Nach wie vor aktuell

Die folgenden Empfehlungen stammen aus der Sparte „Aktuelles“ zurückliegender Ausgaben.

Starke Geister-Frauen (22.12.2023, Ausgabe 13)

Eine Tante, die ihre Nichte besucht, sie aufmuntert und davon erzählt, dass sie ihren Selbstmord bereut. Ein Baum, der nicht verstehen kann, warum die Menschen ihm besondere Kräfte zusprechen. Eine Fuchsfrau, die in einer Großfirma Karriere macht. Geisterfrauen, die von ihrem früheren Leben erzählen.

– Ich möchte Ihnen eine Erzählungssammlung von Matsuda Aoko ans Herz legen: „Where the wild Ladies are“, die englische Übersetzung (2020) ihres Buches „Obachan-tachi no iru tokoro“ (2016).

Die Geister-Frauen in Matsudas Erzählungen sind erstaunlich lebendig und modern. Viele arbeiten in einer Firma, die von einem Herrn Tei geführt wird. Sie beobachten die Frauen von heute in ihrem Alltag und besuchen sie, um sie mit ihren speziellen Kräften zu unterstützen.

Über die Namen der Figuren, über Orte und Handlungen (so eine Frau namens Kikue, die – genau wie die berühmte Geisterfrau O-Kiku – in Himeji einen Teller vermisst) stellt Matsuda Bezüge zu den Originalgeschichten her. Es gibt eine Übersicht der Geistergeschichten, die Matsuda Aoko inspirierten, oftmals auch mit einer kurzen Zusammenfassung der überlieferten Version.

Zugleich skizzieren die Erzählungen die aktuelle Situation von Frauen im japanischen Alltag: die Schwierigkeit, in Großfirmen Karriere zu machen, sexuelle Übergriffe erdulden zu müssen, als Alleinerziehende zurecht zu kommen – vieles wird in den Erzählungen thematisiert. Mit Beispielen von Frauen, die stark sind, Mut machen, Unterstützung geben und zum Handeln auffordern.

Die Geschichten werden spannend präsentiert, in immer neuen, verblüffenden Perspektiven … in einigen Erzählungen bleibt lange unklar, was für ein Wesen das „Ich“ tatsächlich ist, denn die Geisterfrauen sind in ihrem Denken und Fühlen nicht so anders als ihre lebenden Schwestern, vielleicht etwas erfahrener.

Der Band umfasst 17 Erzählungen auf 284 Seiten. Die englische Version stammt von der Autorin und Übersetzerin Polly Barton. Erschienen ist das Buch bei Tilted Axis Press, einem gemeinnützigen britischen Verlag, der sich auf die Veröffentlichung zeitgenössischer asiatischer Literatur spezialisiert hat (Wikipedia: Tilted Axis Press).

Zartes Portrait eines Frauen-Geistes.

Abbildung: Der Geist von O-Yuki

Blog „Ways to Japan“ von Thomas Gittel (23.09.2023, Ausgabe 12)

Der informative Blog „Ways to Japan“ wird von Thomas Gittel betrieben. Er kam 1988 zum ersten Mal für mehrere Jahre nach Japan, damals noch als Bankangestellter. Als er 2008/09 ein Sabbatical in Japan verbrachte, entwickelte er die Idee, den in Deutschland Gebliebenen „sein“ Japan in einem Blog näherzubringen: Scrollt man auf der Startseite zurück zu den Anfängen, stammen die ersten Einträge aus dem Jahr 2009.

Seit 2010 lebt Thomas Gittel nun ununterbrochen als selbstständiger Unternehmer in Japan. In dieser Zeit ist sein Blog stetig gewachsen, mit Einträgen auf Deutsch und Englisch. Regelmäßig formuliert er Berichte von seinen Ausflügen zu berühmten und weniger bekannten Orten: Artikel über Tempel und Schreine, Parks und Gärten, Museen und Ausstellungen, Veranstaltungen und Festlichkeiten, Stadtviertel und historische Gebäude vor allem in Tōkyō.

Hinzu kommen Einträge zu Organisatorischem (wie zur Einreise oder zum Verhalten bei Erdbeben). Die Texte sind mit schönen, aussagekräftigen Fotos und mit praktischen Informationen versehen. Sie geben lebendige Eindrücke wieder und vermitteln zugleich Hintergrundwissen. Eine Fundgrube an Ausflugsideen.

