen“ weltweit an den Tag legten: „dashing about across the seas, trampling other countries underfoot, and daring, with their squinting eyes and limping feet, to override the noble nations.“ (I 04:31).
Perry hatte es angekündigt: Im Folgejahr sollten die Schiffe ein zweites Mal kommen, und am 13. Februar 1854 war es so weit. Dieses Mal wurde länger als drei Wochen verhandelt. Japan musste – dem „hungry grip of colonial powers“ (I 05:30) ausgesetzt – mit den USA den ersten der so genannten „Ungleichen Verträge“ abschließen.
Von Anfang an wurde das Abkommen in Japan als Erniedrigung empfunden, den japanischen Verantwortlichen blieb aber aufgrund der desolaten Verteidigungslage ihres Landes keine Wahl, als die Beleidigung hinzunehmen und das Dokument zu unterzeichnen.
02. Aizawa Seishisai (1782-1863), ein Intellektueller der Edo-Zeit, war als Gelehrter der Nationalen Schule an der Kompilation der „Großen Geschichte Japans“ („Dai Nihon-shi“) beteiligt.
03. „Le tour du monde en un clin d’oeil“ („Mit einem Blick um die ganze Welt“) aus „Le Monde illustré“ verdeutlicht das Bewusstsein der westlichen Mächte, den Rest der Welt zu beherrschen.
Das Zeitalter der Entdeckungen
Im Film folgt nun ein Rückblick, ein Sprung zurück in die vorangegangenen Jahrhunderte: Japan hatte es im 13. Jahrhundert geschafft, die Invasionsversuche der Mongolen abzuwenden. Über Jahrhunderte hielt es Handelskontakte zu Korea und China, zu den Ainu und den Bewohnern der Ryūkyū-Inseln.
Zugleich begannen die europäischen Herrscher, sich für ferne Länder zu interessieren. Da der Landweg gen Osten durch feindliche Länder führte, wählten sie, sobald die technischen Möglichkeiten und das Wissen um die Navigation vorhanden war, den Seeweg, auf dem sie die Welt erst entdeckten und dann eroberten (I 06:30). Der Film skizziert die Geschichte der Seefahrt gen Westen über den Atlantik (durch die spanischen Seefahrer) und gen Südosten, entlang der Küsten des eurasischen Kontinents (durch die portugiesischen Seefahrer).
Seit dem Mittelalter schien vor allem der Osten voller Verheißungen. Die Geschichte des Priesterkönig Johannes, eines mythischen Regenten, der ein mächtiges christliches Reich in Ostasien beherrscht haben soll, war weithin bekannt.
04. „Chataio“ (auch „Cathay“ oder „Cataya“) ist der von Marco Polo in seinem Reisebericht verwendete Name für China, hier dargestellt auf der Landkarte von Fra Mauro, Ende des 15. Jahrhunderts. Süden ist auf der Karte oben.
05. „Zipangu“. Eine Karte aus der „Cosmographia“ des Deutschen Sebastian Münster von 1544. „Zipangu“ („Zipangri“) ist westlich von Nordamerika im Nordosten Ostasiens eingezeichnet.
Ankunft in Japan
Ende des 16. Jahrhunderts erreichten die Portugiesen die japanischen Inseln. Thomas Lockley schildert ihr erstes Zusammentreffen mit Japanern auf der Insel Tanegashima auch hier aus japanischer Sicht, mit einem Zitat aus der „Chronik der Feuerwaffen“ („Teppōki“, 1606): Die Europäer „show their feelings without any self-control and they do not know the written script or the use of it“ (I 11:30-12:50).
06. Statue des Daimyō Tanegashima Tokitaka (1528-1579), der den ersten Kontakt mit Europäern hatte und als erster Damyō Feuerwaffen herstellen ließ.
Aber sie kamen zur richtigen Zeit an den richtigen Ort: Schon hundert Jahre herrschte Krieg in Japan (Sengoku jidai, Zeit der kriegführenden Länder), die Feuerwaffen konnten in den Kampfhandlungen hervorragend eingesetzt werden, und viele Daimyō bauten innerhalb kürzester Zeit in ihren Herrschaftsgebieten Waffenindustrien auf (I 15:00).
