Das zeitlos Aktuelle der Briefe von Mutsuko Ayano

Buch-Cover von Mutsuko Ayano an einem Ast herbstlich gefärbten Japan-Ahorns

Hilaria Gössmann, Maren Haufs-Brusberg (Hg.) (2020). „als hättest du ein Stück Japan eingepackt“. Briefe von Mutsuko Ayano aus ihrer Studienzeit in Deutschland. München: iudicium; broschiert, 154 Seiten.

Als Mutsuko Ayano im April 1981 mit 25 Jahren nach Deutschland kam, hatte sie ihr Germanistik-Studium an der Universität Okayama bereits abgeschlossen (Anm. 1). Im Frühling und Sommer besuchte sie Deutschkurse in mehreren Städten, um ihre Kompetenzen im Hörverstehen und Sprechen zu verbessern, für das Wintersemester 1981 schrieb sie sich an der Universität Trier zum Promotionsstudium im Fach Germanistische Linguistik ein. Insgesamt lebte sie vier Semester in Trier. Im November 1983 wurde sie Opfer eines brutalen Raubüberfalls, an dessen Folgen sie verstarb.

1984 veröffentlichte Mutsukos Vater gemeinsam mit einem japanischen Germanisten eine Auswahl von Briefen, die Mutsuko während ihres Studienaufenthalts in Deutschland an ihre Eltern geschrieben hatte (Anm. 2). 

Diesen Band wählte die Herausgeberin Hilaria Gössmann als Arbeitsgrundlage für ein Seminar, in dessen Rahmen die Studierenden die Briefe ins Deutsche übertrugen. Die Herausgeberinnen überarbeiteten diese Übersetzungen, und nun liegen die Briefe zum ersten Mal in der kompletten Auswahl von Mutsukos Vater auf Deutsch vor.

Sie liefern nicht nur einen Eindruck vom Studentenleben im damaligen Westdeutschland, sondern vermitteln durch ihren lebendige, oftmals witzige Sprache genau den Humor, die Neugier und Offenheit, von denen Freunde und Weggefährten von Mutsuko Ayano berichteten.

rechteckige Stele mit Inschrift; von oben nach unten: die japanischen Schriftzeichen für „myōhō“ (Lotos-Sutra); Mutsukos Name und Lebensdaten; „Sie liebte Deutschland. Ein Leben voller Hoffnung fand an dieser Stelle ein gewaltsames Ende. 17. November 1983. Ihre Freunde“

01. Gedenkstele für Mutsuko Ayano auf dem Petrisberg in Trier

Deutschlands Blick auf Japan in den 1980er Jahren

Ganzseitige Zeitungswerbung von Sony in Schwarzweiß. Unter der Überschrift „Get your head together with Sony“ in der Mitte die Skizze einer Sängerin. Außenherum Fotos von 7 Sony-Radiogeräten mit der Auflistung ihrer technischen Eigenschaften und Preisangabe.

02. Japan wurde zum Weltmarktführer für Unterhaltungselektronik: Werbung für Radios von Sony in The Honolulu Star Bulletin Newspaper, Anfang der 1970er Jahre.

Generell vermitteln Briefe, auch wenn sie im Nachhinein bearbeitet wurden, einen direkten Blick auf Geschehnisse ihrer Entstehungszeit. In den 1980er Jahren befand sich Japan schon seit Jahrzehnten auf einem nie dagewesenen wirtschaftlichen Höhenflug, der für viele Produktionszweige in Europa und den USA das Ende bedeutete: Japanische Kameras, Fernseher, Video- und Kassettenrekorder beherrschten den Weltmarkt. In Japan selbst war die Kaufkraft so gestiegen, dass für viele Japanerinnen und Japaner Reisen auch ins ferne Ausland erschwinglich wurden. In Westdeutschland wurden sie als zahlungskräftige, hastig vorbeieilende, alles fotografierende Reisegruppen wahrgenommen („Europa in 5 Tagen“). Unter Studierenden gab es großes Interesse an einzelnen Ausschnitten der Kultur, wie den Kampfkünsten, der Teezeremonie oder der Kalligrafie. Die Japanologie an den Universitäten lehrte schwerpunktmäßig noch die Kultur des Alten Japan, vor allem klassische Literatur, Philosophie und Künste.

Ein Taschenrechner Casio fx-2500 von ca. 1980 mit Tasten zur Berechnung von Wurzel, Quadrat, Sinus, Cosinus, Tangens und weiteren Funktionen.