Um einen Überblick über die mehr als 600 Artikel zu bekommen, bieten sich zwei Zugriffsmöglichkeiten:

  1. das alphabetische Register

oder

  1. die Themen-Navigation

Einer der Höhepunkte des Blogs für mich persönlich ist die Reihe der allmonatlichen Benimmposter in der U-Bahn – Thomas Gittel dokumentiert die Plakate für angemessenes Verhalten ununterbrochen seit März 2010. Es macht Freude, die Poster (wieder)zusehen: die abwechslungsreichen Designs der verschiedenen Jahre, die immer wiederkehrenden, die immer selben Themen … 🙂

Thomas Gittel ist in der OAG (Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens) aktiv und gibt sein Wissen über Japan inzwischen auch als Reiseleiter weiter.

Alles Gute für die nächsten Jahre!

Abbildung: Historisches Poster anlässlich der Eröffnung der Ginza-Linie, der ersten U-Bahnlinie in Tōkyō, im Jahr 1927.

Buntes Poster. Oben: Schriftzug „Erste U-Bahn in Ostasien“. Unten: Bild einer Menge chic gekleideter Passagiere, die freudig am Bahnsteig wartet, die U-Bahn fährt ein.

Formen und Farben – Kontraste zum Genießen:

Der Garten von Reinhardt und Barbara Lebek in Berlin (21.06.2022, Ausgabe 07)

Holztür in Schwarzweiß

– Schon von außen weckt der Zaun aus Hölzern in Schwarz und Weiß Erwartungen. Dies ist der Eingang in eine andere Welt.

Reinhardt und Barbara Lebek waren noch nie in Japan, und trotzdem wird ihr Garten bestimmt von Grundsätzen der japanischen Ästhetik. Zu Beginn der 1980er Jahre kauften die beiden das grasüberwucherte Grundstück mit dem Bungalow, der damals in keinem guten Zustand war. Inzwischen sind dieses Anwesen mit seinen Pflanzen und der Bungalow mit seinen Anbauten zu einem Gesamtkunstwerk verschmolzen.

Miniatur-Ginkgo in Pflanzentopf

– Ein Ginkgo darf nicht fehlen.

Im Garten gedeihen unzählige weitere Bäume, Sträucher, Schilfe und Farne. Viele von ihnen waren ursprünglich in Japan beheimatet und sind schon lange in Europa angekommen.

Rasen- und Kieselflächen im Wechsel
Äste einer Magnolie, dahinter Fenster mit Holzrahmen

– Das Arrangement lebt von Kontrasten: das Organische der Pflanzen zwischen den geraden Linien und den rechteckigen Skulpturen.

Die vorherrschenden Farben sind das Grün der Pflanzen, das Grau der Steine, das Braun der Hölzer.

Die Objekte, die Reinhardt und Barbara Lebek dazwischen platzieren, bilden einen Dreiklang aus Weiß, Schwarz und Rot.

Baumstamm, dahinter Gemälde an Hauswand
Miniaturlandschaft aus Ahorn und Steinen

– Blick auf die Felsen des Miniaturgartens, durch die Perspektive ganz groß.

Im Garten reihen sich in unzähligen Ideen Mikrokosmen geschmeidig aneinander, ohne sich zu stören. So laden zum Beispiel ein kleiner Trockenteich, eine Leseecke, Statuen oder ein Pavillon unter einer schützenden Hängebuche zum ruhigen Verweilen und zum Entspannen ein.

Einstöckiges Haus in Schwarz, Dachgarten mit aufgespannten Sonnenschirmen
Bewachsener Dachgarten mit rotem Sonnenschirm

– Schweben über den Dächern. Das Dach ist, wie könnte es anders sein, begrünt.

Das Quadratische, das Strenge, scheint sich dem Organischen entgegenzustellen. Aber selbstverständlich sind auch die Pflanzen nicht unberührt: Reinhardt Lebek lichtet sie regelmäßig und bringt sie in eine bestimmte Form.

Strukturen aus Holz und Gerippe aus Regenschirm

Durch die Lücken im Grün schafft er Blicke, fast Blickachsen, durch diesen Garten, der auf diese Weise viel größer wirkt, als er in Wirklichkeit ist.

– Strukturen, die ineinander greifen: Ein Regenschirm, von dem nur das Gerüst als Struktur blieb.

Japanische Gäste, die ihn besuchen, sagen, sie fühlten sich hier zu Hause. Was gibt ihnen dieses Gefühl der Vertrautheit? Auf jeden Fall die ästhetischen Grundideen, in denen Reinhardt Lebek eigene Vorstellungen verwirklicht.

Und noch etwas anderes: Wer die Werke von japanischen Künstlern und Kunsthandwerkern kennt, weiß um deren unübertroffene Perfektion. Diese Grundhaltung ist in diesem Garten zu spüren. Jedes Detail ist genau bedacht, alles fein aufeinander abgestimmt. Ein Besuch lohnt sich.