07. Die Portugiesen als Waffenhändler und Überbringer des Christentums in Japan.
08. Japanische Arkebusen, Handfeuerwaffen, die auf Tanegashima hergestellt wurden.
Die katholische Missionstätigkeit
1540 wurde die katholische Ordensgemeinschaft Societas Jesu durch den Papst anerkannt, und unverzüglich entsandten die Jesuiten Missionare nach Ostasien (I 17:05). Francisco de Xavier, Mitbegründer des Ordens, erreichte als erster Missionar am 15. August 1549 Kagoshima auf der Insel Kyūshū. Mit ihren Tätigkeiten hatten die Katholiken Einfluss auf die japanische Kultur, zum Druck von Nachschlagewerken und Missionsmaterialien ließen sie beispielsweise Druckerpressen nach Japan kommen und fungierten als Händler zwischen China und Japan (I 20:30).
09. Alessandro Valignano (1539-1606) war ein italienischer Jesuit, der die Missionsarbeit in Fernost, besonders in Japan, überwachte und steuerte (Wikipedia: Alessandro Valignano).
10. Er organisierte eine Reise von vier japanischen jungen Männern nach Europa. Sie waren gesellschaftlich hoch gestellt, hatten eine gute Ausbildung und verfügten über Kenntnisse in Latein und Portugiesisch.
Die Seite stammt aus der „Newe Zeyttung auss der Insel Japonien“ (Augsburg 1586) und zeigt die „vier königlichen Gesandten“: Nakaura Julião (oben links), Itō Mancio (oben rechts), Hara Martinho (unten links), Chijiwa Miguel (unten rechts).
Es handelt sich um die erste japanische Gesandtschaft nach Europa (Tenshō-Mission). Die vier japanischen Männer waren mit Zwischenstationen auf dem Seeweg acht Jahre lang unterwegs (1582-1590), besuchten 70 europäische Städte und begegneten zahlreichen wichtigen Persönlichkeiten der Zeit. Ihr Auftritt hatte einen großen Einfluss auf das damalige Bild von Japan in Europa.
Die europäische Konkurrenz und das Verbot des Christentums in Japan
Die Europäer waren sich damals uneins, auch und besonders in Fragen der Religion, und es sollte nicht lange dauern, bis ihre Auseinandersetzungen den Fernen Osten erreichten. Als erster Brite gelangte William Adams (1564-1620) nach Japan. Er war als Navigator einer von Kaufleuten finanzierten Flotte in den Niederlanden aufgebrochen und 1600 unter starken Verlusten und vollkommen geschwächt in Japan gestrandet.
In Verhören schilderte der Protestant die politischen Geschehnisse Europas, zum Beispiel auch die Folgen der Reformation, die die Jesuiten bis dato verschwiegen hatten – und lieferte so eine Gegendarstellung zur katholischen Weltsicht. Er wurde Berater des Shōgun Tokugawa Ieyasu, der ihn in den Samurai-Stand erhob und den Namen „Miura Anjin“ („Der Lotse von Miura“) verlieh.
Nach Einschätzung des Shōguns war der Einfluss der Jesuiten viel zu groß geworden, und in den kommenden Jahrzehnten wurde das schon zuvor ausgesprochene Verbot des Christentums durchgesetzt. Ausländische Katholiken wurden ausgewiesen, Japanerinnen und Japaner, die zum Christentum konvertiert waren, befragt, und diejenigen, die nicht abschwörten, gefoltert und vertrieben. Zahlreiche Japanerinnen und Japaner flohen in das asiatische Ausland.
Dejima: Der kontrollierte Außenhandel
In den folgenden Jahrhunderten setzte das Shōgunat strenge Grenzkontrollen durch, verbot die Auswanderung und verhinderte, dass Ausländer ins Land kamen (I 36:40). Über die niederländische Vereinigte Ostindische Kompanie (VOC), das „erste global handelnde Bestellsystem“, beschaffte sich die japanische Regierung aktuelles Wissen aus aller Welt.