03. Auch im Bereich der Büromaschinen zog Japan mit den weltweiten Konkurrenten gleich: ein Taschenrechner von Casio vom Anfang der 1980er Jahre.

Japanischen Alltag gab es in Deutschland damals nur vereinzelt, vor allem in den japanischen Geschäfts- und Bankenzentren in Düsseldorf und Frankfurt. Dort boten einige wenige japanische Restaurants teure Speisen an, manche bereiteten auch Bentō zu und verkauften Essgeschirr. Japanische Tageszeitungen wurden über Firmen bezogen, mit einigen Tagen Verspätung gelesen und an Interessierte weitergegeben. Es gab weder das Internet, noch Privatsender oder Sender aus dem Ausland. Damit fehlte die Vertrautheit mit der Machart, der Programm- und Nachrichtenauswahl von NHK World; Manga waren noch nicht übersetzt, die Bilderwelt der Anime international noch keinem breiten Publikum bekannt, der Begriff „J-Pop“ noch gar nicht geprägt. Im Vergleich zu heute kursierten nur sehr wenige Bilder über das ferne Land, und es gab kaum Möglichkeiten zum Sprachaustausch.

Deutsch-Japanisches Center Düsseldorf, ein hellgraues, mehrstöckiges Bürogebäude an einer Straßenecke mit großen Fenstern über die breite Front.

04. 1978 wurde das Deutsch-Japanische Center an der Immermannstraße in Düsseldorf, der Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen, fertiggestellt. Das Gebäude wurde mit der sie umgebenden japanischen Infrastruktur zum Knotenpunkt der japanischen Geschäftswelt von ganz Westeuropa. Der Sitz war strategisch gewählt: Als Stadt an Rhein und Ruhr mit dem Image als „Schreibtisch des Ruhrgebiets“ gab es in Düsseldorf Verwaltungssitze vieler Eisen und Stahl produzierender Betriebe.

Weit weg war damals tatsächlich noch fast aus der Welt, denn Überseereisen waren teuer. Als einer der preiswertesten Anbieter galt die sowjetische Fluglinie Aeroflot mit einem Zwischenstopp in Moskau. Eine Existenz im anderen Land aufzubauen, bedeutete in Zeiten ohne Internet eine organisatorische Herausforderung, schon die Zimmersuche aus der Ferne lief über reale Schwarze Bretter.

Mutsuko Ayano in Deutschland

Den ersten Brief schrieb Mutsuko kurz nach ihrer Abreise aus Japan, in ihm berichtete sie von ihrem Abschiedsschmerz (21.4.81). Ohne Sprachassistent und digitalen Stadtplan auf dem Smartphone, ohne die ständige Verbindung über WhatsApp zu Familie und Freunden bewirkte die Ankunft in der Fremde zunächst einmal eine einsame, harte Konfrontation mit einem Land, in dem kaum jemand etwas über die Geschichte und den Alltag in Japan wusste. In den ersten Tagen und Wochen empfand sie die Umgebung als kalt, teilnahmslos, sogar abweisend: „Hier bin ich wirklich ganz allein. Ob ich strauchle oder mein Gesicht verziehe – es ist den anderen vollkommen gleichgültig. In dieser Gesellschaft bin ich ein Mensch, der nicht im Geringsten gebraucht wird. Es ist erbärmlich und macht mich sehr traurig.“ (11.5.81)

Vierstöckiges, weißes Gebäude mit geschwungenem Giebel am Marktplatz von Grafing, im Erdgeschoss Schaufenster für zwei Läden

05. Grafing bei München war Mutsukos erste Station in Deutschland. Hier kämpfte sie noch gegen die Einsamkeit in der Fremde – und mit dem Dialekt der Einheimischen.

In diesem Gefühl der Entfremdung sieht man andere Menschen wie auf einer Bühne agieren und bekommt schmerzhaft vor Augen geführt, selbst (noch) kein Teil des großen Ganzen zu sein. Zugleich bietet dieser Blick von außen die Möglichkeit, Sachverhalte wahrzunehmen, die einem später nicht mehr ins Auge fallen, da sie selbstverständlich werden – wie der schlechte Service oder die damals noch irritierend kurzen Öffnungszeiten der Geschäfte: „Ob hier überhaupt jemand arbeitet? … Hier muss man froh sein, überhaupt einkaufen zu dürfen.“ (11.5.81)

Café im Stil der 1980er Jahre: Schaufenster mit Gardinen und Theke, Eingang über Stufen und Tür mit gerippter Türklinke

06. Mutsuko stellt fest, dass die Deutschen Kuchen mögen …

Erfahrungen dieser Art veranlassen viele Reisende, ein Tagebuch zu beginnen. Da alles Selbstverständliche abhanden gekommen ist und das eigene Tun und Denken immer wieder hinterfragt werden, muss man sich ständig selbst ausloten: „Vollkommen normale Dinge sind plötzlich überhaupt nicht mehr normal.“ (1.7.81).