Zweimal im Jahr gibt es Ausstellungen, deren Eröffnung mit Künstlern und Gästen gefeiert wird. Danach stehen der Garten und die Ausstellung einen Monat lang für Besucherinnen und Besucher offen. Aber auch außerhalb dieser Zeiten kann man die Möglichkeit einer Besichtigung telefonisch erfragen. Reinhardt Lebek nimmt sich gern die Zeit für eine Führung.

Kontakt: Reinhardt und Barbara Lebek . Oberhofer Weg 44 . 12209 Berlin . Telefon: 030 773 35 54

Taniguchi Jirō (20.03.2022, Ausgabe 06)

Taniguchi Jirō (1947-2017) war ein Manga-Zeichner, der unbeschreiblich begabt war, die kleinen Dinge des Alltags grafisch einzufangen. Seine Themen waren breit gesteckt: Zum einen übertrug er literarische Stoffe bekannter Autorinnen und Autoren in Manga-Form, zum anderen erfand er fantasievolle Geschichten, teilweise mit fantastischen Elementen. Durch spezielle Kniffe machen seine Figuren Zeitsprünge oder rutschen in andere Körper. Dies ermöglicht ihnen eine ungeheure Bewusstseinserweiterung und führt letztendlich zur Lösung ihrer innerer Konflikte.

9 Manga von Taniguchi nebeneinander gelegt, damit die man die Titel und die Titelbilder sehen kann

Taniguchis große Spezialität ist die Detailfreudigkeit, mit der er Dinge beobachtet und Atmosphären schafft: über akribisch gestaltete Hintergründe und kleinste Regungen in den Gesichtern der Figuren. Seine Figuren sind immer sehr aufmerksam, sie hasten nicht durch die Welt, sondern durchschlendern sie und nehmen dabei mit ganzer Hingabe ihre Umgebung auf, oft leicht melancholisch und mit zartem Humor: Egal ob in Edo oder in Tōkyō nehmen sie verschiedene Blickwinkel ein, knien sich nieder, besteigen Hügel, lehnen ihren Kopf an einen Baumstamm. „Der Kartograph“ zum Beispiel, der mit der Anzahl seiner Schritte Japan ausmisst, scheint eigentlich ein ganz anderes Anliegen zu haben: Wie ein Flaneur setzt er einen Schritt vor den anderen und staunt über die Welt, die ihn umgibt.

Die Zeichnungen werden oft als poetisch oder meditativ bezeichnet. Nicht selten sind die historischen Vorlagen zu erkennen, die Taniguchi als Inspiration für ein Bild dienten. Manchmal vermögen die Bilder von Taniguchi sogar Geräusche und Gerüche hervorzurufen.

Olympiade in Tōkyō (22.09.2021, Ausgabe 04)

In Tōkyō haben die Olympischen und Paralympischen Spiele mit der Jahresangabe „2020“ im Titel inzwischen stattgefunden, während des Ausnahmezustands ohne Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Planung einer solchen Großveranstaltung birgt viele politische Ziele, eines davon war, der Welt zu zeigen, dass Japan die Dreifachkatastrophe im Nordosten des Landes überwunden hatte. Doch dann kam die Corona-Pandemie dazwischen, die Spiele wurden um ein Jahr verschoben und erhielten einen ganz anderen Fokus.

Es verging eine lange Zeit der Unsicherheit, und die Dynamik der Entwicklung rund um die Spiele ist schon jetzt Untersuchungsgegenstand von Japan-Forschenden. Eine aktuelle Studie von 2020 ist

Japan Through the Lens of the Tokyo Olympics

Herausgegeben von Barbara Holthus, Isaac Gagné, Wolfram Manzenreiter, Franz Waldenberger. Erschienen bei Routledge (London, New York).

Der Sammelband ist hier kostenfrei herunterzuladen.

Bildnachweis

Header: Von Bruno Cordioli from Milano, Italy – Kimono enchantment, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10405206, Ausschnitt, Schrift eingesetzt.

Geist von O-Yuki: By Maruyama Ōkyo – http://eee.uci.edu/clients/sbklein/GHOSTS/html/edoghosts/pages/oyuki.html, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9172709

Poster U-Bahn: By Sugiura Hisui – http://kimonovintage.blogspot.com/2006/10/sugiura-hisui-colour-litograph-1927.html, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10884122

Alle Fotos aus dem Garten von Reinhardt und Barbara Lebek: Von Susanne Phillipps – Eigenes Werk

Covers Taniguchi: © Carlsen Verlag