11. Der kontrollierte Außenhandel mit den Holländern lief über die künstliche Insel Dejima im Hafen von Nagasaki.
Außerdem unterhielten die Japaner Handel mit Koreanern, Chinesen, und den Bewohnern der Ryūkyū-Inseln.
Waren ausländische Bücher zunächst noch verboten, florierten in der zweiten Hälfte der Edo-Zeit die „Hollandstudien“ (Rangaku): Fachbücher, die nach wie vor streng kontrolliert wurden, und moderne Gerätschaften aus ganz Europa und den USA beflügelten den Forschungsgeist japanischer Naturwissenschaftler und Mediziner.
12. Der Arzt Hanaoka Seishū (1760-1835) führte in Japan die erste Operation unter Narkose durch.
13. Der Physiker Hashimoto Sokichi beschäftigte sich mit Elektrizität. Aus Veröffentlichungen kannte er die Experimente von Benjamin Franklin in den USA (I 46:00).
Interessant sind die kleinen Geschichten am Rande, die Thomas Lockley in seine Filme mit aufnimmt, um zu zeigen, dass die strenge Grenzkontrolle an einigen Stellen doch durchlässig war.
14. Zum Beispiel die Geschichte von Daikokuya Kōdayū und Isokichi, zwei japanischen Schiffbrüchigen, die Adam Laxman, ein finnisch-schwedischer Militäroffizier, Leutnant im kaiserlich-russischen Militär, 1792 nach Japan zurückbrachte.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts machten die alarmierenden Nachrichten aus dem Ausland deutlich, dass eine Verteidigung der Küstenlinien notwendiger denn je geworden war. Streitig war die Frage, ob man die moderne Technik und Kriegsführung aus dem Ausland anwenden oder auf alte Werte setzen sollte.
15. Ein Selbstportrait von Egawa Hidetatsu (1801-1855), ein Beamter der Regierung, der sich in der Verteidigung der Küstenlinie engagierte. Er ließ Hochöfen bauen, um die Waffen, die aus Europa und den USA nach Japan kamen, nachbauen zu können.
16. Die „Ryōfū-maru“ war ein Dampfschiff, das in der Domäne Saga gebaut wurde. Sie wurde 1865 fertiggestellt.
Doch die landesweite Aufrüstung verlief zu langsam. In Ermangelung eines effektiven Abwehrsystems kam es zur Vertragsunterzeichnung mit Commodore Perry.
Mit diesem Ereignis ist der Film wieder an der Eröffnungsszene angelangt.
17.-18. Ausschnitt aus einer detailliert gezeichneten Bildrolle, die die Zusammenkunft von Personen bei Perrys zweitem Besuch mit genauen Erklärungen dokumentiert.
In der Bildrolle werden auch Gegenstände dargestellt, die die Fremden bei sich hatten.
Film 2: Aufstieg zu einer militärisch erfolgreichen Nation
Im zweiten Film zeichnet Thomas Lockley die enorme Dynamik nach, mit der sich Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in Japan nach der Öffnung änderten: Die zwangsweise Vertragsunterzeichnung 1854 entpuppte sich in den folgenden Jahrzehnten als Initialzündung für eine unbeschreiblich schnelle Entwicklung auf allen Gebieten (06:00).
Die Grundstruktur des Films ist vergleichbar mit der des ersten: Die Eröffnungsszene behandelt auch hier einen überraschenden Moment der Weltgeschichte, und zwar den Sieg der japanischen über die russische Armee im Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905).
19. Der japanische Admiral Tōgō Heihachirō (1848-1934) siegte am 28. Mai 1905 über die russische Marine bei Port Arthur.
Danach gibt es im Film einen Zeitsprung zurück zur zwangsweisen Öffnung Japans. In ihr sah der Gelehrte Fukuzawa Yukichi (1835-1901) eine Chance auf Erneuerung (II 04:44): Um einer Kolonialisierung zu entgehen, waren eine neue Führung und eine neue politische Ausrichtung notwendig.