Die Masse an neuen Eindrücken bewirkt, dass sich viele Menschen in dieser Situation ihrer eigenen Entwicklung bewusst werden, rückblickend schrieb sie: „… die stille Selbstreflexion und die Auseinandersetzung mit sich selbst habe ich erst kennenlernen und erfahren dürfen seit ich hierher gekommen bin.“ (19.1.83)

Streuselkuchen mit Pflaumen auf einem Kuchenteller im Design der 1980er Jahre

07. … und überlegt, ob das vielleicht ein Grund sein könnte, dass sie dicker sind.

Blick in das Schaufenster einer Bäckerei. Auf drei Regalen stehen geflochtene Körbe, Stoffhasen, ein Glas mit gefärbten Eiern, zwischen Hefegebäck kleine Osterhasenfiguren aus Porzellan.

08. In Japan sind die Auslagen kleiner Geschäfte traditionellerweise nicht durch Schaufenster von ihrer Kundschaft getrennt. In vielen Briefen beschreibt Mutsuko die Gepflogenheiten, Festlichkeiten und Feiertage in Deutschland. Hier ein für Ostern geschmücktes Schaufenster einer Bäckerei.

Aber trotz dieser anfänglichen Schwierigkeiten fand Mutsuko Ayano in ihrem neuen Umfeld bald viele neue Freundinnen und Freunde. Als sie nach der vorlesungsfreien Zeit im Sommer 1982, die sie zu Hause in Japan verbracht hatte, zum zweiten Mal nach Deutschland reiste, stellte sie fest, dass sie nichts mehr als fremd empfand (14.10.82), sie lebte jetzt in einem Dazwischen: mit der Familie in Japan und den Freunden in Deutschland.

Blick auf die Fußgängerzone „Breite Straße“ in Mannheim. Links eine Straßenbahnhaltestelle, rechts an der Fassade „C&A“, im Hintergrund das Mannheimer Schloss.

09. Eine der ersten Stationen, an denen Mutsuko sich in Deutschland sehr wohl fühlte, war bei ihrer Gastfamilie in Mannheim, die Familienmitglieder wurden zu Freunden.

Warum heute die Briefe noch lesen?

Die Briefe sind alles andere als ein voyeuristischer Blick ins Private. Ihre Auswahl und vor allem die Art und Weise, wie Mutsuko die ihr wichtigen Themen behandelt, zeigen das Hineinwachsen in eine fremde Gesellschaft und das Einpendeln zwischen den beiden Kulturen, die nun ihr Zuhause sind. Was die Briefe so lebendig macht, ist ihre Mischung aus Alltagsbeschreibungen und Reflexionen über das Geschehene. Viele der Überlegungen sind heute noch aktuell, auch wenn sich die äußeren Bedingungen verändert haben. Drei Aspekte stehen dabei im Vordergrund.

Das Zurechtkommen in der Fremde

In Japan wird das Hauptaugenmerk im Fremdsprachenunterricht traditionellerweise auf Leseverständnis und Grammatik gelegt. Bei der Aufgabenstellung im Sprachkurs am Goethe-Institut bemerkte Mutsuko, dass dies nicht ausreichte, um in Deutschland zurecht zu kommen: „Mehr noch als die deutsche Sprache, bereitet mir dieses Zusammenfassen meiner eigenen Meinung Schwierigkeiten.“ (1.6.81). Von Anfang an beschäftigte sie die Frage, ob und wie man die eigene Meinung äußern könne, ohne deshalb in Streit mit anderen zu geraten. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass das Verhalten, das von japanischen Studenten damals erwartet wurde – still dazusitzen und den Stoff aufzunehmen – negativ wirken kann, weil es bei den Lehrenden von Desinteresse zeugen könnte (23.7.81). Sie stellte fest, dass sie mit „stiller, unaufdringlicher Zurückhaltung“ nicht weit kommen würde, sondern aktiv werden und ihre Standpunkte vertreten sollte (23.7.81). Einige Monate später ist sie stolz darauf, dem Gegenüber fest in die Augen zu schauen und ihre Meinung vertreten zu können (3.10.81).

Breites Panoramabild der Gebäude der Universität Trier, Campus I

10. Zum Wintersemester 1981 schrieb sich Mutsuko an der Universität Trier ein.

Die eigene Herkunft

 

Da sich in den frühen 1980er Jahren wenige Studierende aus Übersee in Deutschland aufhielten, erregten sie allein durch ihre Herkunft Aufmerksamkeit. Mutsuko Ayano wurde sich dessen besonders in Situationen bewusst, in denen ihr Interesse nicht als Studentin, sondern als Japanerin entgegen gebracht wurde. Zu Hause hatte sie sich kaum Gedanken über ihr Heimatland gemacht (23.7.81), in Deutschland wurde sie mit Klischees über Japan konfrontiert. Das machte ihr deutlich, wie wichtig es ist, Kenntnisse über die eigene Kultur mitzubringen. Wie viele Menschen, die sich im Ausland aufhalten, wurde sie sich erst dort ihrer eigenen Wurzeln bewusst.

Umgeben von Japan-Fans überlegte sie, an der Volkshochschule Kurse zur japanischen Kultur zu geben (11.6.82) und erkundigte sich bei ihren Eltern nach Reiserouten im eigenen Land, da ihr Freund sie im Sommer begleiten würde. Während der Ferien kaufte sie Bücher über japanische Kulturgeschichte, die sie später, zurück in Deutschland, las. So entdeckte sie Japan neu und schrieb: „[ich] bin immer wieder beeindruckt, wie wunderbar Japan doch ist.“ (1.2.83) und: „Es erfüllt mich mit Stolz, eine Japanerin zu sein.“ (23.10.83). Die eigene Persönlichkeit durfte dabei allerdings nicht zu kurz kommen: „Auch Jungen, die sich nur für Japan interessieren, wenn man sich mit ihnen unterhält, bin ich leid. Denn schließlich ignorieren sie mich als Person“ (12.2.83)

Briefmarke der Deutschen Bundespost Berlin von 1987, herausgegeben anlässlich der Jūdō-Weltmeisterschaften in Essen; auf einem Gemälde vor buntem Hintergrund zwei Jūdō-Kämpfer im dynamischen Fall

11. Gut bekannt waren in Deutschland die Kampfkünste wie Karate oder Jūdō, durch die japanische Begriffe wie „Sensei“, Grußwörter und Ausdrücke für Kampftechniken bekannt wurden.

Der zukünftige Lebensweg

Ein Aufenthalt in einem Land mit bisher unvertrauten Vorstellungen über mögliche Lebensläufe wirft Fragen auf: „Ich habe hier wirklich eine Vielfalt von Lebensentwürfen verschiedener Menschen kennengelernt. Und dabei ist mir bewusst geworden, dass es viel mehr Möglichkeiten gibt, wie mein Leben verlaufen könnte, als die eine Linie, die sich mir bislang ungefähr im Kopf abzeichnete.“ (2.4.83)

 

In den Briefen, die sie an ihre Eltern richtete, behandelte sie die Frage ihres weiteren Lebenswegs immer wieder intensiv. Damals herrschte in Japan eine klare Vorstellung von einem geglückten Leben für eine Frau. Der modellartige Lebenslauf sah vor, nach einem (Kurz)Studium an einer Universität einige Jahre in einer Großfirma vor allem dazu zu nutzen, einen (älteren) Partner – gern durch ein Arrangement durch die Familie oder Freunde – kennenzulernen, ihn zu heiraten und sich dann ganz der Familie zu widmen. Da Mutsuko schon Mitte zwanzig war, als sie nach Deutschland kam, wurde das Zeitfenster für eine arrangierte Ehe immer kleiner. Zugleich ist es wahrscheinlich, dass ihre Attraktivität für eine arrangierte Hochzeit sank, da sie als Frau, die einige Jahre allein im Ausland verbracht hatte, als äußerst selbstständig gelten musste. Als älteste Tochter, die sich später um ihre Eltern kümmern sollte, stand sie zusätzlich unter Druck.

Schwarzweiß-Foto einer Studentin vor einem Schwarzen Brett, an dem handgeschriebene Zettel kleben, die für Mitfahr- und Mitwohngelegenheiten werben.

12. Wohngemeinschaften waren seit den 1960er Jahren eine typische Wohnform von Studierenden in Deutschland. Mitbewohner/innen fand man über Schwarze Bretter, hier ein Schwarzes Brett der Universität Göttingen vom Ende der 1980er Jahre.

Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sie sich ausführliche Gedanken über ihren weiteren Lebensweg machte, zunächst einmal, ob sie ihre Sprachkenntnisse als Lehrerin oder Reiseführerin nutzen könnte (24.10.81). Sie deutete ihren Eltern an, dass eine Heirat in Deutschland eher als Angelegenheit zweier Individuen, nicht zweier Familien betrachtet würde (5.4.82), und entwickelte für sich selbst immer klarere Vorstellungen: „Was meine Einstellung zu Heirat und der Beziehung zwischen Mann und Frau betrifft, hat sich diese, seit ich hierher gekommen bin, glaube ich, ziemlich verändert.“ (18.6.82). In einer zukünftigen Ehe sah sie sich nun als selbstbestimmte Frau auch in ihrem Beruf gleichberechtigt neben einem Ehepartner. Sie verherrlichte nichts, denn sie sah gescheiterte Ehen zwischen Deutschen und Japanerinnen in Trier und fragte sich, auch angesichts der Streitereien mit ihrem Freund, ob eine Ehe mit einem Deutschen für sie das Richtige wäre. Sie fürchtete ein einsames Leben als Unverheiratete, hatte sich aber innerlich darauf vorbereitet (18.6.82).

Nach Mutsukos Tod

Der Brief vom 1. November 1983 endet mit einer begeisterten Beschreibung von den Freunden, die sie in Deutschland gefunden hat. Einige Wochen später wurde sie ermordet. Im Internet kann man die Reaktionen der damaligen Lokalpresse und den Verlauf der Ermittlungen einsehen. Die bewundernswürdigen Eltern gründeten zum Gedenken an ihre Tochter den „Mutsuko Ayano-Fonds“ an der Universität Trier, der bis heute Stipendien an japanische Studierende vergibt. Dies alles hatte entscheidenden Einfluss auf die weitere wissenschaftliche Entwicklung der Universität Trier mit der Etablierung des Fachs Japanologie.

Zurück zum Buchtitel

Mit dem „Stück Japan“ sind Köstlichkeiten gemeint, die die Mutter für Mutsuko einpackte und ihrer Tochter nach Deutschland schickte. Ein Titel, der den Kern der Sache trifft, denn in einem Leben zwischen den Kulturen gibt es immer wieder Schübe von Heim- oder Fernweh, je nachdem, wo man sich gerade aufhält. Kommt ein Paket mit Dingen, besonders mit Lebensmitteln, die in der Heimat alltäglich sind, bekommen diese einen ganz besonderen Stellenwert. Mit Freunden wird der Inhalt des Pakets gefeiert, die Köstlichkeiten gemeinsam verspeist. Und dies ist der erste Grund, das Buch zu lesen: Die Briefe sind ein Plädoyer für ein echtes Eintauchen in die Fremde, eine Aufforderung, nicht der Illusion zu erliegen, über Medien das Leben im Ausland ausreichend zu kennen.

 

Der zweite Grund ist der wertvolle Blick von außen, der uns die Selbstverständlichkeiten in Deutschland vor Augen führt. Als Mutsuko die Briefe verfasste, war Deutschland noch geteilt, aber in der Grenzregion zu Luxemburg und Frankreich erlebte sie begeistert, wie einfach es war, einen Tagesausflug über die Grenzen hinweg machen zu können (16.8.81). Die Internationalität beeindruckt sie, und sie beschrieb das freie Reisen – damals noch mit Ausweispapieren, aber trotzdem schon unkompliziert – und das Miteinander mehrerer Nationen als „europäisches Empfinden“ (24.10.81).

Europakarte, die durch farblich unterschiedlich eingezeichnete Staaten die schrittweise Entwicklung der Europäischen Union von 1958 bis 2013 darstellt

13. Trier liegt im Kerngebiet der Europäischen Gemeinschaft. Als Mutsuko in Deutschland lebte, war Griechenland gerade Mitglied geworden.

Susanne Phillipps

06.12.2020 (Ausgabe 01)

Anmerkungen

1

Vor- und Nachname erscheinen hier entgegen der japanischen Gewohnheit in deutscher Reihenfolge, um mit der Bezeichnung des gleichnamigen Fonds übereinzustimmen.

2

Ayano Yutaka und Hasegawa Tsutomu (1984). Mutsuko, ryūgaku wa owatta yo – Nishi Doitsu de kanashimi no shi [Mutsuko, Dein Auslandsaufenthalt ist zu Ende. Ein trauriger Tod in Westdeutschland]. Tōkyō: Sanshusha.

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Bildnachweis 

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