Die Rebellen setzten sich gegen das Shōgunat durch, erklärten den Shōgun als abgesetzt und den jungen Tennō als neues Staatsoberhaupt. In verschiedenen Gesandtschaften, die berühmteste unter ihnen die Iwakura-Mission (1871-1873), reisten die neuen Entscheidungsträger um die Welt, um sich Wissen aus der Fremde anzueignen und zu versuchen, die Ungleichen Verträge zu revidieren. Der ausführliche Bericht des Kume Kunitake zeigte auf, was notwendig war, um als moderner Staat anerkannt zu werden: Eine Verfassung, Gerichtsbarkeit nach europäischem Vorbild, eine moderne Infrastruktur, Industrialisierung, soziale Einrichtungen, die Aneignung des neusten Stands der Technik, der Naturwissenschaften und Künste.
Es setzte ein Prozess ein, der das Leben und die Gewohnheiten aller Japanerinnen und Japaner umkrempelte (II 23:30). Der Genuss von Bier oder Rindfleisch als Ausdruck davon, eine „zivilisierte Gesellschaft“ zu sein, ist dabei fast nebensächlich. Viel kritischer war, dass durch diese Veränderungen gesellschaftliche Hierarchien ins Wanken gerieten, die Samurai zum Beispiel ihre Privilegien verloren und große Anteile der Bevölkerung verarmten.
20. Unzufriedene Samurai sammelten sich in mehreren Verbänden und organisierten bis 1877, dem Ende der Satsuma-Rebellion, zahlreiche Aufstände. Hijikata Toshizō (1835-1869) war der stellvertretende Kommandeur der Shinsengumi, die gegen die Meiji-Restauration kämpfte. Er verlor in den Kämpfen sein Leben (II 35:00).
Auch die Bauern erlebten zahlreiche Neuerungen: Sie sollten jetzt einen Nachnamen tragen, ihre Steuern mussten sie bar entrichten und ihre Söhne wurden in die Armee einberufen. Es gab zahlreiche Proteste, nur langsam erreichte die neue Infrastruktur die Dörfer und sorgte für eine schrittweise Besserung (II 32:00).
21. „Ee ja nai ka“ – „Wird schon“ – karnevaleske, religiöse, übermütige Feiern, die meist als soziale oder politische Proteste gedeutet werden. Das Phänomen trat 1867 bis 1868 inmitten der großen Umwälzungen auf. Die Menschen gingen feiernd auf die Straßen, warfen glücksbringende Papiere in die Luft und riefen den Refrain „ee ja nai ka!“ – Politische Zustände wurden oft in Reimen besungen, Auslöser und Hintergrund dieser Bewegung sind nicht bekannt.
22. Während der Jahre des Umbruchs stützen unterschiedliche ausländische Staaten und Einzelpersonen die verschiedenen politischen Gruppierungen.
Der schottische Händler Thomas Glover (1838-1911) setzte auf die Tennō-treuen Truppen und lieferte ihnen Ausrüstung und Waffen für ihren Kampf gegen die Shōgunats-Regierung.
23. Um auf den neusten Stand von Wissenschaft und Technik zu gelangen, wurden zahlreiche ausländische Lehrkräfte angeheuert.
Jakob Meckel (1842-1906) war ein preußischer Generalmajor, der in den 1880er Jahren als Militärberater der japanischen Armee wirkte.
Damit kommt Thomas Lockley zur Ausgangsszene des zweiten Filmes zurück: Nach nur wenigen Jahrzehnten mussten ausländische Beobachter überrascht feststellen, dass die in Japan produzierten Maschinen und Geräte besser waren als ihre ausländischen Vorbilder (II 26:20-27:20). Die technische Ausrüstung, Taktik und Logistik sicherten Japan die Siege in den Kriegen gegen China (1894-1895) und Russland (1904-1905). Japan war zu einer führenden Nation aufgestiegen, aus europäischer Sicht bedrohlich geworden und wurde jetzt als „Gelbe Gefahr“ bezeichnet (II 57:00).
Empfehlenswert –
– wegen der unterschiedlichen Perspektiven
Die Stärke der beiden Filme liegt nicht darin, grundsätzlich Neues über die Geschichte Japans zu präsentieren, sondern es sind die verschiedenen Sichtweisen, die Thomas Lockley einbringt und die die beiden Filme so vielfältig machen. Sie eröffnen Zusammenhänge, die oft übersehen werden.
Jedes Kapitel beginnt mit einem zeitgenössischen Zitat, oftmals einem Augenzeugenbericht, präsentiert also eine Situation aus der Sicht einer historischen Persönlichkeit. Neben dem oben erwähnten Bericht des Beamten Kayama Eizaemon gibt es beispielsweise Zitate aus einem Brief von Franziskus Xavier (1549), von William Adams (1604), aus der „Chronik der Feuerwaffen“ („Teppōki“, 1606) und vielen anderen Quellen.
Die Zitate werden zum Mitlesen auf Englisch eingeblendet, wichtige Schlagwörter (z.B. sakoku) im japanischen Original, Eigennamen der zitierten Personen in Schriftzeichen und in Umschrift angegeben. Die begleitenden Anmerkungen unter den Filmen enthalten die Quellenangaben zu den Zitaten, den Abbildungen und zur Musik.
Thomas Lockley konzentriert sich damit zunächst auf das Erleben und Denken von Einzelpersonen, z.B. aus der Sicht der Mitglieder des Empfangskomitees, die die unbekannte Militärmusik und die bellenden Befehle der Fremden wahrnehmen.
– wegen der Einbettung in das Weltgeschehen
Während die Kamera über historisches Bildmaterial schwenkt und einige Ausschnitte näher heranzoomt, erklärt der Sprecher danach die Hintergründe zu den Begebenheiten und ordnet sie in das japanische und weltweite Zeitgeschehen ein. Wurde früher die Geschichte Japans vergleichsweise isoliert betrachtet, gelingt es Lockley in diesen Filmen sehr gut, die Ereignisse in den globalen Kontext zu stellen.
– wegen der Detailfreudigkeit
Die beiden Filme leben außerdem von Details, die das Dargestellte lebendig werden lassen, von kleinen Anekdoten, die das Denken der Zeit auf den Punkt bringen. Ein Beispiel dafür ist der Zusammenhang zwischen dem schottischen Händler Thomas Glover, der in Japan zunächst auf sein geliebtes Bier verzichten musste, Iwasaki Yatarō, dem Gründer des Firmenimperiums Mitsubishi, und der Neueröffnung der Brauerei, die später unter dem Namen „Kirin“ firmierte (II 20:25).
– wegen der Sprache
Die Geschehnisse der Kapitel sind spannend aufgebaut und werden lebendig erzählt. Die unterschiedlichen Sichtweisen bringen ungewöhnliche Begrifflichkeiten mit sich, die verdeutlichen, wie sehr die Wahrnehmungen ein und derselben Situation voneinander abweichen.
Und auch die Sprache des Erzählers ist nicht neutral, an einigen Stellen in der Wortwahl salopp, übermütig, wertend und damit angreifbar. Aber genau das ist auch ein Pluspunkt, der diese Dokumentation von anderen abhebt und zum Nachdenken anregt.
Etwas unglücklich formuliert ist der Abschnitt über die Reise der Isabella Bird in den Norden Japans. Ihr sehr genau beobachteter Reisebericht „Unbeaten Tracks“ von 1880 wird in dem Film mit dem generellen Interesse in Europa an Japan vermengt, was ihre Aufzeichnungen zu sehr in die Nähe des Exotismus rückt (II 38:30).
Trotzdem – und auch mit der bezahlten Werbung an einigen wenigen Stellen: Es lohnt sich, die Filme wegen ihrer unglaublichen Informationsfülle und ihrem Charme auf sich wirken zu lassen.
Susanne Phillipps
23.09.2022 (Ausgabe 08)
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